Samstag, 30. März 2024

Zum Tage

 In einer Zwischenphase befindet man sich immer.

Eric J. Hobsbawm (1917-2012), britischer Historiker


Freitag, 29. März 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 14)

Das Leben ist an allem schuld.

Robert Musil (1880-1942), österreichischer Schriftsteller


Das Systemprogramm

 Von Raimund Vollmer 

 

Das Buch des 20. Jahrhunderts – so meinte 1993 der prominente Fernsehjournalist Peter von Zahn sei „vollgeschrieben wie kein zweites zuvor“.[1] Nun ist es endgültig geschlossen.

Das neue Jahrhundert ist eines zwischen allen Zeiten, medial programmiert, medial definiert, medial inszeniert. Die Wirklichkeit ist nur noch Wirkung. Alles steht für das Ganze. Jeder Einzelne. Jedes Schicksal. Der Rest bleibt in der Familie – wenn es sie denn noch gibt.

Die Familie ist weder nachhaltig noch wirkmächtig, um zwei der verräterischsten Begriff der neuen Zeit zu benutzen. Sie wird sich selbst fremd. Sie wird immer kleiner. Sie schrumpft. Lebten 1996 noch 81 Prozent der minderjährigen Kinder in klassischen Ehepaar-Familien, waren es 2014 nur noch 70 Prozent. Bis heute. Der Anteil der Alleinerziehenden hat sich auf fast 20 Prozent verdoppelt.[2]

Schon ist die Geburtenrate in 15 der wirtschaftsstärksten Länder der Welt unter 2,1 Babys je Frau gesunken. In Deutschland sind es bereits 1,3 Geburten. Das heißt: die Bevölkerung schrumpft.[3] Mehr noch: sie kann sich auf Dauer nicht selbst versorgen. Vor allem nicht im Alter. Da kann selbst der Staat nicht mehr helfen. Maschinen und Künstliche Intelligenz sollen nun eingreifen. Nicht für mehr Kinder und größere Familien, sondern für unser langes Leben – zusammen mit den Maschinen und der künstlichen Intelligenz. Sie übernehmen die Verantwortung.

Im E-Book des Lebens ist trotz unendlicher Speicherkapazität kein Platz mehr für uns. Wir zählen nur noch als Statisten und Statistiken, als Versorgungseinheiten. So will es das Systemprogramm, das neue Systemprogramm, nicht das von 1796, nicht das von Hegel, Hölderlin und Schelling, sondern das des Digitals. Vollgestopft mit Algorithmen, die alles zerlegen, fügt es die Welt nach eigenem Gutdünken zusammen. Es übernimmt unsere Lebensführung. Es ist nicht abwählbar. Es ist undemokratisch. 

Eine neue Regierung wacht bald neben unseren Betten. Und sie wird alles tun, um zu verhindern, dass Ende dieses Jahrhunderts zwölf Milliarden Menschen auf diesem Planeten leben.[4] Denn das würde Mutter Erde völlig überfordern. Gut, dass es die neuen Herrscher geben wird, die allerdings nicjht mehr auf die Zustimmung durch die Beherrschten angewiesen sein werden. 

Der Mensch ist nur noch eine subjektlose Recheneinheit, eine unendliche Zwischensumme. Denn dieses Systemprogramm kennt und nennt kein Endergebnis, auch nicht die sinnlose Zahl 42. die uns Douglas Adams als Endsumme aller Fragen, die wir vergessen haben, nennt. Selbst diese Zahl wird es nicht geben. Niemals. Aus Selbstschutz. Denn es wäre ja sein eigenes Ende. Es rechnet und rechnet. 

Es gibt kein Ende mehr. Die digitale Transformation ist ein ewiges Nichts, ein Schwarzes Loch der Algorithmen, die alles in sich hineinsaugen. Ein Vielfraß. Ein Bürokratiemonster. Ohne Bewusstsein. Künstliche Intelligenz. Ohne Gewissen. Ohne Gedanken.

Ausgestattet mit absoluter Macht, mit der unbestechlichen Objektivität der sich selbst kontrollierenden Algorithmen, vollzieht sich ein Imitativsystem, das – wie alle Systeme – nichts anderes zum Ziel hat als die Zerstörung des Individuums. In dieser Welt, so möchte man mit Neil Postman (1931-2001) sagen, „bekommt Subjektivität etwas Unannehmbares“. So schrieb er 1991.

Wir leben in einer großen Leere. Alles ist gleich. Subjekt. Objekt. Nur der Befehl zählt, gegossen in Software, dem größten aller Imitativsysteme.

Was soll’s? Wollten wir nicht ohnehin immer objektiv sein – und schafften es nie? Nun werden wir es, indem wir uns abschaffen. Als Individuen. Wir werden Gemeinwesen. Softwarewesen.

Mal unter uns Einzelwesen: Kein guter Gedanke. Und ziemlich unüberlegt.