1995
2006:
„Die Macht lässt den Mächtigen vereisen.“
Mario Erdheim (*1949), Schweizer Ethnologe und Psychoanalytiker[1]
Das Genie ohne Genie
Von Raimund Vollmer
Eine Maschine arbeitet. (Für uns.) Ein Automat spielt. (Für sich.) Das ist der Unterschied. Die Maschine ist Mittel, vor allem Produktionsmittel. Der Automat ist Zweck, vor allem Selbstzweck. Die Maschine ist Roboter. Der Automat ist Künstliche Intelligenz. Die Maschine realisiert. Der Automat simuliert. Die Maschine ist Potential. Der Automat aber ist Macht. Macht ohne uns, aber über uns. Über die Zukunft.So könnte man mit festem Blick auf die Entwicklung der ersten 250 Jahre unseres Jahrtausends fabulieren. Im 18. Jahrhundert – also zu der Zeit, in der unser Jahrtausend in Wirklichkeit bereits begann – war es der feudale Hofstaat, der für sich die schöne Welt der Automaten entdeckte. Sie waren ihm edles Spielzeug, exklusives Kunstwerk, köstliches Amüsement. Sie waren ihm aber auch Imitation der eigenen, in sich geschlossenen Welt. Die Automaten „stellten nichts her, sie stellten sich dar – ganz so wie jene Aristokraten, zu deren Zerstreuung sie geschaffen worden waren“, meinte 1997 der Philologe Jörg Ludersleben.
Gerade „in der Spätzeit des Ancien Régime“ seien diese „nutzlosen Apparaturen“ sehr in Mode gewesen, sagt er.[1] Sie simulierten das höfische Geschehen, den Hofstaat, der ja wie eine „autopoietische Maschine“ funktionierte, „als ein System, das allein zu seiner Selbsterhaltung da ist“, befand Ludesleben. Starr und wie programmiert, eben absolut beherrscht. Der Automat war Luxus pur, ein Sonderfall der Technik, jenseits von Gut & Böse. Trotz aller technischen Raffinesse und Feinmechanik, aller Aufklärung und Rationalität war der Automat aber immer auch ein faszinierendes Wunderwerk, ein Stück Magie, das Dinge tat, die bislang allein dem Menschen vorbehalten waren. Diese Puppen tanzten und musizierten wie wir. Ja, sie beherrschten sogar die Schreibkunst. Irgendwann würden sie sich vielleicht selbst die Programme schreiben – übrigens, ohne uns vorher zu fragen.
So hatte der in Ludwigsburg geborene Hofmechanikus Friedrich von Knaus 1760 einen künstlichen Schreiber erfunden, einen Automaten, der ohne menschliches Dazutun 68 lateinische Buchstaben kritzeln konnte, einzig und allein gesteuert von einer Trommel. Es war eine Puppe, die nach einer Beschreibung aus jener Zeit, an einem kleinen Pult saß und eine Feder in ein Tintenfass tauchte. Sie schüttelte dann die überflüssige Tinte ab und schrieb „alles, was man ihr vorsagt, nieder“, berichtete der IBM–Wissenschaftler Karl Ganzhorn (1921–2014) in seinem mit Wolfgang Walter verfassten Büchlein „Die geschichtliche Entwicklung der Datenverarbeitung“, erschienen 1975, also zu einem Zeitpunkt, als sich die Welt – in der Zeitgenung dieses Gedankenexperiments - auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten begann.
Bei ihrer Premiere zu Ehren des österreichischen Kaiser Franz I. twitterte die „alles oder selbstschreibende Wundermaschine“ eine Mitteilung in französischer Sprache. Und Chronisten berichten, so Ganzhorn, dass „halb Europa kam, um diese wundersamen Apparate zu bestaunen“.[2] Es war natürlich das feudale Europa, das da kam, nicht das proletarische. Es kam die Herrschaft. Sie kam auf eigenen Wunsch. Noch konnte der Automat nicht befehlen. Noch war er sich selbst genug. Auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. So wie ein Buch sich seines Inhalts nicht bewusst ist, so weiß auch ein Automat über sich selbst nichts. Aber er kann sich selbst lesen – ohne sich zu verstehen. Ein Genie ohne Genie.
Im Anfang ist immer das Wort, die Schrift, der Befehlssatz, die Steuerung, die Software, diese „immaterielle Ware“, wie es – ebenfalls 1975 – in einem Büchlein namens „1000 Fachworte Datenverarbeitung“ heißt. Noch war diese Software in der Anfangszeit der Automaten fest verdrahtet, doch bald sollte sie sich – über Lochkarten und Lochstreifen, über Magnetbandspulen und Festplattenspuren – virtualisieren. Diese „immaterielle Ware“, diese Software, ist heute das teuerste und kostbarste Wirtschaftsgut der Welt, ohne dass wir auch nur annähernd ahnen, wieviel Geld wir schon weltweit darin investiert haben. Längst steuert sie unsere Welt bis in den Weltraum hinein. Tag für Tag. Rund um die Uhr. Pausenlos. Atemlos. Seelenlos. Gewissenlos. Aber keineswegs fehlerlos – mit durchaus tödlichen Folgen, wie wir niht erst seit dem Absturz der Boeing 737 Max wissen.
„Technik kann verstanden werden als die Gesamtheit der Hilfsmittel über die der Mensch bei seiner planvoll geleisteten Daseinsvorsorge verfügt“, definierte 1984 in ehrwürdig gedrechselter, akademisch wohllautender Hochsprache der Soziologe Friedrich Fürstenberg (1930-2023), Universität Bochum. „Damit bleibt sie aber auch stets an das Tun des Menschen gebunden, denn sie ist und bleibt von den Zielen abhängig, die er sich setzt.“[3] Wir stehen vor dem Phänomen, dass dies für Software – dem Geist aller Technik – nicht unbedingt gilt. Ihr sind wir egal. Sie ist uns irgendwie unheimlich. Fragte sich 2001 der Kunsthistoriker Norbert Borrmann (1953–2016): „Was für ein Fachmann würde z.B. noch die komplexe Hard- und Software eines Computers erklären können?“ Schließlich nennt er die Kybernetik, deren zentraler Bestandteil Software ist, „eine Überwissenschaft“, die über allem thront und sich selbst spielt.[4] Ja, die Kybernetik hat etwas Außermenschliches an sich ein Begriff aus der Welt des Jahrhundertökonomen Friedrich von Hayek (1899–1992), der damit die Gesetze des Marktes meinte, der aber auch die Sprache ins Außermenschliche verlagerte.
In der Welt der Software geschieht alles von allein, sie wirkt selbst wie ein handelndes Subjekt: „Der PC telefoniert, macht Musik und empfängt Filme. Gleichzeitig berechnet er die Steuererklärung, erledigt Bankgeschäfte und bucht den Urlaub“, schrieb 1996 der Fachverband Informationstechnik von VDMA und ZVEI (heute vereint im Bitkom) in einem kraftstrotzenden Positionspapier zum Thema „Wege in die Informationsgesellschaft“.[5] Dann träumte sich der Verband von einer „drahtgebundenen Infrastruktur“ in eine „satellitengestützte Infrastruktur“, also in das nächste Big Thing, das gewaltige Kapitalinvestitionen erfordern würde, aber auch hohe Renditen bringen sollte. Satelliten seien „die Knoten der geplanten drahtlosen Netze für die mobile Sprach- und Datenkommunikation. Am Ende soll jeder Teilnehmer mit seinem Handy unter einer persönlichen Rufnummer überall auf der Erde erreichbar sein“, schrieb 1995 der 'Spiegel'.[6] Dahinter stand ein großer Plan.
Der Markt entschied anders. Er folgte nicht einer himmlischen, sondern einer irdischen Idee. Stattdessen funkten nämlich die handlichen Smartphones und die ländlichen Mobilnetze. Über sie hatte die Telekom-Szene bereits seit 1969 gesprochen, als der amerikanische Telefonriese AT&T die erste Lizenz erwarb. „Smart phones emerge“, titelte 1983 die amerikanische Fachzeitschrift ‚Datamation‘.[7] Völlig überraschend war diese Neuerung also keineswegs.[8] Diese Netze mit der Lizenz zum Gelddrucken sollten sich gleichsam selbst bauen. So entstand ein weltumspannender Automat mit der Cloud als Hauptbahnhof, auf dem sich alles trifft, was Nullen und Einsen hat.
Schon 1981 hatte das britische Wirtschaftsmagazin 'The Economist' geschrieben: „Die Unterscheidung zwischen der Fernmeldetechnik und dem Computer ist nun technologischer Unsinn.“[9] Das war zu einem Zeitpunkt, als überall in der westlichen Welt die ersten Feldversuche mit zellularen Fernmeldenetzen gestartet wurden. Die neuesten Wunderwerke der Software. Mehr als eine Generation später, 2017, sollte sie der 'Economist' „softwaredefinierte Netze“ nennen, Netze, die komplett virtualisiert seien.[10]
Das war ein ganz anderes, ein eher terrestrisches Konzept, das da die Erde über den Satelliten-Himmel triumphieren lassen sollte. Statt sich ins Weltall zu katapultieren, würden die Funksignale unterwegs im Abstand von ein bis zwei Meilen von Antenne zu Antenne, von Zelle zu Zelle hüpfen. Automatisch, geschaltet in einer zwanzigstel Sekunde. „Ein weltweites Gerangel um die Einführung dieser zellularen Funksysteme bahnt sich an“, schrieb die Londoner 'Financial Times' 1982. Denn Anbieter aller Couleur wollten hier mitmischen. Dieses Geschäft sollte auf keinen Fall allein den Telekoms überlassen werden. Schon sei eine zweite Generation im Gespräch, die Anfang der neunziger Jahre in Betrieb gehen würde, hieß es: Das System wird „digitale Technologie benutzen und Daten gleichermaßen handhaben wie Sprache“, schwärmte 1982 die 'Financial Times' von einem Netz, das in Europa von Skandinavien bis Süditalien reichen würde.[11]
Software eroberte den Luftraum.
Denn eins war klar: Ob Sprache oder Daten – ohne die Vermittlung durch Software würde dieses Netz nie funktionieren. Egal, ob national, international oder global. Vor der Software sind alle gleich. Und was die Satellitentechnik anbelangt, die verlockte schon in den siebziger Jahren zu Träumereien. Mächtige Computersysteme, suprageleitete, tiefstgekühlte Software– und Datengehirne, würden als künstliche Gestirne an den Himmel geheftet und uns als Cloud dienen. Eine Idee, die übrigens immer noch herumgeistert. Die Steuerung des Menschen aus dem Weltall – zumindest seiner Systeme.
Software ist Macht. Mehr und mehr.
Software ist der Geist in der Maschine, sie herrscht in Automaten, sie steuert Netze. Sie alle können heute ohne Software nicht mehr sein. Sie werden eins. Ohne uns. Denn sie reden auch ohne uns miteinander. Mehr und mehr.
Was aber ist Macht, was ist Software?
„Soziale Prozesse im Sinne eigener Zielsetzungen zu beeinflussen, gleichgültig, auf welchen Bereich sich diese Möglichkeit erstreckt und in welchem Maße sie vorhanden ist“, das ist Macht, definierte 1967 der deutsche Marktsoziologe Hans Albert (*1921), Universität Mannheim.[12] Das klingt banal, war es aber nie, wie wir wissen. In der Gestalt von Software bekommt Macht eine verführerische Fernwirkung, die tief in unseren ganz profanen Alltag hineinwirkt – mit Zielsetzungen, die plötzlich ihr Eigenleben entwickeln. Es fängt zumeist ganz harmlos und im Vollbesitz der Vernunftkräfte an – und endet zum Beispiel in einem handfesten, milliardenteuren Dieselskandal, für den keiner verantwortlich zeichnen will. Warum auch? Der VW läuft und läuft und läuft. Ganz automatisch. Allein darauf kommt es an. Das Fehlverhalten von einigen Managern und Mitarbeitern hat damit nichts zu tun. „Das Wunder von VW“, nannte dies 2018 voll bissiger Ironie die 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung'.[13]