Mittwoch, 20. November 2019

Vertrauen oder Kontrolle? Nach dem Mord an Fritz von Weizsäcker


Eine unzeitgemäße Betrachtung von Raimund Vollmer

Aus einer Ausstellung, die der Autor dieser Zeilen im Jahr 2000 gemacht hat.
"In welcher Welt leben wir?" fragt sich der FDP-Vorsitzende Christian Lindner nach der gestrigen Ermordung seines Parteifreundes Fritz von Weizsäcker, Sohn unseres früheren Bundespräsidenten. "Wir gehen völlig falsche Wege, aber ich werde aus dem Jenseits nicht schadenfroh sein", hatte vor vielen, vielen Jahren der Schriftsteller Wolfgang Koeppen (1906-1996) diagnostiziert. Und die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung' veröffentlicht heute die Ergebnisse einer Allensbach-Umfrage, die auf einen dramatischen Verfall des Vertrauens in die Politik und in die staatlichen Institutionen hinweist.

Derweil sehen wir, wie Zeitungsverlage wie auch der Reutlinger General Anzeiger jüngst in einer seiner Print-Ausgaben mit einem mächtigen Vorblatt vor der Titelseite für Demokratie wirbt und dabei seine Edelfedern mit Zitaten hervortreten lässt. Es ist eine Kampagne gegen sogenannte Hater in den Sozialen Medien und für den sogenannten Qualitätsjournalismus.

Wir sind ohne Orientierung? Das ist letztlich die Botschaft hinter alledem. Und das nicht erst seit heute. Wir verstehen unsere Welt nicht mehr. Wir kennen nicht mehr, was richtig und falsch ist. Und wollen irgendwie zurück in eine Zeit, von der wir meinen, dass dort die Demokratie noch Demokratie war - zum Beispiel mit einer klaren Gewaltentrennung. Der Staat war Exekutive. Die Politik war Legislative. Die Justiz war Recht - und die Medien waren die Vierte Gewalt, die sich mit natürlicher Autorität in alles einmischte. Mit ihren Fragen, aber auch ohne zu fragen. 

Das ist alles durcheinander geraten. Als neue Gewalt ist das Misstrauen getreten, das jeder von uns in sich trägt. Wir glauben einander nicht mehr. Jederzeit kann irgendjemand ein Messer zücken, selbst in ehrsamsten Kreisen aus reiner Willkür morden, Ärzte, die unumstrittenste Autorität in unserer Gesellschaft, werden tagtäglich angegriffen, Politiker und Beamte sind ihres Lebens nicht mehr sicher, aus Hassreden werden Übeltaten, unsere Gesellschaft verwahrlost. Und das in einer Zeit, in der uns die IT-Industrie erzählen will, dass sie mit der Digitalisierung alle Probleme lösen will. "Lösung" ist seit mindestens 50 Jahren das Zauberwort der Informationstechnologien. Der technische Fortschritt scheitert am Menschen. Es wird Zeit, dass wir Menschen uns endlich wieder um uns Menschen kümmern. Dann werden auch unsere Systeme wieder gesund - allen voran die Demokratie. Sie wird nicht nur zersetzt von den Hatern und Mördern, sie wird auch nicht zersetzt von Facebook und Google, sie wird zersetzt von dem Mangel an Verantwortung im Alltag.

Was uns Menschen unterscheidet von all dem, was sich unter dem Deckmantel der Künstlichen Intelligenz werbewirksam und PR-trächtig über alle Medien (auch denen, die sich den "Prints" zurechnen) ausbreitet, ist genau dieses Gefühl von Verantwortung. Künstliche Intelligenz basiert ganz bewusst auf einer Täuschung, auf der Vortäuschung von Bewusstsein. KI aber kennt Kontrolle, das ist sogar deren Existenzgrundlage, aber sie kennt nicht Verantwortung, weil diese ein Bewusstsein voraussetzt.

Dieser technische Fortschritt, den zu beobachten ich seit 1975 als Journalist das Privileg hatte, muss in seine Schranken zurückgewiesen werden. Er hilft uns nicht bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage: "In welcher Welt leben wir?" Er hilft uns nicht bei der Suche nach den richtigen Wegen. Google hat darauf keine Antwort. Und der technische Fortschritt hilft auch nicht den dramatischen Verfall des Vertrauens in die Politik zu stoppen.

Es wird Zeit, dass wir uns um uns selbst kümmern. Von Mensch zu Mensch. Ebenso kritisch wie empathisch. Das wird ein sehr schwieriger Prozess, weil wir dabei vor allem selbstkritisch sein müssen. 


Der technische Fortschritt hat in den letzten dreißig Jahren vor allem den Narzissmus gestützt, die unbeschränkte Eigenliebe, der Nächste, den wir doch lieben sollen wie uns selbst, ist aus unserem Leben verschwunden, er erscheint nur noch als Spiegelbild auf unserem Smartphone. Alles ist imaginär.  

"Gebt dem Computer, was des Computers ist, und dem Menschen, was der Menschen ist." Norbert Wiener, der erste Kybernetiker, ein Mann, der bestimmt nicht im Verdacht steht, die Technik zu verteufeln, hat dies vor rund 60 Jahren gesagt, ganz am Anfang einer Entwicklung, deren Auswirkungen wir nicht mehr verstehen.

Wir müssen diese Trennung, die vielleicht wichtigste Gewaltentrennung seit 1789, seit der Französischen Revolution, seit der Erklärung der Menschenrechte, vollziehen. Kontrolle ist die Welt der Technik, Vertrauen ist die Welt der Menschen.

Wir können uns auf keine Kontrolle verlassen, schon gar nicht auf die technische. Das erkennen selbst die, die daraus ein Riesengeschäft gemacht haben und Unmengen an Geldern verbrauchen. Wir brauchen wieder Vertrauen, das natürlich auch nicht gegen alles schützt. Der Mord an Fritz von Weizsäcker, der während einer Privatveranstaltung in vertrauten Räumen ermordet wurde, belegt dies. Aber ohne Vertrauen sind wir verloren - in einer Welt der totalen Kontrolle, die alle Gewalten auf sich vereint. Erbarmungslos. Grausam. Unerbittlich. 
Die Plakate erstellte 2000 Detlev Bertram, das Material lieferte der Autor