Sonntag, 21. April 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 18)

 Unter Zeitzwang

 Von Raimund Vollmer 

1989: „Es gibt keine Vergangenheit, weil man sie beliebig für den momentanen Gebrauch auswechseln kann. Es gibt keine Zukunft, weil eine Zukunft ohne Geschichte nicht existiert. Es gibt nur eine Gegenwart, doch auch sie ist ein wenig aus den Fingern gesogen, denn ohne Gestern und Morgen wird der heutige Tag zum leeren Klang.“

Andrzej Szczypiorski (1924–2000), polnischer Schriftsteller[1]

 

Zeit ist etwas, in das wir hineingeworfen werden wie in einen Fluss – in die „Wolga der Menschenzeit“, lässt der georgische Dichter und Futurist Wladimir Majakowski (1893-1930) in seinem satirischen Stück „Das Schwitzbad“ den Erfinder Käuzerich sagen. Der Kauz hat eine Zeitmaschine gebaut. Sie überwindet den alten Zeitfluss, in dem wir uns – wie er sagt – müde strampeln und uns dennoch nur mit der Strömung treiben lassen können. Doch jetzt – mit dieser Erfindung – wird alles anders: „Ich zwinge die Zeit stillzustehen oder dahinzurasen, in jeder gewünschten Richtung und Geschwindigkeit“, rühmt sich Käuzerich großspurig in dem 1930 erstmals aufgeführten Theaterstück.[2] Mit Käuzerichs Erfindung nimmt die Gegenwart Fahrt auf durch „Herauslösung des funktionalbestimmten Zeitbegriffs aus der metaphysikalischen Substanz“, parodiert Majakowski trefflich den technisch-wissenschaftlichen Jargon – bis in unsere heutige Zeit hinein.

„Metaphysikalische Substanz“ – ein herrlicher Begriff, mit dem der Dichter die Existenz der sozialen Netzwerke gleichsam vorwegnahm. Sie sind die wahren Zeitmaschinen. Denn in ihnen zählt nur die Zeit. Als Prozess, als Verweildauer, als Datenfluss und Kommunikation, zugleich aber auch als Produkt, manifestiert in Form der Werbung.

Ja, das ist sie – die Zeit, ein Fortschreiten und ein Festhalten, beides zugleich. Sie ist Unruhe und Uhr. In den Sozialen Medien ist sie ihre eigene Sphäre. Wie über Jahrtausende hinweg im Glauben, dem insgeheimen Vorbild, dem wahren Geschäftsmodell der Sozialen Medien.

In der Sprachwelt des Glaubens hört sich das viel edler und salbungsvoller an: Zeit ist auch hier Prozess und Produkt zugleich. Bei ihm hält der Augenblick alles im Fluss, während die Zeit klumpt. Glaubensprozess und fester Glaube.

Kostbar sei allein, sagt der Jesuit Pater Adolph von Voß, „der Augenblick, der jetzt rinnt; denn aus solchen Augenblicken besteht die Zeit, gleichwie ein Klumpen Goldes aus vielen Goldstäubchen besteht“. Und was er 1894 gottfromm formulierte, landete 100 Jahre später als geniale Geschäftsidee im Cyberspace. Bei Google, Facebook & Co.

Einen Gott im Hintergrund brauchen sie da nicht.

Die Zeit materialisiert sich in Augenblicken, die sich aneinander reihen in unendlicher „Jetztfolge“, den Posts. Jeder Augenblick ist dabei Zukunft und Vergangenheit zugleich, er ist ganz Gegenwart für dich und deine zwei, drei Sekunden permanenter Gegenwart. Voß meint: „Er ist deine Zeit“, der Augenblick. Und für Zuckerberg ist jeder deiner Augenblicke sein Geld, nicht deins, sondern seins.

Ein geniales Konzept – von den klügsten Menschen vor Jahrhunderten erdacht, von den schlauesten Menschen nunmehr genial ausgebeutet. Nur dürfen sie’s nicht übertreiben. Dann fallen sie im Kurs. Im Börsenkurs. Brutal.

***

Der Augenblick – das ist meine ganz persönliche Zeit. Der Augenblick bin ich. Jeder Einzelne. Was gerade noch guter Glaube war, präsentiert sich heute als profaner Werbespruch. Werbung ist Glauben, bis er bricht. Und das ist dann unser Augenblick. Dann holen wir uns alles zurück. Plumps macht’s, nicht Wumm.

Nicht wir sind in der Welt, wie Heidegger sagt, sondern unsere Daten. Sie überleben uns alle. Sie existieren auch ohne uns. Anonym sowieso. Aber sie können uns nicht ersetzen. Das dämmert ganz allmählich den Big Metas und Datas.

„Dass das Individuelle und die Individuen allein das wahrhaft Wirkliche seien“, das war ein idealistischer Ansatz, der im Zeitalter des Kapitalismus als zu eng angesehen wurde. Hier herrsche vielmehr ein Wertgesetz, das sich im Kapitalismus „über den Köpfen der Menschen realisiert“, meinte 1966 der Philosoph Theodor W. Adorno (1903-1969), der Großsoziologe der Frankfurter Schule, in seinem Buch „Negative Dialektik“.[3] Vielleicht drehen wir es ganz allmählich ins Positive.

Zeit ist im Kapitalismus etwas, das als Wertesystem, am besten noch als Geld, über unseren Köpfen hinwegrauscht. Es ist aber auch etwas, das zwischen den Augenblicken, zwischen unseren Ich-Zuständen, zwischen den Ereignissen, vergeht – oder gar, wie Heidegger beim Betrachten der Zeit anmahnte, nicht nur vergeht, sondern auch entsteht. Und wo etwas Neues emporkommt, da wird der Erfinder sehr schnell durch den Unternehmer ersetzt.

Die Zeit ist wie der Zwischenraum in einem Comic-Heft. Sie ist die Lücke zwischen den Bildern, zwischen den Ereignissen, zwischen den Momenten. Das Unsichtbare. Im Comic ist die Zeit ein Nirgendwo, das uns nicht gehört, in dem sich alles bewegt. Rasend schnell oder ganz langsam. Eine gewaltige Logistikmaschine setzt sich in Gang – von der Bestellung bis zur Lieferung. Sie eilt uns sogar voraus. Weil das, was wir wünschen, bereits produziert wurde. Unsichtbar für uns. Auf Wegen, die wir nicht kennen. In Räumen, die es nicht gibt. Gesteuert im Cyberspace des Nichts.

Zeit wird zum ungeheuerlichen, unbegreifliches Phänomen. Ein Schockerlebnis, vor dem uns nur die Vernunft schützen kann. Die Vernunft – sie hat seit der Aufklärung eine zentrale Bedeutung.

„Die Welt wie sie ist wird zur einzigen Ideologie und die Menschen deren Bestandteil“, schrieb Adorno ohne Komma.[4] Die Welt, wie sie ist. Die Vernunft. Ihr haben wir uns unterworfen. Als Subjekte, als Unterworfene der Zeit, die allen gehört. Das Ich gibt es nicht mehr, verschwunden in den Lücken zwischen den Augenblicken. Wir sind ohne „Ich“. Ohne uns selbst. Pure Vernunft. Zu Daten verdampft, zu metaphysikalischer Substanz.

***

„Die Lebenden werden notwendigerweise immer mehr durch die Toten regiert werden.“

Auguste Comte (1798-1857), französischer Philosoph[5]

 

Die britische Schriftstellerin Pat Barker (*1946) meinte einmal in Anlehnung an den russischen Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky (1940-1996), dass jede Generation versuche, „der Vergangenheit Sinn zu geben, und jede Generation bringt ihre Fähigkeiten und Erfahrungen ein in dieses Projekt. So wird eine Geschichte an die jeweils nächste Generation weitergegeben, die in gewissem Sinn bereichert wurde durch diese Anstrengungen. Eine Generation, der das nicht gelingt, ist nicht länger Teil der zivilisierten menschlichen Gesellschaft.“[6]

Nun – manchmal könnte man meinen, dass wir genau auf diesen Punkt zutreiben. Die Generationen haben sich nichts mehr zu sagen. Wir leben in einer fremden Zeit. Wir sind ohne uns. Amazon ist das einzige Verbindungsglied, das wir noch haben. Doch das Netz, das uns in seinen Lieferketten gefangenhält, ist das Untote, das über uns, die Lebenden, herrscht. Ein Prozess, der sich durch unsere Moderne windet, seit der Industrialisierung. Das Tote herrscht. „Im Staat, in der Gesellschaft und auch in der literarischen Tradition“, schrieb 1925 der österreichische Literaturkritiker Otto Forst de Battaglia. [7]

Und nun geben wir ihr den Rest. Bis in den letzten Winjkel unserer Existenz. Wir schlagen die Zeit tot. Jetzt.

***

Als der mexikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz (1914-1998)  im ungefähren Alter von sechs Jahren, also etwa 1920, erlebte, dass ein Foto von heimkehrenden Soldaten nicht aus der Vergangenheit kam, sondern aktuell war, fühlte er sich „buchstäblich aus der Gegenwart vertrieben“, also seiner ureigenen Zeit beraubt. „Von nun an“, schreibt er, also von jetzt an, „begann die Zeit in immer mehr Bruchstücke zu zerfallen. Auch gab es nicht mehr den einen  Raum, sondern eine Vielfalt von Räumen. Und diese Erfahrung wiederholte sich immer wieder. Irgendeine Meldung, ein harmloser Satz, die Schlagzeile einer Zeitung: alles bewies die Wirklichkeit dieser Außenwelt und zugleich meine eigene Unwirklichkeit.“[8]

„Meine Zeit“ gab es fortan für ihn nicht mehr, sie war als „fiktive Zeit“ entlarvt. Diese „Vertreibung aus der Gegenwart“ geschieht jedem von uns. Vielleicht sind es die Schriftsteller, die das am stärksten spüren. „Brodskys Gedichte sind Sehnsucht nach Gegenwart“, schrieb 1990 die deutsch-russische Publizistin Sonja Margolina (*1951) über den Nobelpreisträger.[9]

Sehnsucht nach Gegenwart. Sehnsucht nach diesen uns verbleibenden zwei, drei Sekunden Präsens. Dieser permanenten Abfolge von Bildern, von Augenblicken. Und doch mögen sie uns nicht befriedigen.

Hinter allem steht dieses Gefühl von Verlust. Wir sind – um mit den Worten des französischen Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922) zu sprechen – „auf  der Suche nach der verlorenen Zeit“, unserer Zeit, deiner, meiner Zeit. Das einzig Wirkliche in dieser temps perdu ist dann die Erinnerung. Bei Proust umfasst sie 4000 Seiten.

„Für Proust ist die Wirklichkeit des Augenblicks unrein, verzerrt durch unsere Interessen“, schrieb 1957 der Journalist und Schriftsteller Günter Blöcker (1913-2006) in seinem Buch „Die neuen Wirklichkeiten“. Dagegen steht „der Augenblick der Erinnerung“, der uns die Phänomene so darstellt, „wie sie ‚an sich‘ sind.“[10]

Die Erinnerung ist unsere Rettung. Da sind wir wieder uns selbst. Und sei es nur als Sehnsucht. Da holen wir uns unsere Zeit zurück. In diesen Erinnerungen ist Zeit nicht länger Geld, ist Zeit nicht die Zeit, „die anderen gehört“, wie Paz schreibt. Es ist nicht die Zeit, die du raffen oder vergeuden kannst. Es ist allein deine Zeit, deine Gegenwart.

Wir leben dann nicht mehr im Jetzt-Stream, der über unsere Köpfe hinwegfegt. Die Zeit ist in uns. Nicht als Illusion, nicht als Beherrschung, sondern ganz tief als Erinnerung. 

 

 Bisher erschienen:

Teil 1: Der Zukunftsschock  // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15:  Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt

 

 


16 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Selbstverständlich gibt es eine Vergangenheit, fragen Sie mal Mnemosyne.
Alles was existiert hat eine Vergangenheit. Aus allen Vergangenheiten ist unsere Geschichte. Da Vergangenheiten nicht nur sächlich existieren, sondern auch in und durch Erleben und Erinnerungen aller Dinge sich bilden steht Mnemosyne auch für das universelle Gedächtnis der Menschheit, der ganzen Erdgeschichte, des Sternenwissens.
Was sind die Atome und Gene aller Dinge und Subjekte anderes als ein Bild der Vergangenheit und der Erinnerung?

Anonym hat gesagt…

Es gibt keine Vergangenheit, weil man sie - die Kommunisten -beliebig für den momentanen Gebrauch auswechseln kann/können, meint Szczypiorski.
Trotzdem ist es Vergangenheit. Vielleicht nicht die Seine. Und seine Vergangenheit können ihm die Kommunisten nicht mehr wegnehmen.
Szczypiorski macht den alten Denkfehler. Nur weil er die Augen zu macht und sich eine andere Vergangenheit vorstellt, verschwindet die Vergangenheit nicht. Es verschwindet seine alte Vorstellung allenfalls.

Anonym hat gesagt…

Ja, schauen Sie in einen Krater. Das i s t Vergangenheit!

Anonym hat gesagt…

Es gibt sogar einen Vergangenheits- und Zukunftslichtkegel, sie unterteilen die Raumzeit in drei Regionen.
Wer sich das mal genauer anschauen will, sollte vor Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und deren Existenz keine Angst haben und Stephen W. Hawkings Eine kurze Geschichte der Zeit lesen.

Anonym hat gesagt…

Einige unserer Vorstellungen sind von dem Gefühl der Freiheit, andere von dem Gefühl der Notwendigkeit begleitet.
Johann Gottlieb Fichte
1762 - 1814
Auf der Suche nach Erfahrung

Anonym hat gesagt…

Und in der Tat ist es wahr, daß die Vernunft die Hauptsache von allem ist, das Beste im Vergleich mit den übrigen Dingen dieses Lebens und geradezu etwas Göttliches.
Martin Luther 1483 - 1546 Disputation über den Menschen

Anonym hat gesagt…

"Mut steht am Anfang des Handelns, Glück am Ende".
Demokrit

Analüst hat gesagt…

Bis die Zeitmaschine einsatzbereit ist, werden wir mit unseren Fehlern der Vergangenheit klarkommen müssen.
Frank Wisniewski (*1957), Informatiker

Anonym hat gesagt…

"Die Vergangenheit ist das einzig Wirkliche im Leben. Alles was ist, ist Vergangenheit."
Anatole France (1844 - 1924), eigentlich François Anatole Thibault, französischer Erzähler, Lyriker, Kritiker und Historiker, Nobelpreisträger für Literatur 1921
Quelle: France, Die rote Lilie (Le lys rouge), 1894

Anonym hat gesagt…

Plötzlich ssh mich mein Spiegelbildan. Diese Bewegung war nicht die Spiegelung meiner eigenen Person. Ich selbst stand reglos. Der andere - groß, stämmig - sah langsam erst die Frau, dann ihren Begleiter an.
Stanislaw Lem
Transfer

Anonym hat gesagt…

Auch eurem alten Freunde ergeht es nun besser als damals, und büßet er, so ist es Buße der Versöhnung.
Adelbert von Chamisso
Peter Schlehmils wunderbare Geschichte
1781 Schloss Boncourt de
Champagne -
21.8.1838 Berlin

Anonym hat gesagt…

AUFSTAND, der - Erfolglose Revolution. Fehlschlag eines von Überdruß angezettelten Versuchs, Mißherrschaft durch unfähige Regierung zu ersetzen.
Ambros Bierce
Des Teufels Wörterbuch 1911

Anonym hat gesagt…

Die Gerechtigkeitist eine Übereinkunft, die einen Nutzen im Auge hat, nämlich einander nicht zu schädigen und voneinander nicht Schaden zu erleiden.
Epikur Philosophie der Freude

Raimund Vollmer hat gesagt…

Es ist ja nicht so, dass es Vergangenheit und Zukunft nicht gibt, sondern nur so, dass vor allem die Vergangenheit entweder verdrängt oder manipuliert wird, so dass sie in ein Narrativ passt, das zielorientiert ist. Narrative machen aus der Ursache eine Wirkung. Und das erleben wir mehr und mehr. Die KI ist des halb ein Künstliches Imperfekt...

Analüst hat gesagt…

Und auch die besten Propheten können die Zukunft nur erraten. Schließlich müssen sie auch Brot essen...

Anonym hat gesagt…

Der geistige Stillstand oder Fortschritt hat nichts zu tun mit der in der Vergangenheit schon geleisteten Arbeit. Das geistige Leben ist etwas Überzeitliches und darum immer Gegenwärtiges und kann nur an der Gegenwart gemessen werden.
Konfuzius