Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer
Aus einer Ausstellung, die der Autor dieser Zeilen im Jahr 2000 gemacht hat. |
"In welcher Welt leben wir?" fragt sich der
FDP-Vorsitzende Christian Lindner nach der gestrigen Ermordung seines
Parteifreundes Fritz von Weizsäcker, Sohn unseres früheren Bundespräsidenten. "Wir
gehen völlig falsche Wege, aber ich werde aus dem Jenseits nicht schadenfroh
sein", hatte vor vielen, vielen Jahren der Schriftsteller Wolfgang Koeppen
(1906-1996) diagnostiziert. Und die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung'
veröffentlicht heute die Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage, die auf einen
dramatischen Verfall des Vertrauens in die Politik und in die staatlichen
Institutionen hinweist.
Derweil sehen wir, wie Zeitungsverlage wie auch der
Reutlinger General Anzeiger jüngst in einer seiner Print-Ausgaben mit einem mächtigen
Vorblatt vor der Titelseite für Demokratie wirbt und dabei seine Edelfedern mit
Zitaten hervortreten lässt. Es ist eine Kampagne gegen sogenannte Hater in den
Sozialen Medien und für den sogenannten Qualitätsjournalismus.
Wir sind ohne Orientierung? Das ist letztlich die Botschaft
hinter alledem. Und das nicht erst seit heute. Wir verstehen unsere Welt nicht
mehr. Wir kennen nicht mehr, was richtig und falsch ist. Und wollen irgendwie
zurück in eine Zeit, von der wir meinen, dass dort die Demokratie noch
Demokratie war - zum Beispiel mit einer klaren Gewaltentrennung. Der Staat war
Exekutive. Die Politik war Legislative. Die Justiz war Recht - und die Medien waren
die Vierte Gewalt, die sich mit natürlicher Autorität in alles einmischte. Mit
ihren Fragen, aber auch ohne zu fragen.
Das ist alles durcheinander geraten. Als neue Gewalt ist das
Misstrauen getreten, das jeder von uns in sich trägt. Wir glauben einander
nicht mehr. Jederzeit kann irgendjemand ein Messer zücken, selbst in ehrsamsten
Kreisen aus reiner Willkür morden, Ärzte, die unumstrittenste Autorität in
unserer Gesellschaft, werden tagtäglich angegriffen, Politiker und Beamte sind
ihres Lebens nicht mehr sicher, aus Hassreden werden Übeltaten, unsere
Gesellschaft verwahrlost. Und das in einer Zeit, in der uns die IT-Industrie
erzählen will, dass sie mit der Digitalisierung alle Probleme lösen will. "Lösung"
ist seit mindestens 50 Jahren das Zauberwort der Informationstechnologien. Der
technische Fortschritt scheitert am Menschen. Es wird Zeit, dass wir Menschen
uns endlich wieder um uns Menschen kümmern. Dann werden auch unsere Systeme
wieder gesund - allen voran die Demokratie. Sie wird nicht nur zersetzt von den
Hatern und Mördern, sie wird auch nicht zersetzt von Facebook und Google, sie
wird zersetzt von dem Mangel an Verantwortung im Alltag.
Was uns Menschen unterscheidet von all dem, was sich unter
dem Deckmantel der Künstlichen Intelligenz werbewirksam und PR-trächtig über
alle Medien (auch denen, die sich den "Prints" zurechnen) ausbreitet,
ist genau dieses Gefühl von Verantwortung. Künstliche Intelligenz basiert ganz
bewusst auf einer Täuschung, auf der Vortäuschung von Bewusstsein. KI aber
kennt Kontrolle, das ist sogar deren Existenzgrundlage, aber sie kennt nicht
Verantwortung, weil diese ein Bewusstsein voraussetzt.
Dieser technische Fortschritt, den zu beobachten ich seit
1975 als Journalist das Privileg hatte, muss in seine Schranken zurückgewiesen
werden. Er hilft uns nicht bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage:
"In welcher Welt leben wir?" Er hilft uns nicht bei der Suche nach
den richtigen Wegen. Google hat darauf keine Antwort. Und der technische
Fortschritt hilft auch nicht den dramatischen Verfall des Vertrauens in die
Politik zu stoppen.
Es wird Zeit, dass wir uns um uns selbst kümmern. Von Mensch
zu Mensch. Ebenso kritisch wie empathisch. Das wird ein sehr schwieriger
Prozess, weil wir dabei vor allem selbstkritisch sein müssen.
Der technische Fortschritt hat in den letzten dreißig Jahren
vor allem den Narzissmus gestützt, die unbeschränkte Eigenliebe, der Nächste,
den wir doch lieben sollen wie uns selbst, ist aus unserem Leben verschwunden,
er erscheint nur noch als Spiegelbild auf unserem Smartphone. Alles ist
imaginär.
"Gebt dem Computer, was des Computers ist, und dem
Menschen, was der Menschen ist." Norbert Wiener, der erste Kybernetiker,
ein Mann, der bestimmt nicht im Verdacht steht, die Technik zu verteufeln, hat
dies vor rund 60 Jahren gesagt, ganz am Anfang einer Entwicklung, deren
Auswirkungen wir nicht mehr verstehen.
Wir müssen diese Trennung, die vielleicht wichtigste
Gewaltentrennung seit 1789, seit der Französischen Revolution, seit der
Erklärung der Menschenrechte, vollziehen. Kontrolle ist die Welt der Technik,
Vertrauen ist die Welt der Menschen.
Wir können uns auf keine Kontrolle verlassen, schon gar
nicht auf die technische. Das erkennen selbst die, die daraus ein
Riesengeschäft gemacht haben und Unmengen an Geldern verbrauchen. Wir brauchen
wieder Vertrauen, das natürlich auch nicht gegen alles schützt. Der Mord an
Fritz von Weizsäcker, der während einer Privatveranstaltung in vertrauten
Räumen ermordet wurde, belegt dies. Aber ohne Vertrauen sind wir verloren - in
einer Welt der totalen Kontrolle, die alle Gewalten auf sich vereint.
Erbarmungslos. Grausam. Unerbittlich.
Die Plakate erstellte 2000 Detlev Bertram, das Material lieferte der Autor
Die Plakate erstellte 2000 Detlev Bertram, das Material lieferte der Autor