Samstag, 10. Mai 2025

Zum Tage: Kolumbien, Kolonien, Katholzismus

 „Kolumbien gibt es nicht.(...) Das Grundproblem jeder ehemaligen Kolonie: das Problem der intellektuellen Hörigkeit, der dürftigen Tradition, der subalternen Geistigkeit, der inauthentischen Zivilisation, der zwangsläufigen und verschämten Nachahmung, löste sich für mich auf äußerst einfache Weise: der Katholizismus ist meine Heimat.“

Gómez Dávila(1913-1994), kolumbianischer, antimoderner Philosoph

Freitag, 9. Mai 2025

Zum Papst

 Ich bin katholisch, und ich kann  es nicht verleugnen, dass mich diese Konfession geprägt hat.

Ich bin ein Nachkriegskind, und ich kann es nicht verleugnen, dass ich mit Entsetzen feststellen musste, dass Menschen aus meiner Generation, geboren in den Nachkriegsjahren – von Trump über Xi Peng bis hin zu Putin – derart autoritär, diktatorisch agieren würden.

Ich bin einerseits erfreut, und ich kann es nicht verleugnen, dass nun mit Leo XIV. ein Papst an der Spitze meiner Kirche steht, der meiner Generation entstammt und sich als Botschafter des Friedens versteht.  „Friede sei mit Euch allen“, waren seine ersten Worte. Friede ist das Lieblingswort der Christen. 

Ich bin andererseits sehr nachdenklich, und ich kann es nicht verleugnen, dass das Lieblingswort der Christen nicht Freiheit lautet. Denn ohne Freiheit gibt es keinen Frieden – und der Freiheit geht die Befreiung voraus, wie Hannah Arendt sagt. Vielleicht ist es deswegen auch mit dem Frieden nicht so einfach.

„Gehet hin in Freiheit…“ Ich glaube nicht, dass ich diesen Satz je in meiner Kirche gehört habe. 

 

Raimund Vollmer

Zum Tage: Ende des 20. Jahrhunderts

 „Mit Russlands Angriffskrieg und
Amerikas Wertebruch endet das 20. Jahrhundert.“

Walter Steinmeier (*1956), deutscher Bundespräsident , am 8. Mai 2025

Donnerstag, 8. Mai 2025

Anlässlich des 8. Mai 1945

 Die Worte waren klar und deutlich: „Ich sehe, Sie gehören nicht zu dieser Generation“, sagte Henry F. Sherwood bei unserer ersten Begegnung 1978 in Bad Homburg. Er war Jude und Amerikaner, deutscher Abstammung. Ein Berliner. Wie sein jüngerer Bruder, Jahrgang 1923, der damals in der IT-Szene weltberühmt war: Joseph Weizenbaum, den ich ein Jahr später, am 2. Weihnachtstag 1979, kennengelernt habe und nach der Emigration 1936 seinen Geburtsnamen beibehalten hatte, während aus Heinrich Henry und aus Weizenbaum ein ganzer Wald wurde, der Wald, in dem Robin Hood lebte.

Ein halbes Jahr später, im Sommer 1980, fuhren Joseph und ich von einem Besuch in einem Fernsehstudio in Rüdesheim am Rhein entlang zurück nach Sankt Augustin, wo der MIT-Professor als Gast der GMD (Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung) aufhielt. Ich fragte ihn: „Was denken Sie eigentlich, wenn Sie älteren Deutschen begegnen?“ Und er antwortete: „Ohne dass ich es äußere, läuft in meinem Hinterkopf immer dieselbe Frage ab: ‚Was hast Du gemacht?‘“ Ich glaube, ich war so baff, dass ich minutenlang habe nichts sagen können.

Bis heute – und vor allem heute – bin ich immer noch sprachlos. Weizenbaum hatte 1966 die Mutter aller Chatbots geschaffen: Eliza. Ihr lag ein grandioses Sprachmodell zugrunde, das wahrscheinlich als erstes die Barriere zu künstlicher Intelligenz durchbrach. Das in Rüdesheim aufgezeichnete Interview, in dem ich auch eine kleine Rolle spielen durfte, können Sie sich gerne hier ansehen: WEIZENBAUM. Ich war damals 28 Jahre alt.

Übrigens war Weizenbaum einer der wenigen Professoren ohne Doktor-Titel. Warum auch? Er hatte ja seinen eigenen „Doctor“ erfunden: Eliza. 

Raimund Vollmer

Mittwoch, 7. Mai 2025

Dienstag, 6. Mai 2025

Zum Tage: Lenin

 "Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufhängen werden."

Wladimir Iljitsch Lenin (1870-1924), russischer Revolutionär

Sonntag, 4. Mai 2025

DER SUGGESTIV-JOURNALISMUS (Teil 2) Von Raimund Vollmer

1972: „Ich glaube nicht an politische Bewegungen. Ich halte sie für sehr gefährlich, psychologisch eher als politisch. Weil jede politische Bewegung ein Mittel ist, die persönliche Verantwortung für das, was geschieht, zu umgehen. Weil derjenige, der nach außen das Böse bekämpft, sich automatisch mit dem Guten identifiziert und sich für einen Träger des Guten zu halten beginnt.“

Jossif Brodskij (1940-1996), Literaturnobelpreisträger, 1972 zur „Ausreise“ eingeladener russischer Dichter, in einer Schrift anlässlich seiner Ankunft in den USA[1]

Demokratie als Pandemie-Ersatz

Was man kritisiert, sollte man auch loben. Ich gebe zu, dass mir das auf der Titelseite der „journalistin“ angekündigte Interview sehr gefallen hat: Benjamin Piel (*1984), seit Januar 2025 Chefredakteur des Bremer „Weser Kurier“ wurde da befragt. Und da lese ich auf eine angenehme, nicht moralisierende Weise (und ohne einen Hauch von „darüber“) über all die Tugenden, die bei uns Journalisten in unserem Tun vorausgesetzt werden. Alles Selbstverständlichkeiten, auf eine Weise dargestellt, dass ich mich an all das erinnern konnte, was vor mehr als einem halben Jahrhundert mir mein Volontärsvater beigebracht hat. Ich fühlte mich bei der Lektüre zuhause. Hier wurde mir eine Meinung präsentiert, der ich widersprechen kann, ohne moralisch verurteilt und verdammt zu werden. Ich bin bei der Lektüre innerlich gerne auf seine Argumente eingegangen. Und das Ganze war das, was es ist: ein Interview. Nicht mehr. Nicht weniger. Elegant und zurückhaltend geführt von Catalina Schröder. Danke.

Piel distanzierte sich hier vor allem Aktivismus. „Wir sind eben keine Aktivisten“, sagt er – allerdings mit einer Ausnahme: „Wenn es um Demokratie geht, haben wir Journalisten eine gesellschaftliche Aufgabe und sind irgendwie auch Demokratieaktivisten.“

Und dass dies die Haltung meines Berufsstandes ist, durfte ich am 2. Mai 2025 in meiner Zeitung für Deutschland, in der F.A.Z., lesen. Dort inseriert der „journalist“ eine Viertelseite mit der plakativen Aussage: „Freie Medien. Starke Meinung. Unsere Verantwortung.“ Wunderbar. Eine „Initiative“ sei dies, die unterstützt wird von 47 Angehörigen der deutschen Medienlandschaft. Darunter auch vom „Weserkurier“ – und natürlich vom Deutschen Journalisten-Verband, dem Herausgeber des „journalist“ oder der „journalistin“.

Aktivist zu sein, bedeutet in Deutschland, sich moralisch zu brüsten und zu erhöhen – und auf diese Weise Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, also dem   Wert zu huldigen, der sich so schnell verbraucht, dass er ständig nach Nachschub schreit. So giert alles schon nach dem nächsten Skandal, nach der nächsten Sensation, die in ihrer Verwerflichkeit oder in ihrer Bedeutung dazu dient, einen selbst wieder über alle anderen zu erheben. Starke Medien. „Halten wir die Gesellschaft zusammen!“, heißt es in einer fett und farbig hervorgehobenen Zeile in der Anzeige. Wir – im Auftrag des Ganzen

***

Wie stark wir sind, haben wir, die Medien, zu unserer eigenen Überraschung zuletzt während der Pandemie erfahren. Da standen wir im Dienst einer Politik, die jeden von uns vor jedem von uns zu schützen hatte. Plötzlich war das „Krankheitssystem das Ganze der Gesellschaft, und zwar das Krankheitssystem in seiner extremsten Form als totale Institution, also als Intensivmedizin, die das Individuum in der Gesamtheit seiner Lebensvollzüge steuert und in dieser Form der Letztbedeutsamkeit des Individuums Rechnung trägt“, schrieb am 7. April 2020 der Soziologe und Luhmann-Nachfolger Rudolf Stichweh in der FAZ, die übrigens zwar die obige Anzeige veröffentlichte, aber namentlich in ihr nicht als Unterstützer aufgeführt ist.[2]

Ohne Zweifel: Die Medien waren mit all ihren Erscheinungsformen in der Corona-Zeit die wichtigste Informationsquelle geworden. Sie standen für unbedingte Verlässlichkeit – ein berauschendes Erlebnis nach Jahrzehnten selbstverschuldeten Niedergangs. Endlich wurden wir wieder ernst genommen!

Und irgendwie – so will mir scheinen – hätten wir diese triumphale Erfahrung gerne noch einmal. Natürlich ohne Corona. Unmittelbar. Ohne im Dienste eines Krankheitssystems. Im Dienst der Demokratie. Diese bildet inzwischen ein weites Feld. Wie für uns gemacht. Das sollte uns eigentlich stutzig machen.

So hast Du das Gefühl, dass sich einer wie dieser Benjamin Piel damit schwertäte, wenn er merken würde, für was er da in dem Fachmagazin heimlich herhalten soll. Denn die unterschwellige Botschaft dieses von Mitgliedsbeiträgen bezahlten Magazins ist vordergründig harmlos:

Hier bin ich, der „journalist“, die „journalistin“, Mensch, hier kann ich‘s sein – über alle KI hinweg. Auf der Titelseite. Der Mensch als Titelheld, als Souverän. Für Piel sind „Menschen heute notwendiger denn je“, Menschen, „die recherchieren, was stimmt und was nicht. In einer Zeit der  Verwirrung braucht es Journalisten. Sie werden immer eine Zukunft haben“, meint Piel. Aber viel mehr als Zukunft haben sie auch nicht…

Als es noch keine KI gab, hatte das Fachblatt es nicht nötig, die besondere Bedeutung des Menschen herauszustellen. Da war es eine Selbstverständlichkeit. Aber je unbedeutender der Journalist wurde, desto bedeutender ward er in meinem Fachmagazin als Titelheld. Um das zu unterstreichen findet das Gesicht von Seite 1 sogar seine Fortsetzung im Innenteil, wo die Titelhelden stets in fotografisch sorgsam belichteten Feinst-Räumen ganzseitig posieren. Sehr künstlich, aber fotografisch künstlerisch. Natürlich wirkt es nicht. Konstruiert.

So unterläuft die Inszenierung des Interviews mit Benjamin Piel eigentlich dessen Inhalt. Du fragst Dich, warum hat dieser Journalist es nötig, sich so darstellen zu lassen. Und warum deutet er so besonders auf die Rolle des Journalisten als Demokratie-Aktivisten hin – auf dessen Bedeutung für das Ganze, für die Demokratie? Wollen wir uns in ihrem Namen unentbehrlich machen? Dass man unabhängig und überparteilich sei, kenne ich als verlegerische Richtlinie. Das genügte bislang als Voraussetzung. Aktivismus war eher verpönt – in jede Richtung. Gute Medien verzichten darauf, was nicht heißen soll, dass sie auf einen anregenden Meinungsaustausch verzichten. Aber sie machen keine Kampagnen. Die sind ohnehin Zeichen von Schwäche und verhindern eher Pluralismus.

1926: „In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung der Person. Sie fällt in Teile, sie verliert den Atem. Sie geht über in anderes, sie ist namenlos, sie hat kein Antlitz mehr, sie flieht aus ihrer Ausdehnung in ihre kleinste Größe – aus ihrer Entbehrlichkeit in das Nichts; aber in ihrer kleinsten Größe erkennt sie tiefatmend übergegangen ihre neue und eigentliche Unentbehrlichkeit im Ganzen.“

Bert Brecht (1898-1956), deutscher Dichter in seinen „marxistischen Studien“

 

Natürlich sind wir, die Journalisten, der Gesellschaft gegenüber verpflichtet, dem Bürger. Mehr aber auch nicht. Und wir, die Journalisten, tun dies – selbstverständlich – als Demokraten, schon wegen dieser Verpflichtung gegenüber dem Bürger. Und das ist ein gutes Modell, dem – das ist zu spüren – dieser Benjamin Piel sofort zustimmen würde. Aber es ist offenbar kein gutes Geschäftsmodell, weil es kaum Geld bringt und den Journalismus in Richtung Ehrenamt drängt, was Piel übrigens ablehnt. Unsere Wirtschaft ist viel zu schwach und eigentlich nur an PR interessiert, die allerdings durch KI sofort ersetzt werden könnte.

Die Alternative? „Wir wissen nicht, wo wir in zehn Jahren sein werden, welche Medien wir auf welche Weise bespielen werden“, sagt er. Bespielen? Als hätten wir etwas zu bespielen! Wir sind es, die bespielt werden. „Wir sind mitten in einer Revolution, das ist historisch“, meint er weiter. Aber die – so wissen wir seit Büchner – frisst nun einmal ihre Kinder. Das ist nicht historisch. Das ist aktuell. Wir werden gerade gefressen.

Deshalb suchen wir, ganz verschämt, die Nähe zum Staat. Und bei dieser Annäherung kommt uns die Bedrohung von rechts gerade recht.  

***

Inzwischen meinen wir, die Demokratie gegenüber den Bürgern verteidigen zu müssen, und wir schielen gleichzeitig nach der Unterstützung durch den Staat. Der soll mehr und mehr Teil des Geschäftsmodells werden. Selbst der Chefredakteur des Weserkuriers würde eine gänzliche Befreiung von der Mehrwertsteuer begrüßen, die ja bereits mit sieben Prozent bereits ermäßigt ist. Auch eine Zustellförderung würde er ertragen, um denen noch „ein journalistisches Produkt zukommen zu lassen“, die sich nicht digital bespielen lassen wollen. Würde dies zu einer Senkung der Abogebühren führen oder nur den Ertrag steigern?

(Ich würde übrigens zu den Print-Kunden gehören, weil ich ohnehin schon den ganzen übrigen Tag vor dem flachen Bildschirm hocke und wenigstens beim Frühstück den Kopf gerne hinter einer klugen Zeitung verstecke, die mir in der Regel sehr dezent ihre Aufmerksamkeit widmet. Hier bin ich Bürger, hier mag ich es sein.)

Nicht der Wechsel des Mediums – von Papier auf Digital – ist die eigentliche Transformation, die wir als Leser & Bürger zu leisten haben, sondern der Wechsel des  Begriffs Gesellschaft, mit dem wir in Wahrheit konfrontiert werden. Und – so mein Argwohn – ist uns selbst, den Journalisten, dies gar nicht bewusst. Vielleicht ist sogar alles so ausgerichtet, dass uns dies gar nicht bewusst werden kann, angesichts der aufgestauten Komplexität. Man könnte – wenn es nicht gerade wieder in den lauten Hals der Empörung geraten würde – von einer Verschwörung sprechen. Von einer Verschwörung ohne Verschwörer. Der gute, alte „preußische“ Schwabe namens Hegel würde wahrscheinlich vom Weltgeist reden, der da wirkt. Übrigens genau Hegels Verständnis von Gesellschaft wird momentan suspendiert. Und wie das geschieht, dazu findet sich im April-Heft meiner Berufslektüre ein wunderbares Beispiel. Davon mehr im dritten Teil.


[1] Die Zeit, 24. November 1972, Jossif Brodskij: „Blick zurück ohne Zorn“

[2] FAZ, 7. April 2020, Rudolf Stichweh: „Simplifikation des Sozialen“