„Juni 2024: Der Gewinner der Europa-Wahl heißt Wladimir
Putin. Er führt einen Vernichtungskrieg in der Ukraine, und es feiern
diejenigen Zugewinne, die auf seiner Günstlingsagenda stehen: die AfD und das
BSW in Deutschland, das Rassemblement National in Frankreich, die Partei für
die Freiheit in Holland, die Freiheitliche Partei in Österreich. Und Sahra Wagenknecht macht
Heimat-Wahl. Gegen den Westen, für die Unterwerfung eines von Deutschen weggemordeten
Volkes. Mehr Kontinuum, mehr Wieder-Wahl ist kaum drin.“
Ines Geipel (*1960), deutsche Schriftstellerin,
FAZ, 12. August 2024: "Die Landnahme der Gefühle"
Was neu ist, kommt wieder…
Beeindruckend diese Analyse der 1960 in Jena geborenen
Schriftstellerin. Was sie Ressentiment nennt, der organisierten Linken und der
extremen Rechten, ist eigentlich nur durch eine Form der geistigen Regression
zu erklären. Man fällt zurück in eine Phase, die wir eigentlich als überwunden
gesehen haben. Dass sie – auf durchaus verschlungenen Wegen – wiederbelebt
wird, verzerrt wiederkehrt, hat seinen Grund (meiner Meinung nach) darin, dass
wir e nie geschafft haben, uns eine gemeinsame Zukunft zu geben. Damit meine
ich nicht nur die gemeinsame Zukunft von Ost & West, sondern die über alle
Generationen und Migrationen hinweg. Den Verlust der Gesellschaft als
Schmelztiegel unserer Hoffnungen werden wir bitter bezahlen müssen. Putin hat
uns in eine Vergangenheit geführt, von der wir dachten, dass wir sie mit dem „Ende
der Geschichte“ hinter uns gelassen hätten.
Nun werden sie in ihrer ganzen Perversion wieder sichtbar.
Hannah Arendt hat einmal am Beispiel der amerikanischen und
der französischen Revolution deutlich gemacht, wie man solche reaktionäre und
regressive Entwicklung überwinden kann. Sie hat gesagt, dass man ein Stück weißes
Papier nehmen muss und ganz von vorne anfangen muss. Nur so wäre es im 18.
Jahrhundert zu der Erklärung der Menschenrechte gekommen. Vielleicht sind wir wieder
in einer solchen Situation. Nur wissen wir nicht, was wir auf dieses Stück
Papier schreiben sollen. Es ist auch niemand sichtbar, der hierzu eine Idee
hat.
Das ist das große Versäumnis der vergangenen 50 Jahre: der
gigantische Anpassungsaufwand, den wir bis zur Unverständlichkeit unserer eigenen
Gedanken getrieben haben, um möglichst beim Wunsch, uns hervorzuheben, nicht
aufzufallen, uns daran, unsere Verzagtheit zu überwinden und das Neue zu
denken. Es könnte ja falsch sein. Falsch ist aber nur diese Tendenz zur
Regression, zum Rückfall in Zeiten, die es so nie gegeben hat.
Francis Fukuyama hat im Jahr 2000 seine These vom Ende der
Geschichte wiederholt – mit der Begründung, dass nun möglicherweise die
Geschichte neu beginne – mit einem neuen Menschen. Er blickte dabei auf die
Biotechnologie.
Ich habe das Gefühl, dass diese Idee mit dem neuen Menschen
uralt ist. Sie hat sich nie erfüllt.
Noch haben wir alle einen Bauchnabel.
Raimund Vollmer
“No no, you don't believe we're on the eve of destruction.” Das war
1965.