Freitag, 14. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 48): Droht uns China? (3)

 

1986

1797: „Man kann wohl mit Gewissheit sagen, dass die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues! Kultur und Rohheit. Bosheit und Leidenschaft!... Knechtschaft und Despotism! Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft!“

Friedrich Hölderlin (1770-1843), deutscher Dichter, in einem Brief[1]

 

 

Die Dementokratie

 

Von Raimund Vollmer

Während das „Christentum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Verantwortungsräume der politisch Handelnden klar und scharf nebeneinander stellt“, wie 2005 der Politologe und frühere bayerische Kultusminister Hans Maier (*1931) bemerkte, werden diese drei Kategorien nun systematisch zu einer Rechenformel, zu einem Algorithmus vermengt.[2]

„Instant economics“ nennt dies im Oktober 2021 das britische Wirtschaftsmagazin ‚The Economist‘ – und sieht bei allen Chancen als „größte Gefahr“ eine mögliche Hybris, eine Selbstüberschätzung. Es warnt eindringlich vor jeglicher „Form von digitaler Zentralplanung“, also vor etwas, wie es die autokratische Regierung Chinas anstrebt.[3] „Es kann und darf keine einzige greifbare Instanz geben, die sämtliche gesellschaftlichen oder gar menschlichen Vorgänge (…) zugleich steuert“, schrieb 1957 der katholische Theologe Karl Rahner (1904-1984).[4]

Das wäre gottgleich. Aber genau darauf zielt das, was wir hier einmal die  „chinesische Revolution“ nennen möchten. Sie ist so etwas wie die Fortsetzung, nein, wie die Aufhebung der Französischen Revolution.

„Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht“, schrieb vor 250 Jahren der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in seinem „Contrat sociale“.[5] Aber eine solche Regierung passt genau in das Konzept, das China nun in die Welt hineinträgt. Die Partei spielt Gott, gute hundert Jahre nach ihrer Gründung 1921 – ein Volk mit inzwischen fast 100 Millionen Mitgliedern. Aber entscheiden werden immer nur ganz wenige. Die Götter.

Diese Einparteiendemokratie wird sich über die individuellen Rechte, die wir den Monarchen und Autokraten dereinst im Gefolge der Französischen Revolution abgetrotzt haben, einfach hinwegsetzen. Sie ist Gott, der hinter dem prächtigen Schreibtisch thront“, wie es 1975 der ägyptische Schriftsteller und Nobelpreisträger Nagib Machfus (1911-2006) in seinem Roman „Ehrenwerter Herr“ über die Bürokratie formulierte.[6] Da gibt es bereits den Tugendkatalog, wie ihn China bis in den digitalen Exzess hinein installieren will. Und da ist die Angst davor, entbehrlich zu sein, dass auch alles ohne die Bürokraten „wie gewohnt weitergehen würde“, ersetzt durch eine andere Bürokratie, die des künftigen digitalen Gottes, der zu uns in wundersamen Algorithmen herabsteigt. So klammert sich in China die Parteibürokratie an ihren Gottstatus – und ihr Chef Xi lässt sich gleich auf Lebenszeit zu Gott erklären, der sich dereinst zu einem himmlischen Frieden mit Gottvater Mao und dem Heiligen Geist von Den-Xiaoping vereinen wird.

Mit ihrem Verlangen nach absoluter Macht erwischt sie die westlichen Demokratien in einer äußerst kritischen Phase. Dank Corona. Zum ersten Mal in der Geschichte unserer 75 Jahre jungen Demokratie stehen die Sphären der einzelnen Bürger mit denen der Gemeinschaft in einem großen, letztlich unlösbaren Konflikt. Wir oder ich. Umwelt oder Freiheit. Geimpft oder Ungeimpft. Aber dann kam die AfD und einte die Demokratie. Jedenfalls machen die Demontrationen zu Jahresbeginn 2024 diesen Eindruck.

Es zeichnet eine Demokratie aus, dass sie genau solche Konflikte aushält – so unerträglich sie manchem erscheinen mögen.

In dieser Situation konnte sich China mit seinem Ein-Parteien-System, dem alles beherrschenden Wir, eine Zeitlang als eine attraktive Alternative zum westlichen Demokratie-Modell in der Welt positionieren – weit über die Länder hinaus, die von Peking abhängig sind, meint der ‚Economist‘. Abhängig ist doch schon die ganze Welt.  China zeigte sogar Bereitschaft, der zweigrößte Sponsor der Vereinten Nation zu werden. Und die Diplomaten ahnen längst, dass „chinesische Politik“ bald „UN-Politik“ werden soll. Die Chinesen fädelten ihre Politik sehr geschickt ein: sie besetzten die unattraktiven, unauffälligen Jobs dort – und versuchten, von dort aus ihr Netzwerk zu spinnen.[7]

Wollen wir das hinnehmen? Jetzt – und damit für alle absehbare Zukunft? Damit wäre dann wohl unser Modell zu Ende.

Es sei ein Nullsummenspiel, sagt das britische Wirtschaftsmagazin. Einerseits brauche China nach wie vor unser Knowhow, um fürderhin zu wachsen. Andererseits sähen wir in dem Aufstieg dieses Landes aber auch unseren eigenen Abstieg. Da würden sich einige schon fragen, „warum sie helfen sollten. Liberale Demokratien sind in Schwierigkeiten. Während sie erwägen, wie sie mit einem derart durchsetzungsfähigen China umgehen sollen“, sollten sie daran denken, dass sie „eine Stimme haben“ – und zwar jetzt. [8]

Denn morgen kann es schon zu spät sein. Aber sind wir uns dessen bewusst? Was ist in diesem Zusammenhang überhaupt Bewusstsein?

„Das Bewusstsein (…) ist ein Strom subjektiver Erfahrungen, die wir Moment für Moment erleben. Es ist das Realste, was es gibt“, sagt Yuval Harari (*1976), israelischer Historiker. „Es ist das einzige auf der Welt, über das es keinen Zweifel gibt.“[9] Unser Bewusstsein.


21 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

„Die ganze bunte Mannigfaltigkeit, der ganze Reiz, die ganze Schönheit des Lebens setzt sich aus Licht und Schatten zusammen.“
Leo Tolstoi

Anonym hat gesagt…

Zweifel ist der Weisheit Anfang.
René Descartes

Anonym hat gesagt…

....Bewußtsein "Das einzige auf der Welt, über das es keinen Zweifel gibt.."
Wenn der Historiker daherredet!
Dazu sollte er lieber mal einen Psychologen fragen.
Ausserdem gilt bei Historikern: Je absoluter die Formulierung, desto weniger wahrscheinlich ist ihr Wahrheitsgehalt.

Anonym hat gesagt…

Hölderlins Gedanke stimmt noch immer!
Und da sage noch einer: Wenn einer im (...)Turm sitzt...

Anonym hat gesagt…

„Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht“, schrieb vor 250 Jahren der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778)
So stets oben.
Ich kann mir nicht vorstellen, das Rousseau die griechische und römische Götterwelt nicht kannte und deren Regierungsstil.

Anonym hat gesagt…

Götterwelt und demokratisch? Dass ich nicht lache!

Anonym hat gesagt…

Sowohl in der Armee als auch in den örtlichen Verwaltungen und Organisationen soll die innerparteiliche Demokratie der Festigung der Disziplin und der Stärkung der Kampfkraft dienen und nicht ihrer Schwächung.
 Mao Tse-tung       "Der Plan der Kommunistischen Partei Chinas im nationalen Krieg"  Oktober 1938

Analüst hat gesagt…

Maos Verhältnis zu seinem Vater war schwierig. Es gab oft Streit mit seinem Vater, weil dieser Mao für faul und respektlos hielt...

Analüst hat gesagt…

Harari wird von internationalen Spitzenpolitikern und Wirtschaftsführern geschätzt und empfangen. Wissenschaftler kritisieren die fehlende wissenschaftliche Basis seiner Thesen und sehen Verbindungen zum Geschäftsmodell der IT-Industrie und zu neuen Vermarktungsmodellen von Wissenschaft. Kritiker lehnen seine Thesen als reduktionistisch, deterministisch, technokratisch, elitär, undemokratisch, eugenisch und inhuman ab.

Quelle: Wikipedia

Anonym hat gesagt…

Leben lebt und entfaltet sich als Ich und Du und Wir. Wenn wir dies vergegenwärtigen, dann tragen wir die Verantwortung und besitzen die Freiheit, die Evolution als gemeinsame Entfaltung unseres individuellen und gemeinsamen Lebens zu gestalten. Und wir können im Sinne einer neuen abendländischen Spiritualität mitwirken an diesem großen, offenen und kreativen Geschehen.
Joachim Galuska in "Wir-Bewusstsein", Bad Kissingen, 2015

Anonym hat gesagt…

....wie alle Väter.
Bauernväter in China erst recht.
Mao war eben zu höherem berufen 😏

Anonym hat gesagt…

Ach Gott! Das Ich, das Du, das Wir und das Abendland! Soso!
Und wie entsteht aus diesem Pastoraldeutsch ein Bewusstsein, ein Bewusstsein, mein Bewusstsein?
Schlag nach bei Erich Fromm:
Anatomie der menschlichen Destruktivität

Anonym hat gesagt…

Chinas Gebot an seine Bürger:
Haltet das Maul, dafür machen wir euch Reich.
Funktioniert leider für viele nicht mehr.

Anonym hat gesagt…

Was ist das, die neue abendländische Spiritualität?
Nie gehört!
Steht nicht im Koalitionsvertrag.

Anonym hat gesagt…

Die WHO, ein strategisch wichtiger Teil der UN, mit großer Macht und noch mehr Mitteln ist schon komplett in chinesischer Hand.

Anonym hat gesagt…

Das größte Problem der Europäer ist inzwischen, dass sie von weiten Teilen der Welt als Gesellschaft verachtet werden wegen ihrer Lebensweise, Denkweise, ihrer verlorenen Moral und Prinzipien. Kein Vorbild mehr, schwindende politische und wirtschaftliche Macht.
Und das Vorbild für Freiheit und Demokratie ist sichtbar auch untergegangen.

Anonym hat gesagt…

Das Bewusstsein ist das Realste, was es gibt.
Was für ein Schwachsinn!

Anonym hat gesagt…

Die amtliche Spiritualität ist ja auch neu 😉

Anonym hat gesagt…

Wo finde ich die amtliche Spiritualität?
Ich kann nicht einmal amtlichen Spirit erkennen.

Analüst hat gesagt…

Die amtliche Spiritualität ist in Phantasien zu finden...

Anonym hat gesagt…

Der sozialistische Realismus hindert uns daran, an den realen Sozialismus zu glauben.
Stanislaw Jerzy Lec