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1984 |
„Alles
ist vergangen und verschwunden. Wirklich große Männer schauen allein auf dieses
Zeitalter.
Jetzt oder China
Von Raimund Vollmer
Im Jetzt wird jeder Augenblick zum Urknall, in dem bereits
alles enthalten ist, was künftig geschehen wird. Jeder Augenblick ist eine Begegnung
des Jetzt mit dem Ewigen. „Jetzt ist die höhere Stufe von neu“, sagt Visch. „Im
Jetzt ist man derjenige, der man schon immer sein wollte, ist man das, was der
Fall ist. Jetzt ist hier, und du bist die Welt.“
Alles dreht sich um alles. Revolution. Ein Begriff, der
weder den Römern noch dem Mittelalter bekannt war, sagte im Jahr des Großen
Jetzt, 1989, der Historiker Golo Mann.
Ein Begriff, der sich gleichsam selber schuf. Aus dem Augenblick heraus. Die
Französische Revolution – meinte im November 1988 der britische Historiker
Theodore Zeldin (*1933) – schuf Klarheit, so, wie es die Franzosen lieben. Doch
nun sei eine Zeit der Ungewissheit angebrochen. Für viele Kommentatoren sei
dies ein unhaltbarer Zustand. „Aber ich denke, dass es ein Zeichen der
Verjüngung ist“, wenn man sich darauf einstellt, dass „sich im Leben in der
modernen Welt alles darum dreht, mit dem Unvorhersehbaren fertig zu werden“,
schrieb Zeldin.
Zwischen den niedergemetzelten Protesten im Frühjahr 1989
auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und dem triumphalen Fall der
Mauer im Herbst desselben Jahres auf dem Pariser Platz in Berlin, am
Brandenburger Tor, hatte sich die Welt in einem Maße verändert, wie es niemand
vorhergesehen hatte. In dem einen Fall wurde jegliches, persönliches,
heldenhaft errungenes Selbstbewusstsein
zerstört, um das fremdbestimmte Jetzt zu erhalten, in dem anderen Fall wurde
jedes persönliche Selbstbewusstsein erhöht, um sich als Kollektiv
selbstbestimmt neu zu definieren. Das Volk verstand sich plötzlich als ein
Volk.
Nun gehen wir in eine Zukunft, in der sich alles zu einem Datenstrom
vereint. Jeder Augenblick, jedes Jetzt wird eingefangen in einen mächtigen, überallhin
wabernden, gottgleichen Datenstrom. Gigantische Mengen von Bits und Bytes,
Petas und Zetas werden in Bruchteilen von Sekunden durchwühlt, um daraus unmittelbar
künftiges Geschehen zu antizipieren. Alles entscheidet sich jetzt, als sei es
für immer. Die ganze Welt, der ganze Wandel, sogar das Wetter, heute, morgen,
in dreißig, vierzig Jahren. Die Zukunft geschieht immer. Jetzt. Alles schafft
sich aus dem Augenblick. Die Wunder, von denen Mao sprach, geschehen ohne den
Menschen, ohne uns.
Donnerwetter. Alles ist bestimmt.
„Nur wenn, was ist, sich ändern lässt, ist das,
was ist, nicht alles“, lautet einer der Hammersätze des deutschen
Philosophen Theodor W. Adorno (1903-1969). Das
ist die Zauberformel, die immer mehr Daten strömen lässt. Es ist das
Walle-Walle des 21. Jahrhunderts. Wir wissen, wir müssen alles, was ist,
ändern. Dringend. Drängend. Zwingend. Dafür sorgt der Himmel: die Klimakatastrophe.
Sie ist alles. Sie ist der große Bestimmer. Sie bestimmt alles. Sie ändert
alles, was ist – und will zugleich doch alles bewahren.
Der Klimawandel programmiert uns diktatorisch in eine
Zukunft hinein, zu der es keine Alternative gibt. Weder für uns Lebende noch
für die Ungeborenen, in deren Namen zu handeln wir uns bereits berufen fühlen. Wir
bestimmen jetzt. Fridays for Future. Die Zukunft hat ihre Freitage. Jede Woche.
Nach Jahrzehnten des Winterschlafs werden die alten,
Gewissheit schaffenden Mächte wieder hellwach.
Der Staat, die Wissenschaft, die Gemeinschaft. Sie sind die Autoritäten, die
uns im Kampf gegen eine Pandemie ebenso leiten wie bei der Bewältigung des
Klimawandels. Es sind die Mächte der Mehrheit.Nur ist es alles andere als einfach, Mehrheiten herzustellen. In einer Demokratie. In einer Diktatur ist das viel einfacher. Da herrscht eine Minderheit.
Verdrängt wird dann all das, was das Leben unbestimmt lässt: die
Märkte, die Künste, die Gesellschaft in all ihrer Kreativität, intellektuellen
(nicht sexuellen) Vielfalt und Vitalität. Sie werden im Angesicht einer überall
spürbaren Bedrohung neutralisiert. Alles kontrolliert statt kontrovers.
Pflicht statt Recht. Denn die Zeit drängt. Sie drängt sich in das Jetzt. In den
Augenblick, der nicht mehr hedonistisch durchlebt werden kann. Protest als
permanentes Entertainment. Die Straßen füllen sich. Für einen Augenblick. Schon ist er vorbei. Wir fallen wieder in uns zusammen.
„Im Versuch, im Jetzt zu bleiben, das so geliebt, so
anziehend ist und dem man so verfallen ist, weil es sofort zugänglich ist und
verführerisch aufdrängt, erlahmt das Selbstbewusstsein mehr und mehr“, sah zur
Jahrtausendwende der Künstler Henk Vischer unsere Individualität durch
ausufernden Konsum gefährdet. Heute möchten wir – völlig eingeschüchtert – das
Jetzt behalten, weil die Zukunft uns kollektiv bedroht.
„Es ist eine Minute vor Zwölf“, mahnte im November 2021 Boris
Johnson (*1964) als Ministerpräsident von Großbritannien. Denn die Zukunft, der
Klimawandel, war jetzt, unmittelbar jetzt.
Er war in Glasgow. Beim Weltklimagipfel der UNO. Er war
überall. Jetzt, im damaligen Monat Elf des Jahres 2021, entschied sich unser
Schicksal. So musste kollektiv bestimmt werden. Denn unsere letzte Stunde hatte
geschlagen - es sei denn, wir gaben der
Zukunft einen neuen Zeitplan. Jetzt. Jederzeit jetzt.
Die Zukunft hat jetzt keine Zeit mehr für die Zukunft, die
aus dem Unbestimmten kommt, aus der Wirtschaft. Aus den Künsten. Aus der Gesellschaft.
Im Raum steht der totale Lockdown des Ungewissen. Die Ukraine, die militärische Sonderoperation des Wladimier Putin, verstärkt es nur, überdeckt, was wirklich ist und doch nicht wirklich erscheint.
Alles muss im Angesicht des Klimawandels neu bestimmt werden, um einen „Absturz unserer
Zivilisation, unserer Welt“ zu verhindern, meinte der umstrittene Johnson live vor alles sofort
erfassenden und alles sofort verbreitenden Kameras. Ein Trendbruch.
Sein Land, Großbritannien, war es, das vor 250 Jahren mit
der Industriellen Revolution durch James Watt und der Entdeckung des
Kapitalismus durch den Moralphilosophen Adam Smith jene Entwicklung,
hervorbrachte die uns so viel Wohlstand
brachte und deren Ziele nun brüchig geworden sind. Unkontrolliert,
unprogrammiert vollzog sich diese Revolution, in der das aus egoistischen
Motiven und doch für das Gesamtwohl handelnde Individuum im Mittelpunkt stand.
Die Menschenrechte waren dem Einzelnen, dem Individuum, gewidmet.
Sie waren – nach amerikanischem Vorbild – vor allem Abwehrrechte gegenüber dem
Staat. Die Französische Revolution aber schuf den Begriff der Nation, der alles
subsumierenden Gemeinschaft, dem Kollektiv. Eine Nation war fortan der
„Staatsträger“, wie es Golo Mann formulierte.
Der Klimawandel ist es nun, der die gesamte Menschheit vereinen
soll. Aus dem geographischen Jahr, in dem 1957 zum ersten Mal sich die ganze
Welt über alle Grenzen und Ideologien hinweg ihre Klimadaten erschloss, wird
nun das klimagraphische Jahrhundert. Der Wandel managt uns.Ob wir wollen oder nicht. Es herrscht die Diktatur der Temperatur.
Fast könnte man, fast muss man meinen: Wir gleiten in eine
die gesamte Erde umspannende
Verbotszone, in ein autokratisches System, dass alle Kräfte an sich bindet –
nach möglicherweise chinesischem Vorbild. Der Lohn ist die absolute Gewissheit:
der Plan.
Keine Kohle mehr für Kohle, heißt zum Beispiel eine
Forderung an die ganze Welt. Das wäre ein Fortschritt, heißt es unisono. „Das
Ende ist jetzt in Sicht“, erklärte Alok Sharma, der Präsident der
Weltklimakonferenz. Ja, er sagt sogar: „Jetzt“ und meint zugleich nicht 2030,
nicht 2040, sondern irgendwann in den dreißiger und vierziger Jahren unseres
neuen, alten Jahrhunderts. So
ganz gewiss ist sich also die Welt wohl noch nicht. Aber sie nähert sich ihr
von Augenblick zu Augenblick. Unausweichlich.
Jetzt herrscht nicht mehr übernationales Geschehen im Angesicht einer Ewigkeit, sondern das
Jetzt avanciert zu einer Deadline, einer Todeslinie, vor der wir jetzt Halt machen
müssen. Wir wollen, dass etwas nicht geschieht. Es herrscht das Ungeschehen. Das
ist der Wendepunkt dieses Jahrtausends. Das Jetzt als Stoppzeichen. Wir treten
auf der Stelle. Und das in einem rasenden Tempo. Wir nennen es Übergang. Aber
wohin? Die Frage bleibt unbeantwortet.
Wir sind hilflos, ratlos.
So kann in Deutschland eine Gruppierung, die sich
Alternative für Deutschland nennt und selbst alle Alternativen ignoriert, das
Wort „Jetzt“ so besetzen, dass es fast als Parteiprogramm genügt. Zum „Jetzt“
gibt es schon jetzt keine Alternative mehr, mögen wir auch deswegen noch so
zahlreich an Wochenenden auf die Straße gehen. Die Demokratie protestiert
vergeblich gegen das Jetzt. Es raubt uns den Atem.
Über uns thront und droht der erbarmungslose Gott des
Augenblicks, der uns in das Jetzt zwingt, in einen infiniten Übergang, dessen
Ende wir nie erreichen. Wie die Französische Revolution, die bis heute ihren
eigenen, so selbstgewissen Zielen hinterherläuft. Liberté. Egalité. Fraternité.
Aber sind das auch noch unsere Ziele?
„Die Orientierung nach vorne, die Antizipation einer
unbestimmten Zukunft, der Kult des Neuen bedeuten in Wahrheit, die
Verherrlichung der Aktualität“, urteilte 1980 Jürgen Habermas (*1929), der einst
wichtigste Philosoph Deutschlands beim Übergang ins 21. Jahrhundert. Inzwischen hinkt auch er hinterher.
Er hat es lange vor uns geahnt: „In der Aufwertung des
Transitorischen, des Flüchtigen, des Ephemeren, in der Feier des Dynamismus
spricht sich eben die Sehnsucht nach einer unbefleckten, innehaltenden
Gegenwart aus.“
Wir verharren im Übergang. Es gibt nur noch Gegenwart, das
Jetzt. Denn in ihm ist alles enthalten. Hier können wir nichts falsch machen. Das
Jetzt ist die „Illusion aller Illusionen“, meinte im Jahr 2000 Henk Visch. Es
ist Zeit für einen Gegenentwurf. Der sind wir selbst. Wir sind der Widerspruch.
Gegen uns selbst. Aber wir merken es noch nicht einmal.
Eigentlich müssten wir gegen uns selbst demonstrieren. Aber
dafür sind wir uns selbst zu gut…