Freitag, 1. November 2024

Zum Tage: Allerhöchste

 Hab Achtung vor dem Menschenbild
Und denke, dass, wie auch verborgen,
Darin für irgendeinen Morgen
Der Keim zu allem Höchsten schwingt!

Friedrich Hebbel (1813-1863), deutscherSchriftsteller

Donnerstag, 31. Oktober 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 70): Detroit versus Deutschland - Erinnerungen an Weltkrieg II (1)

 

Mit dem 2. Weltkrieg steigen die USA endgültig zur Supermacht auf. Wider Willen. Nun liest man, dass die Vereinigten Staaten diese Rolle satt hätten. "America first" heißt es. Wie stark diese Tendenz ist und sich durchsetzen wird, erfahren wir mit den kommenden Wahlen. Grund genug, einmal zurückzublicken in eine Zeit, die für Deutschland die schlimmste in seiner Geschichte war. 

Welt in Trümmern

  Von Raimund Vollmer 

 Es ist das Kriegsjahr 1942. Westlich von Detroit wird eine neue, vierspurige Straße eröffnet, genannt der Industrial Expressway. Er vereint die Autostadt mit dem 30 Meilen entfernten Willow Run zu einem „der größten High-Tech-Zentren“ (‚The Economist‘) der damaligen Welt.[1] Denn hier baut die Ford Motor Company im Auftrag der Regierung seit 1941 die schweren und gefürchteten B-24-Bomber. 1943 verlässt jede Stunde eine neue Maschine die Fabrik. Das braucht Menschen. Das braucht Material. Das braucht Straßen wie diesen Expressway. Hier entstehen aber auch die Motoren, die Stalins Panzer antreiben. Und als sich der sowjetische Diktator Ende 1943 mit dem amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt traf, meinte Stalin, dass es die Kriegsfabrik Detroit ist, die Deutschland schlagen wird.

Die USA haben wieder einmal ihre gewaltige Logistikmaschine in Gang gesetzt. Diesmal soll sie ein Land vernichten, das wie kein anderes zuvor Not und Elend über die ganze Welt gebracht hat und selbst wie eine einzige Logistikmaschine zu funktionieren scheint: die Kriegsmaschine namens Deutschland.

Als die größte Materialschlacht der Geschichte zu Ende ist, liegt Europa danieder. Deutschlands Städte bestehen nur noch aus Schutt und Asche. Für den Krieg selbst hatten die Deutschen zwischen 1939 und 1945 rund 570 Milliarden Reichsmark aus dem Staatssäckel bezahlt. Geld, das mit einem Anteil von 510 Milliarden Reichsmark allein für die Wehrmacht ausgegeben worden war.[2] Das Ergebnis war verheerend.

600.000 Menschen, darunter 60.000 Kinder, sterben im Bombardement der Alliierten. Deutschland ist ein Schutthaufen aus 400 Millionen Kubikmeter Trümmern. 2,8 Millionen Wohnungen sind vernichtet, 41,2 Prozent von allen. Überall Zerfall. Bombenhagel und schwere Artillerie haben alles zerstört. „Nicht nur die Häuser, Fabriken, Geschäfts– und Verwaltungsgebäude waren vernichtet, auch die unterirdischen Abwasserleitungen waren in den Städten zu hunderten zerschlagen und zerbrochen. Das gleiche galt von den Wasser– und Gasleitungen, Telefonkabeln und elektrischen Stromzuführungssträngen. Sanitäre Anlagen und Wasserleitungen konnten deshalb nicht benutzt werden. Die Frischwasserentnahme war unmöglich, das Wasser musste weit entfernt an einzelnen Pumpen mit Eimern geholt werden.“ So erinnerte sich 1953 die Bundesregierung in ihrem Bericht „Deutschland heute“.[3]

Bundeskanzler Konrad Adenauer schreibt im Vorwort: „Deutschland hatte das Vertrauen der Welt verloren.“   

So ist die Situation in der Stunde Null. Deutschland verdient keine Gnade.

Der Krieg hat 55 Millionen Menschen weltweit das Leben gekostet. Niemand spricht von Befreiung, sondern von Besetzung. Es gibt kein Pardon: „In heart, body and spirit every German is Hitler“, bestimmte erbarmungslos die amerikanische Soldatenzeitung „Stars and Stripes“.[4]

Die Wut auf die Deutschen und das Entsetzen über die Deutschen sind grenzenlos.

Doch der Mann im Weißen Haus, der dieses Nazi–Land „kastrieren“ und keinesfalls befreien will, ist tot. Am 12. April 1945 ist Franklin Delano Roosevelt (FDR) gestorben. Er war bestimmt von dem Gedanken des „industrial disarmament“, wie der Historiker Bernd Greiner vom Institut für Sozialforschung in Hamburg schreibt. „Aber die industrielle Entwaffnung einer hochentwickelten Nation war noch von niemandem versucht wurden. Auf diesem Gebiet gab es weder ausgebildete Experten noch konzeptionelle Blaupausen. Entsprechend ratlos waren die Bürokraten im Schatzamt, im Justizministerium und in den diversen kriegswirtschaftlichen Planungsstäben.“[5] So schreibt Greiner, der mit einer Studie über die „Morgenthau–Legende“ habilitierte. Nun – die Legende war mit dem Tode Roosevelts zu Ende.

Vizepräsident Harry S. Truman übernimmt. Er ist nun Präsident des mächtigsten Landes der Welt, des einzigen, das im Juli 1945 wissen wird, dass es eine Atombombe besitzt.[6]

Mit Trumans Ernennung sind auch die Pläne des bisherigen Finanzministers und Roosevelt-Getreuen, Henry Morgenthau, Makulatur. Jetzt muss er abtreten. Noch 1944 wollte er das Ruhrgebiet stilllegen lassen, Deutschland zerschlagen und unter den Nachbarn aufteilen.[7] Der Historiker Golo Mann erinnert uns daran, „dass die Alliierten bis tief in das Jahr 1945 hinein nicht zur Zweiteilung, sondern zur Vielteilung des Landes umgegangen waren.“ Allenfalls als Agrarstaat sollte Deutschland weiter existieren dürfen. Selbst Segelfliegen würde verboten sein. Deutschland sollte am Boden bleiben, war zur totalen Demontage freigegeben. Das war der Morgenthau-Plan.

„Auf der Seite der Alliierten überschatteten Misstrauen und Argwohn dem besiegten Nazi-Deutschland gegenüber noch jahrelang alle Gefühle“, erinnert sich 1990 die Journalistin Marion Gräfin Dönhoff an diese Zeit. Selbst nach der Gründung der Bundesrepublik befürchteten die westlichen Alliierten, dass der neue Staat „Zuflucht in einer Schaukelpolitik zwischen Ost und West suchen und sich am Ende dem Osten zuwenden“ werde, weil er allein „das bieten könne, worauf es den Deutschen ankomme“, schrieb die einstige Herausgeberin der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘.[8]

In wessen Hände würde also dieses Deutschland fallen?


Zum Tage: Dämonen

 „Die Dämonen repräsentieren für mich gewissermaßen die Wege, wie die Welt funktioniert. Anstatt zu sagen, dies sind die Dinge, die geschehen, möchte ich sagen, dies ist die Weise, wie sich Dämonen verhalten.“

Isaac Bashevis Singer (1902-1991), polnischer, später amerikanischer Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger. Er schrieb jiddisch.

 

 

Mittwoch, 30. Oktober 2024

Zum Tage: Selbsttäuschung

 1875: „Unsere tägliche Selbsttäuschung gib uns heute.“

Wilhelm Raabe (1831-1910), deutscher Schriftsteller

Dienstag, 29. Oktober 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 69): Das Gold von Bretton Woods

Titelseite 1981
 1969: »Für Gold gibt es immer einen Markt. Man braucht nicht einmal einen Hehler zu bezahlen. Jeder Tölpel kann sein Gold verkaufen, wenn er an die richtige Stelle kommt.«

Eric Ambler (1909–1998), britischer Schriftsteller, in seinem Roman „Das Intercom–Komplott“

 

Rettung durch
Bretton-Woods

  Von Raimund Vollmer 

 

Bretton–Woods. Samstag, 1. Juli 1944. In dem Wintersportort nordöstlich von New York, im US-Staat New Hampshire ging es hoch her. Franklin D. Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, hatte – mitten im Krieg – Ökonomen aus aller Herren Länder in das Mount Washington Hotel am Fuße des 1916 Meter hohen Berges zu einer epochalen Währungskonferenz geladen.[1] Alle Länder, die im Krieg gegen Deutschland und Japan standen, sollten sich geld- und handelspolitisch vereinen – zum System von Bretton Woods. Es war eine einzigartige historische Situation, die bis heute die Fachwelt fasziniert – auf der Suche nach einer Lösung für die Organisation des globalen Währungssystems.

Der D-Day, der 6. Juni 1944, die Landung der Alliierten in der Normandie war gerade vier Wochen her. Der unaufhaltsame Vormarsch auf Deutschland hatte begonnen. Das Ende des Krieges war in Sicht. „Sie trafen sich während des Krieges, um sich auf den Frieden vorzubereiten“, schrieb 1983 der 'Economist' über das Treffen.[2] Nun wollte man darüber nachdenken, wie die Zeit danach zu gestalten sei – vor allem die Welt des Geldes, der Währungen und deren Werte.

Eins schien klar. Geld war Gold. Wer aber stand dafür? Wer war der Garant?

Drei Wochen lang wurde beraten. Sehr ernsthaft, sehr konkret. und in einer Ruhe und Abgeschiedenheit, wie sie heute unvorstellbar ist. Erinnert sich der 'Economist': „Der Krieg hatte den Regierungen nahezu vollständige Kontrolle über die Wirtschaft und die internationalen Beziehungen verliehen.“[3] Sie genossen eine Macht, wie sie diese in Friedenszeiten niemals erlangen konnten. Das war geradezu ideal. Der Krieg hatte die bestehende Ordnung zerstört, und so saßen die Staatsmänner, die die Institutionen der Nachkriegszeit entwarfen, vor einem weißen Blatt Papier, auf dem sie nach Belieben herumkritzeln konnten“, meinte 2008 der britische Journalist Gideon Rachman in der Londoner 'Financial Times'.[4] Endlich – so schwärmte damals der amerikanische Finanzminister Henry Morgenthau – würden die „wucherischen Geldverleiher aus dem Tempel des internationalen Finanzwesens vertrieben“.[5] Keine Spekulation mehr. So lautete die Hoffnung auf ein stabiles, unerschütterliches, autoritäres Währungssystem. Das war die Verheißung.

Die Konferenz von 1944 in Bretton Woods

Als einzige Nation der Welt verpflichteten sich die USA, jederzeit Gold für einen festen Wert von – damals – 35 Dollar je Unze einzutauschen. Ein sauberer, ein klarer, ein fairer Deal. Sollte man meinen. Rund 700 Delegierte, darunter  Notenbankchefs und hochkarätige Geldexperten aus 44 Ländern hatten der Konferenz beigewohnt. Ohne  Japan und Deutschland, das erst nach seiner Neugründung 1949 dem System beitreten konnte. Der prominenteste Gast war niemand anders als der britische Starökonom John Maynard Keynes, der zwar mit faszinierenden Lösungen aufwartete, doch in Währungsfragen ohne Erfolg blieb. Schließlich musste er sich den Vorschlägen der amerikanischen Seite beugen – entwickelt von dem unrühmlichen, später als Stalins Spion entlarvten Amerikaner Harry Dexter White. Er sah allein den Dollar im goldenen Mittelpunkt. Und damit wechselte unwiderruflich die Macht über das Geld vom Vereinigten Königreich hinüber zu den Vereinigten Staaten – „dem größten Schlag“, gleichzusetzen einem verlorenen Krieg für die Insel, wie einer der Teilnehmer aus dem Kreis der Bank of England gesagt haben soll. [6]

Der Brite Keynes hatte die Idee vorgestellt, eine eigene Weltwährung, den Bancor, einzuführen – mit allen Konsequenzen. Der Bancor war weder eine nationale Währung, noch in Gold konvertierbar, diesem „instabilen Spekulationsobjekt“, wie es der deutsche Wirtschaftsprofessor und Bankmanager Wilhelm Hankel (1929–2014) formulierte. Gedanklich kam der Bancor der Idee der Bitcoins schon ziemlich nahe. Der Bancor war eine sich selbst regulierende Währung.

Keynes betrachtete den Goldstandard als ein „barbarisches Relikt“. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte man versucht, ihn wieder zu etablieren – mit dem Ergebnis einer Depression und eines zweiten Weltkrieges. 1931 hatte sich Deutschland, das seit der Reichsgründung von 1871 dem Goldstandard huldigte, aus dem System verabschiedet. „Um 1936 war der Goldstandard tot“, befindet der 'Economist'. [7] Von da an herrschte „internationale monetäre Anarchie“, meinte 1994 John Williamson vom Institute for International Economics in Washington.[8] Zwischen den Weltkriegen begann eine Zeit der Abwertungen und der Deflation, der permanenten Unruhe. Diese Erfahrungen bildeten den Hintergrund, vor dem die Staatsmänner und Experten 1944 in Bretton Woods konferierten, ohne zu ahnen, dass ihr neues System am genauen Gegenteil scheitern sollte: an der Inflation und den Aufwertungen.[9] Mit dem Treffen in Bretton Woods keimte derweil die Hoffnung auf, an jenes goldene Zeitalter wieder anzuschließen, das man mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges verlassen hatte: eine Ära der Stabilität.

Keynes hatte zudem die Errichtung einer Weltzentralbank vorgeschlagen, also einer Institution, die gleichsam das Hauptbuch über die neue Währung führen sollte.[10] Aber daraus wurde nichts. Denn das alles missfiel den Amerikanern, die das Kommando für sich beanspruchten. Sie wollten statt des Bancors den Dollar an die Spitze aller Währungen setzen. Sie hatten gute Argumente. Immerhin verfügten die Vereinigten Staaten, wie für 1948 nachgewiesen, über 72 Prozent der Goldreserven, was sich dann aber auf maximal 46 Prozent einpendelte.

Was Keynes bekam, war die Weltbank, die sich um die Finanzierung armer Länder kümmern sollte, und den Internationalen Währungsfonds (IWF), der in Finanznot geratenen Ländern helfen sollte. „Der Keynes-Plan war intellektuell faszinierender, aber es war schnell klar, dass der Wagen in die andere Richtung fuhr“, erinnert sich 1994 in der 'Zeit' Jacques Polak, der als Vertreter der niederländischen Exil–Regierung an der Tagung teilnahm. Nach Keynes hätten Länder wie Deutschland für Handelsüberschüsse Guthaben-Zinsen zahlen müssen. White hingegen sah die Verpflichtung bei Defizitländern, eine Entscheidung, von der vor allem der Exportweltmeister Deutschland profitierte.[11] Zudem muss man sehen, dass das Konzept von Industrieländern für Industrieländer konzipiert worden war. Doch heute, besonders seit dem Ende des Kalten Krieges, dienen Weltbank und IWF in erster Linie Entwicklungsländern.

„Der Dollar war König“, meinte 1980 der Zukunftsforscher Alvin Toffler in seinem Buch „Die Zukunftschance“.[12] Hankel: „Nur der Dollar hatte als einzige der in Bretton Woods vertretenen Währungen eine feste Relation zum Gold beibehalten. Er war in Gold einlösbar – zwar nicht für Amerikaner, aber für die Zentralbanken“. Keynes, der sich mit seiner gänzlich allen politischen Egoismen entzogenen neutralen Weltwährung nicht hatte durchsetzen können, ahnte, dass „dies den USA  die Gelegenheit geben würde, nach Herzenslust Geld auszugeben. Die USA würden sich zuerst ein kleines, und dann ein von Jahr zu Jahr größer werdendes Defizit leisten.“ [13] So sollte es dann ja auch kommen. Nicht nur in den USA, sondern überall in der Welt.

Exakt 247 Billionen Dollar – diese gigantische Summe schuldete 2018 die Welt – Gedanken–Stich – sich selbst. Das entsprach 318 Prozent des Weltwirtschaftsproduktes. So die Berechnungen des Institute of International Finance (IIF). [14] Inzwischen sieht das Institut den Schuldenpegel bei 312 Billionen Dollar, wovon knapp ein Drittel, 92 Billionen, den Staaten zugerechnet werden.  

Die Welt macht mehr Schulden als alle Bitcoins der Welt, möchte man hinzufügen. Vielleicht ist dieser Vergleich Quatsch. Aber ein stabiles System haben uns die von Zentralbanken geführten Währungen seit 1971 nie wieder beschert.

Kann es so etwas überhaupt geben: Sicherheit in Gelddingen? Samuel Brittain, Edelfeder der 'Financial Times' meinte 1994, anlässlich des 50. Jahrestages der Konferenz von Bretton Woods: „Die Erfahrung des Goldstandards lehrt uns, dass es dies geben kann.“ Dreißig Jahre später wissen wir, dass es auch in der Zwischenzeit diese Sicherheit nicht gegeben hat.

Warten wir auch weiterhin auf den Bancor. Vielleicht brauchen wir ihn zur Finanzierung des Umweltschutzes und der Energiewende…

Wir müssten dazu wie vor 80 Jahren ein Stück weißes Papier nehmen und diesmal wirklich ganz von vorne anfangen. Dazu fehlte 1944 der Mut, stattdessen griff man zurück auf Altbewährtes: auf Gold.  


Zum Tage: Karriere

 Was du immer kannst, zu werden,
Arbeit scheue nicht und Wachen;
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karrieremachen.

Theodor Storm (1817-1888), deutscher Dichter