Samstag, 13. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 60) - (Die Macht der Software)

 

1995

2006: „Die Macht lässt den Mächtigen vereisen.“

Mario Erdheim (*1949), Schweizer Ethnologe und Psychoanalytiker[1]

Das Genie ohne Genie

Von Raimund Vollmer

Eine Maschine arbeitet. (Für uns.) Ein Automat spielt. (Für sich.) Das ist der Unterschied. Die Maschine ist Mittel, vor allem Produktionsmittel. Der Automat ist Zweck, vor allem Selbstzweck. Die Maschine ist Roboter. Der Automat ist Künstliche Intelligenz. Die Maschine realisiert. Der Automat simuliert. Die Maschine ist Potential. Der Automat aber ist Macht. Macht ohne uns, aber über uns. Über die Zukunft.

So könnte man mit festem Blick auf die Entwicklung der ersten 250 Jahre unseres Jahrtausends fabulieren.  Im 18. Jahrhundert – also zu der Zeit, in der unser Jahrtausend in Wirklichkeit bereits begann – war es der feudale Hofstaat, der für sich die schöne Welt der Automaten entdeckte. Sie waren ihm edles Spielzeug, exklusives Kunstwerk, köstliches Amüsement. Sie waren ihm aber auch Imitation der eigenen, in sich geschlossenen Welt. Die Automaten „stellten nichts her, sie stellten sich dar – ganz so wie jene Aristokraten, zu deren Zerstreuung sie geschaffen worden waren“, meinte 1997 der Philologe Jörg Ludersleben.

Gerade „in der Spätzeit des Ancien Régime“ seien diese „nutzlosen Apparaturen“ sehr in Mode gewesen, sagt er.[1] Sie simulierten das höfische Geschehen, den Hofstaat, der ja wie eine „autopoietische Maschine“ funktionierte, „als ein System, das allein zu seiner Selbsterhaltung da ist“, befand Ludesleben. Starr und wie programmiert, eben absolut beherrscht. Der Automat war Luxus pur, ein Sonderfall der Technik, jenseits von Gut & Böse. Trotz aller technischen Raffinesse und Feinmechanik, aller Aufklärung und Rationalität war der Automat aber immer auch ein faszinierendes Wunderwerk, ein Stück Magie, das Dinge tat, die bislang allein dem Menschen vorbehalten waren. Diese Puppen tanzten und musizierten wie wir. Ja, sie beherrschten sogar die Schreibkunst. Irgendwann würden sie sich vielleicht selbst die Programme schreiben – übrigens, ohne uns vorher zu fragen.

So hatte der in Ludwigsburg geborene Hofmechanikus Friedrich von Knaus 1760 einen künstlichen Schreiber erfunden, einen Automaten, der ohne menschliches Dazutun 68 lateinische Buchstaben kritzeln konnte, einzig und allein gesteuert von einer Trommel. Es war eine Puppe, die nach einer Beschreibung aus jener Zeit, an einem kleinen Pult saß und eine Feder in ein Tintenfass tauchte. Sie schüttelte dann die überflüssige Tinte ab und schrieb „alles, was man ihr vorsagt, nieder“, berichtete der IBM–Wissenschaftler Karl Ganzhorn (1921–2014) in seinem mit Wolfgang Walter verfassten Büchlein „Die geschichtliche Entwicklung der Datenverarbeitung“, erschienen 1975, also zu einem Zeitpunkt, als sich die Welt – in der Zeitgenung dieses Gedankenexperiments - auf das 21. Jahrhundert vorzubereiten begann.

Bei ihrer Premiere zu Ehren des österreichischen Kaiser Franz I. twitterte die „alles oder selbstschreibende Wundermaschine“ eine Mitteilung in französischer Sprache. Und Chronisten berichten, so Ganzhorn, dass „halb Europa kam, um diese wundersamen Apparate zu bestaunen“.[2] Es war natürlich das feudale Europa, das da kam, nicht das proletarische. Es kam die Herrschaft. Sie kam auf eigenen Wunsch. Noch konnte der Automat nicht befehlen. Noch war er sich selbst genug. Auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. So wie ein Buch sich seines Inhalts nicht bewusst ist, so weiß auch ein Automat über sich selbst nichts. Aber er kann sich selbst lesen – ohne sich zu verstehen. Ein Genie ohne Genie.

Im Anfang ist immer das Wort, die Schrift, der Befehlssatz, die Steuerung, die Software, diese „immaterielle Ware“, wie es – ebenfalls 1975 – in einem Büchlein namens „1000 Fachworte Datenverarbeitung“ heißt. Noch war diese Software in der Anfangszeit der Automaten fest verdrahtet, doch bald sollte sie sich – über Lochkarten und Lochstreifen, über Magnetbandspulen und Festplattenspuren – virtualisieren. Diese „immaterielle Ware“, diese Software, ist heute das teuerste und kostbarste Wirtschaftsgut der Welt, ohne dass wir auch nur annähernd ahnen, wieviel Geld wir schon weltweit darin investiert haben. Längst steuert sie unsere Welt bis in den Weltraum hinein. Tag für Tag. Rund um die Uhr. Pausenlos. Atemlos. Seelenlos. Gewissenlos. Aber keineswegs fehlerlos – mit durchaus tödlichen Folgen, wie wir niht erst seit dem Absturz der Boeing 737 Max wissen.

„Technik kann verstanden werden als die Gesamtheit der Hilfsmittel über die der Mensch bei seiner planvoll geleisteten Daseinsvorsorge verfügt“, definierte 1984  in ehrwürdig gedrechselter, akademisch wohllautender Hochsprache der Soziologe Friedrich Fürstenberg (1930-2023), Universität Bochum. „Damit bleibt sie aber auch stets an das Tun des Menschen gebunden, denn sie ist und bleibt von den Zielen abhängig, die er sich setzt.“[3] Wir stehen vor dem Phänomen, dass dies für Software dem Geist aller Technik nicht unbedingt gilt. Ihr sind wir egal. Sie ist uns irgendwie unheimlich. Fragte sich 2001 der Kunsthistoriker Norbert Borrmann (1953–2016): „Was für ein Fachmann würde z.B. noch die komplexe Hard- und Software eines Computers erklären können?“ Schließlich nennt er die Kybernetik, deren zentraler Bestandteil Software ist, „eine Überwissenschaft“, die über allem thront und sich selbst spielt.[4] Ja, die Kybernetik hat etwas Außermenschliches an sich ein Begriff aus der Welt des Jahrhundertökonomen Friedrich von Hayek (1899–1992), der damit die Gesetze des Marktes meinte, der aber auch die Sprache ins Außermenschliche verlagerte.

In der Welt der Software geschieht alles von allein, sie wirkt selbst wie ein handelndes Subjekt: „Der PC telefoniert, macht Musik und empfängt Filme. Gleichzeitig berechnet er die Steuererklärung, erledigt Bankgeschäfte und bucht den Urlaub“, schrieb 1996 der Fachverband Informationstechnik von VDMA und ZVEI (heute vereint im Bitkom) in einem kraftstrotzenden Positionspapier zum Thema „Wege in die Informationsgesellschaft“.[5] Dann träumte sich der Verband von einer „drahtgebundenen Infrastruktur“ in eine „satellitengestützte Infrastruktur“, also in das nächste Big Thing, das gewaltige Kapitalinvestitionen erfordern würde, aber auch hohe Renditen bringen sollte. Satelliten seien „die Knoten der geplanten drahtlosen Netze für die mobile Sprach- und Datenkommunikation. Am Ende soll jeder Teilnehmer mit seinem Handy unter einer persönlichen Rufnummer überall auf der Erde erreichbar sein“, schrieb 1995 der 'Spiegel'.[6] Dahinter stand ein großer Plan.

Der Markt entschied anders. Er folgte nicht einer himmlischen, sondern einer irdischen Idee. Stattdessen funkten nämlich die handlichen Smartphones und die ländlichen Mobilnetze. Über sie hatte die Telekom-Szene bereits seit 1969 gesprochen, als der amerikanische Telefonriese AT&T die erste Lizenz erwarb. „Smart phones emerge“, titelte 1983 die amerikanische Fachzeitschrift ‚Datamation‘.[7] Völlig überraschend war diese Neuerung also keineswegs.[8] Diese Netze mit der Lizenz zum Gelddrucken sollten sich gleichsam selbst bauen. So entstand ein weltumspannender Automat mit der Cloud als Hauptbahnhof, auf dem sich alles trifft, was Nullen und Einsen hat.

Schon 1981 hatte das britische Wirtschaftsmagazin 'The Economist' geschrieben: „Die Unterscheidung zwischen der Fernmeldetechnik und dem Computer ist nun technologischer Unsinn.“[9] Das war zu einem Zeitpunkt, als überall in der westlichen Welt die ersten Feldversuche mit zellularen Fernmeldenetzen gestartet wurden. Die neuesten Wunderwerke der Software. Mehr als eine Generation später, 2017, sollte sie der 'Economist' „softwaredefinierte Netze“ nennen, Netze, die komplett virtualisiert seien.[10] 

Das war ein ganz anderes, ein eher terrestrisches  Konzept, das da die Erde über den Satelliten-Himmel triumphieren lassen sollte. Statt sich ins Weltall zu katapultieren, würden die Funksignale unterwegs im Abstand von ein bis zwei Meilen von Antenne zu Antenne, von Zelle zu Zelle hüpfen. Automatisch, geschaltet in einer zwanzigstel Sekunde. „Ein weltweites Gerangel um die Einführung dieser zellularen Funksysteme bahnt sich an“, schrieb die Londoner 'Financial Times' 1982. Denn Anbieter aller Couleur wollten hier mitmischen. Dieses Geschäft sollte auf keinen  Fall allein den Telekoms überlassen werden. Schon sei eine zweite Generation im Gespräch, die Anfang der neunziger Jahre in Betrieb gehen würde, hieß es: Das System wird „digitale Technologie benutzen und Daten gleichermaßen handhaben wie Sprache“, schwärmte 1982 die 'Financial Times' von einem Netz, das in Europa von Skandinavien bis Süditalien reichen würde.[11]

Software eroberte den Luftraum.

Denn eins war klar: Ob Sprache oder Daten – ohne die Vermittlung durch Software würde dieses Netz nie funktionieren. Egal, ob national, international oder global. Vor der Software sind alle gleich. Und was die Satellitentechnik anbelangt, die verlockte schon in den siebziger Jahren zu Träumereien. Mächtige Computersysteme, suprageleitete, tiefstgekühlte Software– und Datengehirne, würden als künstliche Gestirne an den Himmel geheftet und uns als Cloud dienen. Eine Idee, die übrigens immer noch herumgeistert. Die Steuerung des Menschen aus dem Weltall – zumindest seiner Systeme.

Software ist Macht. Mehr und mehr.

Software ist der Geist in der Maschine, sie herrscht in Automaten, sie steuert Netze. Sie alle können heute ohne Software nicht mehr sein. Sie werden eins. Ohne uns. Denn sie reden auch ohne uns miteinander. Mehr und mehr.

Was aber ist Macht, was ist Software?

„Soziale Prozesse im Sinne eigener Zielsetzungen zu beeinflussen, gleichgültig, auf welchen Bereich sich diese Möglichkeit erstreckt und in welchem Maße sie vorhanden ist“, das ist Macht, definierte 1967 der deutsche Marktsoziologe Hans Albert (*1921), Universität Mannheim.[12] Das klingt banal, war es aber nie, wie wir wissen. In der Gestalt von Software bekommt Macht eine verführerische Fernwirkung, die tief in unseren ganz profanen Alltag hineinwirkt – mit Zielsetzungen, die plötzlich ihr Eigenleben entwickeln. Es fängt zumeist ganz harmlos und im Vollbesitz der Vernunftkräfte an – und endet zum Beispiel in einem handfesten, milliardenteuren Dieselskandal, für den keiner verantwortlich zeichnen will. Warum auch? Der VW läuft und läuft und läuft. Ganz automatisch. Allein darauf kommt es an. Das Fehlverhalten von einigen Managern und Mitarbeitern hat damit nichts zu tun. „Das Wunder von VW“, nannte dies 2018 voll bissiger Ironie die 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung'.[13]


Zum Tage

1994: »Kein Richter ‑ und kein Gesetzgeber, Regulierer oder Wirtschaftler ‑ kann die Zukunft in einer Branche vorhersehen, die sich so schnell wandelt wie die Telekommunikation. Das ist der Grund, warum Wettbewerb und nicht Offizielle und Büro­kraten diese Evolution bestimmen sollten.«

Gary S. Becker (1930-2014), Wirtschaftsnobelpreisträger

 

Freitag, 12. Juli 2024

Zum Tage

 1634: „Fünfzigtausend deutsche Meilen liegt im tiefen Äther die Insel Leviana“

 Johannes Kepler (^1571-1630), deztscher Sternenforscher, in seinem postum veröffentlichten Raumfahrtroman „Der Mondtraum“

Donnerstag, 11. Juli 2024

Zum Tage

1916: „Die Erde ist die Wiege des Menschen, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben.“

Konstantin Ziolkowsky (1857-1935), russischer Weltraumvisionär

 

Mittwoch, 10. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 59) - (Der Staat sind wir)

Künstler Klaus Staeck
1859: »Wenn die ganze Menschheit eine übereinstimmende Meinung verträte und nur eine Person wäre vom Gegenteil überzeugt, so hätte die Menschheit nicht das Recht, den einen zum Schweigen zu bringen.«

John Stuart Mill (1806–1873), britischer Philosoph in seinem Essay ‚On Liberty'

 

Schund und Schwund

Von Raimund Vollmer

 

Der deutsche Künstler Jochen Gerz (*1940) schien diese Tendenz zu mehr Schein als Sein schon lange zu erahnen, als er 1996 meinte, dass wir „seit ein paar Jahren der Professionalisierung von Ratlosigkeit“ ausgesetzt seien. „Wenn wir fortfahren, dem Charme der eigenen Ratlosigkeit zu erliegen, wird uns die Gesellschaft, die Industrie, die Politik, Herr Kohl, langsam Stück für Stück den Teppich der eigenen Zuständigkeit unter den Füßen wegziehen“.[1] Wir machen uns selbst bedeutungslos. Wir verschwinden in eine von uns selbst geschaffene Umgebung. Wir werden Teil jener Objekte, die uns umlagern und deren Zahl sich, „parallel zur Entwicklung der industriellen und technischen Zivilisation, ständig vergrößert. Wir sind von Myriaden verschiedenster erfundener Objekte umgeben, von denen wir selbst nicht viel wissen. Sie sind uns präsent wie eine Milchstraße“, schreibt Gerz. „Ich habe das Gefühl, als würden die Objekte, die so zahlreich geworden sind, tendenziell anfangen wieder zu verschwinden.“ Die Objekte seien weder sicht- noch spürbar, aber das würde nicht bedeuten, „dass sie aufhören zu funktionieren.“ Amazon beweist es uns tagtäglich. Die Objekte sind wie das Corona-Virus. Wir sahen es nicht. Wir spürten es nicht. Aber es funktionierte. Das einzige, was wir täglich sahen, war die Zahl der Inzidenzfälle, bi wir auch diese nicht mehr wahrnahmen. Sie verschwinden in ihrereigenen Zahl.

Und so experimentierte der Autor dieser Zeilen im Januar 2021 mit folgender Frage: Laufen wir nicht genau auf eine Wirtschaft zu, die ebenso unsichtbar ist wie eine Gesellschaft, deren physische Existenz wir nur noch spüren, wenn es an unserer Haustür klingelt – und dann ist es nur der Paketdienst.

Wir führten ein untotes Leben. Die Techniken der Telekommunikation verschafften uns eine mediale Nähe ohne physische Nähe. Das Virus verdonnerte uns dazu, uns in uns selbst zu verkriechen. Um uns herum gab es so gut wie niemanden mehr. Wir lebten allein auf der Milchstraße, der Isolierstation im Weltall. Da war nichts mehr in unserer Nähe, das ein „personales Bewusstsein“ (Emrich) besaß. Nur noch die Kälte des Geldraums. Natürlich weckte dies den Wunsch nach Rebellion. Nach Gegenwehr. Wir wollten unsere Ohnmacht besiegen. Alles wirkte dumpf und sinnlos. In einem unbewussten Reflex bäumten wir uns auf – oder resignierten auf voller Breite. „Ich schirme mich von so viel wie möglich ab, auch von dieser Flut von Emails und dem Informationsmüll im Internet“, meinte 2003 der berühmte polnische Sciencefiction–Autor Stanislaw Lem (1921–2006). Das war lange Zeit vor Corona. Lem isolierte sich vollkommen: „Ich brauche meine Ruhe, warum soll ich mich diesem Wahnsinn aussetzen?“[1]

Und diesem Wahnsinn entkamen wir nur durch Wahnsinn.

Im Spätherbst 2020 wurde deutlich, dass der Aufwand, um zum einen die Ausbreitung des Virus einzudämmen und zum anderen eine Rebellion der Menschen zu verhindern, von Tag zu Tag stieg. Beide bedingten sich. Immer mehr Verordnungen, immer mehr Verwirrung, immer mehr Wahnsinn. Prompt steigerte sich die Politik in die Sphäre der Großinszenierung, in ein unkontrollierbares Wettrüsten, in einen ebenso mörderischen wie krankhaften und kollektiven Wettkampf um den Impfstoff.

Was gefordert war, war eigentlich das, was der Literaturkritiker Emrich eben dieses „personale Bewusstsein“ genannt hatte. Aber es gab nur ein ziemlich schales, professionelles Bewusstsein. Und das war das der  Ratlosigkeit. Ein Gegengewicht hätte von den Künsten kommen können, die uns einen Spiegel vorsetzten, „in dem die Menschheit ihren Abstand von der Freiheit zu erkennen vermag, ihrer eigenen Entmenschung bewusst wird“, meinte Emrich lange vor der Pandemie. Doch der Blick in den Spiegel zeigt uns in völliger Unfreiheit: mit Maske, Mundschutzmaske, Bildschirmmaske. Wir waren nur noch virtuell reell. Verlorene Kinder der Milchstraße, umgeben vom Nichts. Mit Freiheit hatte das nichts zu tun. Mit den Künsten erst recht nichts. Die waren versorgt. Mehr schlecht als recht. In einem ebenso arroganten wie zynischen Gestus. Die Künste verdursteten in medial zelebrierter Mildtätigkeit. Almosen auf Berechtigungsschein, der von sturen Betriebswirten ausgestellt wurde.

Während die Politik der Pandemie davon sprach, wie sie den Kulturschaffenden, denen jegliche Erwerbschance genommen worden war, helfen konnte, verdrängte sie vollends die Erkenntnis in den Hintergrund, dass nicht die Kunst die Hilfe benötigt, sondern wir die Hilfe der Kunst. „Auf 28 Milliarden Euro bezifferte die Bundesregierung den zu erwartenden Verlust in der Kulturbranche in Deutschland – Ende März 2020“, erinnerten ein knappes Jahr und zwei Lockdowns später, Ende Januar 2021, der Filmkomponist Matthias Hornschuh (*1968) und die Schriftstellerin Nina George (*1973) in der ‚FAZ‘ an die erwarteten wirtschaftlichen Verluste. Die beiden Autoren sind institutionell eingebunden, der eine sprach als Aufsichtsrat beim Musikverwerter GEMA, die andere als Präsidentin des European Writers‘ Council.[2] Wie hoch tatsächlich die Ausfälle wurden, ist offensichtlich nicht genau zu beziffern. Die Rechenknechte hatten wohl noch nicht einmal mehr Lust,  wenigstens eine Schätzung abzugeben – und da Softwareentwicklung da miteinegerchnet worden war, sind die Zahlen ohnenhin nicht aussagefähig. (Wenn es sie gibt, bitte melden)

Immerhin sind in Deutschland 1,8 Millionen Menschen in der sogenannten „Kultur- und Kreativwirtschaft“ (was für ein Wort!!!) beschäftigt – doppelt so viel wie in der Autiomobilindustrie. Diese erwirtschaftete zuletzt mehr als 560  Milliarden Euro Umsatz, die Kreativen und Kulturschaffenden müssen sich mit 175 Milliarden begnügen. Wobei die Zukunft trotz überstandener Pandemie ungewisser denn je ist. Dabei werden hier die Jobs geschaffen, die sich die Automobilindustrie „outsourcen“ lässt.

Hornschuh und George rechneten 2021 dem Staat all die rechtlichen Versäumnisse vor, die er begangen hatte, um die Ansprüche von Künstlern durchsetzbar zu machen. Auch wenn sich der Begriff nicht mehr im Internet recherchieren lässt, so verwundert es einen dennoch nicht, wenn die Autoren das Bundeswirtschaftsministerium zitieren, dass die Kulturschaffenden als „Lebenskünstler“ bezeichnete, ja belächelt hat. Eine echte Herabsetzung von Menschen, die das Kostbarste geben, was wir haben: ihre Kreativität und Persönlichkeit.

Schon die Charakterisierung „Soloselbständige“, den das Ministerium im Rahmen seiner coronalen Hilfsmaßnahmen auf seiner Website anführte, hat etwas Despektierliches, Herabsetzendes, weiter das Individuum Zersetzendes an sich. Entweder man ist selbstständig oder nichtselbständig – wie die Angestellten und Beamten. Das sind die Kategorien. Oder gibt es den Solonichtselbständigen?

Nein, die Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes, seien es nun Angestellte oder Beamte, sind bestens organisiert und wissen ihre Ansprüche sehr wohl durchzusetzen – im Unterschied zu den Kulturschaffenden, den „Soloselbständigen“, die einem Prozess der „Selbstaushungerung“ ausgesetzt sind, um einen Begriff des österreichischen Dramaturgen Hermann Beil (*1941) zu verwenden. Er schrieb zu Beginn des Jahrtausends: „Max Frisch stellte einmal die spielerische Frage, welche Folgen es wohl habe, wenn plötzlich, nach den Theaterferien, das Stadttheater nicht mehr aufmachen würde, sondern geschlossen und nur noch von Tauben umflattertes totes Haus bliebe?“[3] Eine absurde Vorstellung damals, ist heute Realität, auch wenn es nur für kurze Zeit sein wird. Die Kultur befindet sich auf dem Punkt der Grundversorgung. Und auch nach der Aufhebung des Lockdowns wird man feststellen, dass die Kultur keine wirkliche Lobby hat – schon gar nicht dann, wenn sie etwas wirklich Neues schafft und nicht nur widergibt.

Im Kampf um die Gelder wird sie immer das Nachsehen haben. Das Geld wird allenfalls in Renommierbauten investiert. „Jeder Punkt hinter dem Komma, den die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes in den laufenden Tarifverhandlungen für sich herausschlagen, entfernt die Subventionsabhängigen weiter von jeder Hoffnung auf Rettung“, schrieb im Jahr 2000 der Journalist Bertold Seewald (*1957) in der ‚Welt‘. [4]

Die ganze Erbärmlichkeit, mit der jenseits der medialen Prominenz diejenigen behandelt werden, deren Produkte nicht dem Handel und der im Wettbewerb entstehenden Preisfindung ausgesetzt sind, wird wohl nur wohl dann sichtbar, wenn die Wenigen, die unter Aufbringung größter Opfer doch noch den Durschbruch schaffen und deren bestandenes Elend dann medial ausgeschlachtet wird. Die Systeme kommerzialisieren noch die Not derer, die dieser oft nur durch Anpassung entrinnen können. Wir nehmen derweil unsere eigene geistige Verwahrlosung gar nicht mehr wahr. Das ist nicht erst seit Corona so. Kunst, die ihren Preis dadurch steigert, dass sie preistreibend weitergereicht wird, verändert mit jeder Veräußerung ihren Charakter. Sie ist nur noch Ware. Kunst ist nicht mehr Kunst.

Die großen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts hatten in ihren Figuren nicht den „Zerfall der Person“ beschrieben, schrieb einmal der Literaturkritiker und Kafka-Kenner Wilhelm Emrich (1909-1998), sondern den der „allgemeinen, kollektiven Phänomene“. Nichts wäre gerade jetzt wichtiger, als genau dies in künstlerischer Verarbeitung zu sehen. Stattdessen stehen die sogenannten „Querdenker“ auf der Straße, ihrer Bühne, und präsentieren uns ihren Protest aus  „einerseits wahnhafte(m), andererseits infantile(m) Gebaren“, wie es die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi im Januar 2021 in der Sonntagsausgabe der ‚FAZ‘ formulierte.[5] Die Querdenker sind keine Querdenker. Sie sind falsche Querdenker.

Die eigentliche Kunst hat nichts mehr zu melden. Abgeschafft! Keine Theater, keine Darbietungen, wenn überhaupt nur als elektronisches Rinnsal. Kunst aber ist „ein Wunder oder, um es prosaischer zu sagen, ein wunderbarer Ausnahmefall“, hat einmal der Düsseldorfer Kunsthistoriker Werner Schmalenbach (1920–2010) gesagt.[6] Und dieses Wunder fehlt. Ohne Ausnahme. Alles ist seicht, angepasst,  bloße Mache, bloße Masse, reine Masche. Alles ist Mainstream. Und dieser Mainstream existiert vor allem für sich selbst. Er ist die Milchstraße, an der wir hausen und verkümmern. In Schund und Masse. Aber wir merken es in dieser intellektuellen Gleichförmigkeit noch nicht einmal mehr.

Gleichzeitig  sieht sich der Mensch isoliert. Was entsteht ist „die Fragmentierung der Gesellschaft“, meint Rahel Jaeggi. „Die Fragmentierung ist eine Ursache von Entsolidarisierung. Und die Ursachen dafür gehen natürlich weit hinter die Pandemie zurück“. Aber nicht nur die Gesellschaft wird fragmentiert, sondern auch der Mensch selbst. Sein Zuhause ist immer weniger sein Zuhause, je mehr er zuhause ist. Sein Zuhause ist sein Luftschutzkeller, sein Bunker, sein Kerker. Er verkümmert. Damit fällt etwas ganz Entscheidendes weg. Emrich: „Personales Bewusstsein heißt nichts anderes, als dass der Mensch angstlos souverän den Mächten begegnet, die in ihm und außerhalb von ihm die menschliche Wirklichkeit bestimmen."[7] Es herrscht Angst. Vor allem. Meint der Psychologe Kühnen: „Wird unser Weltbild infrage gestellt, reagieren die gleichen Hirnareale wie bei einer massiven physischen Bedrohung.“ Wir wollen fliehen, aber es gibt außerhalb von uns nichts mehr, in was wir fliehen können. So ziehen wir uns in uns selbst zurück. Im Grunde genommen erlebten wir in dieser Pandemie gerade beides: eine physische und eine psychische Bedrohung. Und diese Bedrohung präsentierte sich auch noch in einem weltweiten Maßstab.

Es gab keine Möglichkeit der Flucht.

Kein Wunder, dass dann Verschwörungstheorien entstehen – aus dem Verdacht einer überwältigenden Komplexität und Fremdbestimmung heraus. Es sind irrationale Vorstellungen, die sich in nichts spiegeln oder messen lassen, die ungeklärt in uns toben und sich verselbständigen. „Personales Bewusstsein ist eine äußerste Leistung des Menschen“, sagt Emrich. Und dann zitiert er den Schriftsteller Franz Kafka (1883–1924), der mit seinen Werken ganz besonders für dieses „personale Bewusstsein“ stand: „Jeder Mensch ist das unzerstörbare Gesetz, und gleichzeitig ist es allen gemeinsam, daher die beispiellos untrennbare Verbindung aller Menschen.“ Auf die kommt es an. Auf uns. Nicht auf Bestimmungen.

Die große Journalistin Gräfin Dönhoff hat Recht mit ihrer lapidaren Aussage. „Entscheidend ist das Verhalten jedes einzelnen.“[8] In der Gemeinschaft, in der „Verbindung aller Menschen“, die gerade durch die Kultur auf mannigfaltige, überwältigende Weise hergestellt wird. Diese Verbindung wurde nicht erst durch Corona durchbrochen, sie wurde allerdings durch diese Trennung endgültig spürbar. Und es ist die große Frage, ob wir daraus irgendeine Konsequenz ziehen werden. Vielleicht ist es noch zu früh für eine Antwort.

Wir sind uns nicht mehr gemeinsames Gesetz. Die Konkordanz zwischen Politik und Bevölkerung, für kurze Zeit so eng wie schon lange nicht mehr, schwindet. Wenn sich dann wie im Schadens- und Betrugsfall „Wirecard“ herausstellt, dass es zuvor zu kuschelig zuging zwischen den aktiven Parteien, den Systemen, wächst das Misstrauen, dann steigert es den Argwohn und fördert den alles Vertrauen vernichtenden Verdacht, dass vielleicht zu viel Harmonie zwischen Staat, Großwirtschaft, Großwissenschaft und leider auch den Großmedien bei der Bewältigung der Pandemie herrschte. Der Mainstream lebte aus sich selbst heraus, hatte mit unserem Leben, mit unseren Empfindungen so gut wie nichts mehr zu tun – außer der Forderung nach Totalanpassung. Nun erodiert die stillschweigende Zustimmung der passiven zur aktiven Öffentlichkeit. Es wird ungemütlich, auch wenn es nicht zu einer Rebellion kommen mag – sondern nur zu einer reaktionären Stimmung am rechten und linken Rand.

Der Soziologe Zygmunt Bauman (1925–2017) meinte 1993, dass die „Schwierigkeit mit dem Totalitarismus“ darin bestünde, „dass man nicht genau wisse, zu welchem Zeitpunkt man beginnen müsse aufzuschreien.“ [9]  Wer aber soll aufschreien – die passive oder die aktive Öffentlichkeit? Letztere tut es inzwischen, aber sie kühlt nur ihr Mütchen, sie geht nicht in die Verantwortung. Politik und Medien fallen zugleich unerbittlich über die „Querdenker“ her, anstatt zuerst einmal die Fehler bei sich selbst suchen, gleichsam ihr eigenes „personales Bewusstsein“ zu überprüfen. Sie haben wohl selbst keins.

Kurzum: Die Basics stimmen nicht mehr.

Dies gilt umso mehr, je stärker die Initiativen gar nicht vom Parlament, sondern von der Exekutive ausgehen. In der Selbstreflexion ist jede Bürokratie, jede Großorganisation schwach, denn sie neigt dazu, ihre Meinung nur schon deshalb für Wahrheit zu halten, weil sie in ihren eigenen Kreisen von vielen – opportunistisch - geteilt wird. Man macht sich selbst etwas vor.

Die Selbstbezüglichkeit ist das Maß aller Dinge. Und damit rückt der Staat an den Rand des Wahnsinns, in die „Professionalisierung der Ratlosigkeit“ (Gerz), die uns täglich die Medien – ohne es selbst und auch sich selbst darin zu erkennen – vorführen.

Vor unseren Augen vollzieht sich zugleich eine völlige Umkehrung. Gestern noch musste und wollte der Staat alle äußeren Grenzen aufheben, nun kann er wieder guten Gewissens protektionistisch sein wie lange nicht mehr. Jedes Mittel ist ihm recht. Wir sind fassungslos, sollten es zumuindest sein, sind er wahrscheinlich auch, haben es nur noch nicht erkannt oder wollen es nicht akzeptieren.

Wir sahen in der Pandemie eine sehr, sehr seltsame Welt, die das gernaue Gegenteil von dem war, was wir seit Gründung der Bundesrepublik aufgebaut haben – auch im Widerspruch zur gleichaltrigen DDR. Zeitweilig waren durch Corona die Grenzen geschlossen, was jederzeit wieder geschehen kann. Die Flüge ins Ausland – zurechtgestutzt. Und der Wirtschaft, die die Öffnung dereinst weltweit durchgesetzt hatte, kann der Staat jetzt sogar per Verordnung die Werkstore schließen – und uns, den Bürgern, den Mund.

Der Staat, der durch die Globalisierung lange Zeit seine äußeren Grenzen schwinden sah und sie im Namen der Pandemie plötzlich wieder schließen konnte, wendet sich nun in fast schon imperialem Stil an uns, in uns, zu uns. Es hebt die Grenzen nach innen auf. In einem schleichenden Prozess. Ja, der Staat schleicht sich an uns heran, zersetzt uns. Am Ende dieses Prozesses werden die Systeme nur noch Zombies sein. Ohne Bewusstsein. KO durch KI, deren Einführung durch den geistigen Tötungsprozess der Pandemie bestens vorbereitet wurde.

Ist das Zufall? Wenn ja, dann hat es zumindest Methode.