1972:
„Ich glaube nicht an politische Bewegungen. Ich halte sie für sehr gefährlich,
psychologisch eher als politisch. Weil jede politische Bewegung ein Mittel ist,
die persönliche Verantwortung für das, was geschieht, zu umgehen. Weil
derjenige, der nach außen das Böse bekämpft, sich automatisch mit dem Guten
identifiziert und sich für einen Träger des Guten zu halten beginnt.“
Demokratie als Pandemie-Ersatz
Was man kritisiert, sollte man auch loben. Ich gebe zu, dass
mir das auf der Titelseite der „journalistin“ angekündigte Interview sehr
gefallen hat: Benjamin Piel (*1984), seit Januar 2025 Chefredakteur des Bremer „Weser
Kurier“ wurde da befragt. Und da lese ich auf eine angenehme, nicht
moralisierende Weise (und ohne einen Hauch von „darüber“) über all die
Tugenden, die bei uns Journalisten in unserem Tun vorausgesetzt werden. Alles
Selbstverständlichkeiten, auf eine Weise dargestellt, dass ich mich an all das
erinnern konnte, was vor mehr als einem halben Jahrhundert mir mein
Volontärsvater beigebracht hat. Ich fühlte mich bei der Lektüre zuhause. Hier
wurde mir eine Meinung präsentiert, der ich widersprechen kann, ohne moralisch
verurteilt und verdammt zu werden. Ich bin bei der Lektüre innerlich gerne auf
seine Argumente eingegangen. Und das Ganze war das, was es ist: ein Interview. Nicht
mehr. Nicht weniger. Elegant und zurückhaltend geführt von Catalina Schröder. Danke.
Piel distanzierte sich hier vor allem Aktivismus. „Wir sind
eben keine Aktivisten“, sagt er – allerdings mit einer Ausnahme: „Wenn es um
Demokratie geht, haben wir Journalisten eine gesellschaftliche Aufgabe und sind
irgendwie auch Demokratieaktivisten.“
Und dass dies die Haltung meines Berufsstandes ist, durfte ich
am 2. Mai 2025 in meiner Zeitung für Deutschland, in der F.A.Z., lesen. Dort inseriert
der „journalist“ eine Viertelseite mit der plakativen Aussage: „Freie Medien.
Starke Meinung. Unsere Verantwortung.“ Wunderbar. Eine „Initiative“ sei dies,
die unterstützt wird von 47 Angehörigen der deutschen Medienlandschaft.
Darunter auch vom „Weserkurier“ – und natürlich vom Deutschen Journalisten-Verband,
dem Herausgeber des „journalist“ oder der „journalistin“.
Aktivist zu sein, bedeutet in Deutschland, sich moralisch zu
brüsten und zu erhöhen – und auf diese Weise Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen,
also dem Wert zu huldigen, der sich so schnell
verbraucht, dass er ständig nach Nachschub schreit. So giert alles schon nach
dem nächsten Skandal, nach der nächsten Sensation, die in ihrer Verwerflichkeit
oder in ihrer Bedeutung dazu dient, einen selbst wieder über alle anderen zu erheben.
Starke Medien. „Halten wir die Gesellschaft zusammen!“, heißt es in einer fett
und farbig hervorgehobenen Zeile in der Anzeige. Wir – im Auftrag des Ganzen
***
Wie stark wir sind, haben wir, die Medien, zu unserer
eigenen Überraschung zuletzt während der Pandemie erfahren. Da standen wir im Dienst
einer Politik, die jeden von uns vor jedem von uns zu schützen hatte. Plötzlich
war das „Krankheitssystem das Ganze der Gesellschaft, und zwar das
Krankheitssystem in seiner extremsten Form als totale Institution, also als Intensivmedizin,
die das Individuum in der Gesamtheit seiner Lebensvollzüge steuert und in
dieser Form der Letztbedeutsamkeit des Individuums Rechnung trägt“, schrieb am
7. April 2020 der Soziologe und Luhmann-Nachfolger Rudolf Stichweh in der FAZ,
die übrigens zwar die obige Anzeige veröffentlichte, aber namentlich in ihr nicht
als Unterstützer aufgeführt ist.
Ohne Zweifel: Die Medien waren mit all ihren Erscheinungsformen
in der Corona-Zeit die wichtigste Informationsquelle geworden. Sie standen für
unbedingte Verlässlichkeit – ein berauschendes Erlebnis nach Jahrzehnten
selbstverschuldeten Niedergangs. Endlich wurden wir wieder ernst genommen!
Und irgendwie – so will mir scheinen – hätten wir diese triumphale
Erfahrung gerne noch einmal. Natürlich ohne Corona. Unmittelbar. Ohne im
Dienste eines Krankheitssystems. Im Dienst der Demokratie. Diese bildet inzwischen
ein weites Feld. Wie für uns gemacht. Das sollte uns eigentlich stutzig machen.
So hast Du das Gefühl, dass sich einer wie dieser Benjamin
Piel damit schwertäte, wenn er merken würde, für was er da in dem Fachmagazin heimlich
herhalten soll. Denn die unterschwellige Botschaft dieses von Mitgliedsbeiträgen
bezahlten Magazins ist vordergründig harmlos:
Hier bin ich, der „journalist“, die „journalistin“, Mensch, hier
kann ich‘s sein – über alle KI hinweg. Auf der Titelseite. Der Mensch als Titelheld,
als Souverän. Für Piel sind „Menschen heute notwendiger denn je“, Menschen, „die
recherchieren, was stimmt und was nicht. In einer Zeit der Verwirrung braucht es Journalisten. Sie werden
immer eine Zukunft haben“, meint Piel. Aber viel mehr als Zukunft haben sie auch
nicht…
Als es noch keine KI gab, hatte das Fachblatt es nicht nötig,
die besondere Bedeutung des Menschen herauszustellen. Da war es eine
Selbstverständlichkeit. Aber je unbedeutender der Journalist wurde, desto
bedeutender ward er in meinem Fachmagazin als Titelheld. Um das zu
unterstreichen findet das Gesicht von Seite 1 sogar seine Fortsetzung im
Innenteil, wo die Titelhelden stets in fotografisch sorgsam belichteten Feinst-Räumen
ganzseitig posieren. Sehr künstlich, aber fotografisch künstlerisch. Natürlich wirkt
es nicht. Konstruiert.
So unterläuft die Inszenierung des Interviews mit Benjamin
Piel eigentlich dessen Inhalt. Du fragst Dich, warum hat dieser Journalist es
nötig, sich so darstellen zu lassen. Und warum deutet er so besonders auf die
Rolle des Journalisten als Demokratie-Aktivisten hin – auf dessen Bedeutung für
das Ganze, für die Demokratie? Wollen wir uns in ihrem Namen unentbehrlich
machen? Dass man unabhängig und überparteilich sei, kenne ich als verlegerische
Richtlinie. Das genügte bislang als Voraussetzung. Aktivismus war eher verpönt –
in jede Richtung. Gute Medien verzichten darauf, was nicht heißen soll, dass
sie auf einen anregenden Meinungsaustausch verzichten. Aber sie machen keine
Kampagnen. Die sind ohnehin Zeichen von Schwäche und verhindern eher Pluralismus.
1926:
„In den wachsenden Kollektiven erfolgt die Zertrümmerung der Person. Sie fällt
in Teile, sie verliert den Atem. Sie geht über in anderes, sie ist namenlos,
sie hat kein Antlitz mehr, sie flieht aus ihrer Ausdehnung in ihre kleinste
Größe – aus ihrer Entbehrlichkeit in das Nichts; aber in ihrer kleinsten Größe
erkennt sie tiefatmend übergegangen ihre neue und eigentliche Unentbehrlichkeit
im Ganzen.“
Natürlich sind wir, die Journalisten, der Gesellschaft
gegenüber verpflichtet, dem Bürger. Mehr aber auch nicht. Und wir, die
Journalisten, tun dies – selbstverständlich – als Demokraten, schon wegen
dieser Verpflichtung gegenüber dem Bürger. Und das ist ein gutes Modell, dem –
das ist zu spüren – dieser Benjamin Piel sofort zustimmen würde. Aber es ist
offenbar kein gutes Geschäftsmodell, weil es kaum Geld bringt und den Journalismus
in Richtung Ehrenamt drängt, was Piel übrigens ablehnt. Unsere Wirtschaft ist
viel zu schwach und eigentlich nur an PR interessiert, die allerdings durch KI
sofort ersetzt werden könnte.
Die Alternative? „Wir wissen nicht, wo wir in zehn Jahren
sein werden, welche Medien wir auf welche Weise bespielen werden“, sagt er.
Bespielen? Als hätten wir etwas zu bespielen! Wir sind es, die bespielt werden.
„Wir sind mitten in einer Revolution, das ist historisch“, meint er weiter.
Aber die – so wissen wir seit Büchner – frisst nun einmal ihre Kinder. Das ist
nicht historisch. Das ist aktuell. Wir werden gerade gefressen.
Deshalb suchen wir, ganz verschämt, die Nähe zum Staat. Und
bei dieser Annäherung kommt uns die Bedrohung von rechts gerade recht.
***
Inzwischen meinen wir, die Demokratie gegenüber den Bürgern
verteidigen zu müssen, und wir schielen gleichzeitig nach der Unterstützung durch
den Staat. Der soll mehr und mehr Teil des Geschäftsmodells werden. Selbst der
Chefredakteur des Weserkuriers würde eine gänzliche Befreiung von der
Mehrwertsteuer begrüßen, die ja bereits mit sieben Prozent bereits ermäßigt
ist. Auch eine Zustellförderung würde er ertragen, um denen noch „ein
journalistisches Produkt zukommen zu lassen“, die sich nicht digital bespielen
lassen wollen. Würde dies zu einer Senkung der Abogebühren führen oder nur den
Ertrag steigern?
(Ich würde übrigens zu den Print-Kunden gehören, weil ich
ohnehin schon den ganzen übrigen Tag vor dem flachen Bildschirm hocke und
wenigstens beim Frühstück den Kopf gerne hinter einer klugen Zeitung verstecke,
die mir in der Regel sehr dezent ihre Aufmerksamkeit widmet. Hier bin ich
Bürger, hier mag ich es sein.)
Nicht
der Wechsel des Mediums – von Papier auf Digital – ist die eigentliche
Transformation, die wir als Leser & Bürger zu leisten haben, sondern der
Wechsel des Begriffs Gesellschaft, mit
dem wir in Wahrheit konfrontiert werden. Und – so mein Argwohn – ist uns selbst,
den Journalisten, dies gar nicht bewusst. Vielleicht ist sogar alles so
ausgerichtet, dass uns dies gar nicht bewusst werden kann, angesichts der aufgestauten
Komplexität. Man könnte – wenn es nicht gerade wieder in den lauten Hals der
Empörung geraten würde – von einer Verschwörung sprechen. Von einer
Verschwörung ohne Verschwörer. Der gute, alte „preußische“ Schwabe namens Hegel
würde wahrscheinlich vom Weltgeist reden, der da wirkt. Übrigens genau Hegels
Verständnis von Gesellschaft wird momentan suspendiert. Und wie das geschieht,
dazu findet sich im April-Heft meiner Berufslektüre ein wunderbares Beispiel. Davon
mehr im dritten Teil.