Donnerstag, 4. März 2021

1970 - Das Jahr, in dem wir aufbrachen, um Corona zu besiegen

Es ist jetzt ein Jahr her, dass ich damit begonnen habe, mehr für mich selbst als für andere, über das zu schreiben, was im Zeichen der Pandemie mit uns geschieht. Fast jeden Tag habe ich daran geschrieben und ahnte irgendwann, dass es eine unendliche Geschichte werden würde. Viele kleinere Stories entstanden, sind heute noch Baustellen, die mit der Hauptstory noch zusammengefügt werden müssen. Das Ganze war so anstrengend und aufreibend, dass ich an der Journalyse so gut wie nichts mehr machen konnte. Nun bekommt die Story allmählich eine Struktur - und ich möchte mal das ein oder andere Sonderthema herausnehmen und hier veröffentlichen.

Internet & Interferon

Von Raimund Vollmer

Es war im November 1970, ein Jahr, nachdem das Internet als ARPAnet an der Stanford University gestartet worden war. Die US-Regierung hatte zwanzig privaten und staatlichen Forschungslaboratorien einen hochbrisanten Entwicklungsauftrag erteilt. Es ging um „den Bau einer Bombe besonderer Art“  Mit diesen Worten stürzte uns der Stern-Redakteur Ulrich Schippke in eine Zukunft, in der eine winzige „Plastik-Kapsel, die – am Arm oder Bein unter die Haut geschoben – den Menschen mit einem Schlag von allen Virus-Krankheiten der Welt befreien“ sollte. Wir sollten also genau das bekommen, was in aktuellen Verschwörungstheorien dem Weltenretter Bill Gates an ebenso bösen wie geheimen Absichten unterstellt wird.

Stand 1970 der Staat hinter dem Versuch, das Gegenmittel zu allen Viren zu finden, so war es jetzt, 50 Jahre später, ein reicher Privatmann, der sein Vermögen in der virtuellen Welt erworben hatte, einer Oberwelt, die – zu Software transformiert – alles zu regulieren sucht. Würde er, dessen Microsoft große Anstrengungen unternahm, um das Internet zu beherrschen, sich nun auch noch der körperlichen Welt bemächtigen? Würde ihr auf Dauer alles, was kreucht und fleucht, untergeordnet?

Alles war möglich, 1970 ebenso wie 2020. Jedenfalls in unserer Phantasie. Damals war sie heiter und voller Träume, heute eher düster und voller Traumata.

Medizin statt Mundschutz, das war vor einem halben Jahrhundert das große Versprechen. Damals. Mit der Kapsel in der Achselhöhle oder sonst wo würden wir sicher durch die kalten Jahreszeiten kommen. Die Praxen der Allgemeinmediziner würden von Grippekranken verschont, die Ärzte könnten sich endlich in aller Ruhe um ihre anderen Patienten kümmern – und müssten keine Sorge haben, dass diese sich in den Wartezimmern auch noch gegenseitig ansteckten. Bestimmte Krankheiten würden wir ganz einfach vergessen.

Das Wundermittel hieß Interferon. 1957 von dem Schweizer Mikrobiologen Jean Lindemann (1924-2015) und dem Briten Alick Isaacs (1921-1967) entdeckt, sollte es „wie von Zauberhand“ jeden Erreger besiegen. „Man bekommt nie mehr Schnupfen, nie mehr Grippe – ein ganzes Bündel von Krankheiten, ausgelöst durch mehr als 400 Virusarten, wird durch die Kapsel für immer aus der Welt geschafft.“ So die Hoffnung des Stern-Reporters vor 50 Jahren.[1] Und wir glaubten ohne Arg der Wissenschaft und den Journalisten.

Schon die Entdeckung der Doppel-Helix, der DNA, 1953 durch den Amerikaner James Watson und den Briten Francis Crick hatte nach anfänglichem Zögern nicht nur die Fachwelt inspiriert, sondern die gesamte Menschheit. Diese Entdeckung löste „Schockwellen“ aus und die Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ nannte es die „Watson Crick-Bombe“.[2] Kleiner ging’s nicht. Ein wohliger Schauder erfasste uns angesichts dieser „Atome der lebendigen Welt“, wie es die Zeitschrift „Cosmos“ 1964 nannte.[3] Sie bildeten immerhin die „Blaupause aller lebenden Kreaturen“, meinte 1988 der ‚Economist‘.[4] Die Biotechnologie war geboren und löste eine unglaubliche Aufbruchsstimmung aus. Die Zeit war abzusehen, in der Menschen planbar wurden, genetisch programmierbar, nicht mehr länger ein „Zufallsprodukt“

1976 wurde in San Francisco Genentech gegründet. Es war das erste Biotech-Start-up, das zudem um Wirkstoffe wie Interferon herum Risikokapital in Hülle und Fülle eingesammelt hatte.[5] Mitte der achtziger Jahre hatte das US-Unternehmen bei einem Umsatz von 130 Millionen Dollar einen Börsenwert von drei Milliarden Dollar.[6] (2009 kaufte dann der Schweizer Pharma-Konzern Hoffmann-LaRoche die Amerikaner für 46,8 Milliarden Dollar.)

„Wissenschaft und Unternehmertum“, zwei Dinge, die sich eigentlich gegenseitig ausschlössen, hätten zueinander gefunden, befand 1988 der ‚Economist‘. Vier Jahre zuvor hatte dasselbe Magazin vermerkt, dass der Mensch nun zum ersten Male in seiner Geschichte in der Lage sei, „mit seiner eigenen Natur zu spielen“.[7] Phantastisch. Der Bundesgerichtshof hatte sogar 1969 entschieden, dass es keinen Grund mehr gäbe, „die planmäßige und nunmehr weitgehend beherrschbare Ausnutzung biologischer Naturkräfte vom Patentschutz auszuschließen.“[8] Patente aufs Leben, höchstrichterlich erlaubt. Das Planspiel des Lebens hatte begonnen und forderte Politik und Wissenschaft auf neue Weise heraus.

In Bonn bildete sich eine Enquete-Kommission, die die Folgen der Gentechnik abschätzen sollte. Überall in der Welt wurde nachgedacht – natürlich auch in den USA, dem Mutterland des Biotechs. „Die Gefahren der Gentechnologie kommen mehr durch die Hintertür“, meinte 1988 der Amerikaner Jeremy Rifkin (*1945), Gründer der Denkfabrik ‚Foundation on Economic Trends‘. „Das Leben  wird jedoch auch nicht besser. Der Mensch wird modifiziert und vorhersagbar.“[9]

Stattdessen scheint nun die Natur mit uns zu spielen. So sind wir heute weitaus  pessimistischer, fast schon resignierend: „Das Virus ist Teil unseres Leben“, sagt der deutsche Virologe Hendrik Streeck (*1977) im September 2020. Wir müssen uns mit ihm abfinden.

1970 war dies ganz anders. Es war das Jahr, in dem die Biotechnologie ihren Triumphzug durch die Zukunft der Menschheit antrat und alles, was vorher war, in den Schatten stellen wollte. Sie werde „dereinst alles, was etwa Atomphysik oder Raumfahrttechnik hervorbrachten, zwergenhaft erscheinen lassen“, zitierte ‚Der Spiegel‘ 1970 in einer Titelgeschichte Charles D. Price, den vormaligen Präsidenten der Amerikanischen Chemischen Gesellschaft, und das Magazin sprach selbst von einer „biologischen Revolution“.[10] In gewisser Weise sollte er Recht haben. Atomphysik und Raumfahrt ist es nicht gelungen, die ganze Welt in die Knie zu zwingen. Das schaffte nun ein Virus.

Doch die Revolution fand nicht statt – jedenfalls gemessen an den Verheißungen vor 50 Jahren: Geburt und Schwangerschaft müsste es demnach seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr geben, eine künstliche Neubildung von Organen und Gliedmaßen ist uns auch noch nicht wirklich gelungen. Wir haben zuhause keine Mensch-Tier-Wesen, die für uns alle Drecksarbeiten erledigen. Es gibt auch keine Maschinen-Menschen, die sogenannten Cyborgs, die uns gehorsam dienen oder gar beherrschen. Unsere Erwartungen und Befürchtungen waren zu hoch. Es gibt allenfalls Teilsiege.

So war es auch bei dem Zauberstoff Interferon. Risikokapitalisten investierten Abermillionen in den Stoff, der nur sehr schwer zu gewinnen war, wie die Pharmakonzerne und deren Wissenschaftler bald merkten. Da nützte ihr ganzes Können und Geld nichts.[11] Ein Wundermittel wollte ihnen nicht gelingen. Mitte der achtziger Jahre – als das Krebsmittel Alpha-Interferon auf den Markt kam – stritten sich die Konzerne leidenschaftlich darum, wer als erster ein entsprechendes Patent bekommen hatte, aber ein Patent auf alles hatte keiner.[12] Wenn man schon nicht alles liefern konnte, dann wollte man wenigstens behaupten können, dass man der erste gewesen war, der ein „genetisch hergestelltes“ Produkt, es war das Alpha-Interferon, hatte patentieren lassen.[13]

Ein halbes Jahrhundert nach dem entschlossenen Aufbruch wünschten wir uns, es gäbe so etwas wie diesen Viren-Killer Interferon und er wäre so allgegenwärtig wie das Internet. Tatsächlich probiert man derzeit diesen Killer ausgerechnet an jener privaten Hochschule aus, an der auch das Internet gestartet wurde: an der kalifornischen Stanford University im Zentrum des Silicon Valley, in Palo Alto. Erfolgsversprechend scheint es indes nicht zu sein.[14]

Vielleicht entdecken wir dennoch ein Zaubermittel. Tatsächlich wird Interferon heute zum Beispiel in der Krebs-Medizin und gegen Grippe eingesetzt, der ganz große Knüller wurde es jedoch nicht.

Eins wissen wir derweil ganz genau: Der Wunderglaube gehört zum Menschen wie die Vernunft. Beide können sich irren. Und dann – ja dann – schlägt stets die große Stunde der Institutionen, vor allem die des Glaubens, also der Kirchen, und die der Vernunft, also die des Staates. Beide stellen sich fürsorgend und schützend vor uns – und ersticken damit jede Rebellion. Vor allem aber schützen sie sich damit selbst. Beide lebten bislang in dem Gefühl, eine Ewigkeitsgarantie zu haben


Mittwoch, 3. März 2021

DAIMLER in der F.A.Z. - Und dem Management ein Wohlgefallen

Kommentar: Einen erstaunlichen Bericht veröffentlichte heute das Hochqualitätsmedium F.A.Z. unter der Überschrift „Daimler und das Steuergeld“. Autorin ist Susanne Preuß. Sie erklärt uns, warum es Kurzarbeitergeld gibt. Jetzt wissen wir es. Sie erklärt uns, dass der Automobilhersteller Daimler 700 Millionen Euro an Corona-bedingten Kurzarbeitergeld für seine Mitarbeiter erhielt. „Um diesen Betrag habe das Unternehmen die Kosten gesenkt, sagte Daimler-Chef Ola Källenius“, zitiert sie indirekt den Vorstandsvorsitzenden.  Aber da sind wir bereits tief in der Story drin, die alles tut, um dem Management des Unternehmens zu gefallen.

In der beliebten Methode, aus der vorausgedachten Synthese dann These und Antithese herauszufiltern, baut die Journalistin die „Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht“ zuerst einmal als Antagonistin ihrer Story auf. Denn die Politikerin rügte, wie satt der Automobilhersteller ist, während kleine Einzelhändler darben müssen. Wenn man so negativ einsteigt, weiß man schon, was kommt. Das Kopfschütteln vor allem der schwäbischen Leser wird bei der Lektüre groß gewesen sein. Wie kann man nur das eine mit dem anderen vergleichen. Andere werden sich fragen, warum gar nichts über die Zulieferindustrie gesagt wird, von der Daimler abhängig ist – und noch mehr gilt das umgekehrt.

Stattdessen wird groß und breit erklärt, warum Daimler die Dividende erhöhen musste. Einmal, weil es der Vorstand versprochen hat, zum anderen, um beim Börsenwert des Unternehmens zulegen zu können. Das sei wichtig in einer Aktionärsstruktur, die sich vor allem durch das Ausland definiert.

Dass die heute so aussieht, daran hat der Vorstand natürlich keine Schuld. Das ist gleichsam gottgegeben. Und so rechnet sich Frau Preuß in stiller Ergebenheit durch das Zahlenwerk von Daimler durch. Natürlich alles tadellos.

Dennoch steht man am Ende dieses Artikels hilflos da. Wichtig wäre doch gewesen darzustellen, wie sehr und womit die Zulieferbetriebe zum Erfolg beigetragen haben. Daimler ist nicht allein auf dieser Welt, lässt sich erst recht nicht aus sich selbst erklären. So hält ja auch die Autorin dem schwäbischen Konzern die Börsenkapitalisierung von Toyota und Tesla entgegen, die deutlich höher liegt. Mit höheren Dividendenzahlungen haben diese das nicht geschafft, sondern mit dem Aufbau von Vertrauen in die Zukunft. Sie bringen einfach ihr Geschäftsmodell besser auf die Straße. Dass Daimler viel Geld für Forschung und Entwicklung ausgibt, wissen wir. 8,6 Milliarden Euro seien es, das 30fache dessen, was der Hersteller an staatlicher Zuwendung bekomme, schreibt Frau Preuß. WOW. Das soll imponieren!

Zum Vergleich: Der Computerhersteller IBM war jahrzehntelang der Weltmeister bei den Patenten. Er gab mehr Geld für Forschung und Entwicklung aus als seine größten Mitbewerber zusammen. Und doch fand IBM einen langen Weg in den Misserfolg. Am Ende – wie wir jüngst erfahren durften – blieb nur noch die Aufspaltung. Es ist der Weg, den Daimler nun auch gehen wird. So ist es beschlossen.

Nein, das Management des Konzerns braucht keine publizistische Rechtsfertigungsakrobatik. Es braucht Kritik. Dringend. 

Raimund Vollmer (der sich allmählich aus dem journalystischen Lockdown befreit)