(Kommentar) Früher galt die Wendung: Eine komplexe Welt wird durch IBM noch komplexer. Das war der Grund, warum man die größten und wichtigsten Projekte an die Mutter aller Projekte (OS/360), an IBM, vergab. Denn da konnte man sicher sein, dass alles, was an Komplexität notwendig war, aufgeboten werden würde, um aus jedem noch so schnöden Projekt ein strategisches zu machen - eines, das höchste Management-Aufmerksamkeit genoss. Denn am Ende würde IBM zwar nicht in Time, aber in Primetime, wenn alle Aufmerksamkeit gewonnen worden war, mit der Lösung kommen. Man musste nur gute Nerven haben - und tiefe Taschen. Und weil SAP ja 1972 aus der IBM hervorgegangen ist, konnte man davon ausgehen, dass die Gründer diese Art von Geschäft ebenfalls beherrschten. So rühmten sich IT-Chefs auf den Golfplätzen der immensen Projektherausforderungen, die sie gemeinsam mit IBM und/oder SAP gemeistert hatten. Natürlich sprach man auch darüber, was das gekostet hatte. Je teurer, desto größer das Ansehen in der Vergleichsreihe.
Doch nun hat es eine Riesenprojektpleite bei der Post-Tochter DHL gegeben. 308 Millionen Euro wurden da in einem gemeinsam mit SAP und IBM durchgeführten Projekt in den Sand gesetzt - eine Summe mit Börsenrelevanz. Denn die Post musste nun wegen der Totalabschreibung eine Gewinnwarnung absondern - und erwägt sogar, von IBM und möglicherweise auch von SAP Schadensersatz zu fordern. Nicht gerade gut für eine Firma, die wenige Tage zuvor melden musste, dass die amerikanische Bösenaufsicht Buchungspraktiken der IBM unter ihre Lupe genommen hat.
Was genau dahinter steht, erfahren wir nicht. Also spekulieren wir mal ins Dunkel hinein.
Eins fällt auf: Je mehr sich ein IT-Unternehmen von der Hardware entfernt (und IBM ist da geradezu beispielgebend), desto einfacher ist es wohl auch, "weiche" Umsätze wie Software und Services nach Belieben zu vermischen und umzubenennen. Das mag alles legal sein und in Übereinstimmung mit den Buchungsregeln, aber es bleibt "alter Wein in neuen Schläuchen", ist nicht so ganz ehrlich. (Es sei denn, man sagt genau, was umgebucht und umgenannt wurde).
Was gestern von der Software nach Services umgebucht wurde, um einen selbstgefälligen Trend zu stärken, wird heute von Services zur Cloud verlagert, weil man dort den Markttrend erwartet, der zu höheren Börsenbewertungen führt. Wie sehr Firmen wie IBM bei sinkenden Umsätze darauf angewiesen ist, den Strukturwandel als Erfolgsgeschichte zu verkaufen, wissen wir bereits seit mehr als zwanzig Jahren. Diese Firmen müssen mit ihren inneren Umsatzströmen herumhantieren, wenn das Gesamtwachstum stagniert oder gar wie bei IBM seit 14 Quartalen rückläufig ist.
Natürlich macht es keinen Spaß an der Spitze eines solchen Unternehmens zu stehen, vor allem, wenn man weiß, dass der schlechte Geschäftsverlauf seine Ursachen in den Fehlentscheidungen der Vorgänger seine Ursache hat. IBM ist seit 1992 ein Superprojekt, das nun von Quratal zu Quartal mit der Tatsache konfrontiert wird, sich dem Scheitern zu nähern. Da helfen auch milliardenschwere Aktienaufkauf-Programme nicht, von denen es soviele gab, dass man sich fragt, ob die Firma nicht längst sich selbst gehört.
Auf jeden Fall sucht das Unternehmen geradezu krampfhaft nach neuen Umsatzfeldern - wohl wissend, dass das einzige, was wirklich Zukunft hat, das Geschäftsfeld Watson ist. Es wäre eine phantastische Unternehmensstory, wenn Watson für sich ganz allein stünde - ohne das Beiwerk IBM. Es wäre ein grandioses Start-up. So ist es ein Start-up mit 101 Jahren Vorgeschichte. 1914 trat Thomas J. Watson als Präsident an, das war immer das Gründungsdatum der IBM, bis Sam Palmisano kam und das Geburtstdatum in seine Ära hinein, nach 2011, umbuchte. Ein kleines Indiz dafür, wie IBM mit Big Data umgeht.
Aber Big Data ist ein unglaublich gutes Mittel, um alles so zu belegen, wie man es braucht. Je mehr Daten zu buchen sind, desto besser kann man sie auch manipulieren.
Warum IBM sich dann aber ausgerechnet einen Wetterdienst für schätzungsweise zwei Milliarden Dollar kaufte, wird einem nicht ganz klar. Denn das Wetter passiert immer in Echtzeit, wird von Milliarden Menschen registriert, kann man nicht einfach umbuchen. Denkt man. Wetterprognosen müssen jeden Tag den Wirklichkeitstest bestehen. Lässt sich IBM auf so etwas ein? Nein. Denn den Wetterfernsehkanal, den hat sie nicht gekauft. Aber wenn man einen Dienst hat, der jeden Tag zehn Milliarden Prognosen produziert, dann hat man so viel Big Data, dass man damit jedes Wetter bekommen kann, das man braucht, um ganze Wirtschaftszweige zu steuern. In der Landwirtschaft ohnehin, wo der Bauer schon lange nicht mehr im Märzen die Rösslein einspannt, sondern stündlich wissen will, was er wo tun kann. In der Verkehrssteuerung und bei den technischen Betrieben, die rechtzeitig wissen werden, wann wo wieviel Schnee fällt. Jeder Mensch braucht sein Wetter - und all das bekommen sie von Watson & Wetter. Donnerwetter!
Aber IBM wäre nicht IBM, wenn sie nicht bei der Kundschaft vor allem an institutionelle Anbieter denkt, an die, die börsenrelevant sind. Sie denkt dabei nicht an uns, an die Individuen. Wir sind nur Empfänger von Services, die andere für uns aufbereitet haben - in Superprojekten wie die der DHL.
Raimund Vollmer