Samstag, 3. Februar 2024

Zum Tage

 

„Einst soll keine Natur mehr sein. In eine Geisterwelt soll sie allmählich übergehen.“

Novalis alias Georg Philip Friedrich von Hardenberg (1772–1801), deutscher Schriftsteller und Philosoph

Freitag, 2. Februar 2024

Donnerstag, 1. Februar 2024

Zum Tage

 

„Immer noch scheint in Deutschland im Streit der Meinungen nichts  so schwer zu sein, wie ein echtes Verständnis  für die Situation und die Argumente des politischen Gegners. Immer wieder gibt es Rückfällein eine Demagogie, die nach den bösen Erfahrungen nach 1933 eigentlich verpönt sein sollten.“

Die Tageszeitung ‚Die Welt‘ im Februar 1948

Mittwoch, 31. Januar 2024

Zum Tage

 

»Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen. Ein Sessel ist eine Maschine zum Sitzen.«

Le Corbousier (1887–1965), französischer Architekt

Dienstag, 30. Januar 2024

Zum Tage

 

1911: »In der Vergangenheit kam zuerst der Mensch. In Zukunft kommt zuerst das System.«

Frederick Taylor (18561915), Erfinder des modernen Managements und der Arbeitsteilung

 

Montag, 29. Januar 2024

Zum Tage

 2017: »Und die Medien, auch die Algorithmen von Silicon Valley, sind Angstmacher, weil sie den Einzelmenschen ohnmächtig lassen.«

Alexander Kluge (*1932), deutscher Filmemacher, Drehbuchautor, Philosoph und Rechtsanwalt[1]

 



[1] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17. September 2017, Kolja Reichert: "Künstler sind Pilotfischchen"

Sonntag, 28. Januar 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 5)

 Goethe und der Maschinenmensch

Von Raimund Vollmer

Es war in jener revolutionären Epoche, in der die Menschen sich aus ihrer Unmündigkeit zu befreien suchten und der Aufklärung zum Triumph verhelfen wollten, als ein junger Mann namens Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) ansetzte, das bedeutendste Werk deutscher Sprache zu erschaffen: den „Faust“. „Von vorne herein klar“, war ihm schon 1772 all das, was er an Stoff einbringen wollte, nur nicht die Reihenfolge, bemerkt der Meister selbst sechs Jahrzehnte später, am 17. März 1832 in einem Brief an Wilhelm von Humboldt, den preußischen Gelehrten und Staatsmann. „Der junge Goethe ist sich selbst voraus“, urteilt der Sprachwissenschaftler Albrecht Weber in seinem Buch „Wege zu Goethes Faust“.  Und so wie er seinem Werk voraus war, sollte dieses Werk seiner Zeit weit voraus sein – einer Zeit, die er selbst schon als sehr umtriebig empfand. Es sei „merkwürdig zu sehen, wie in unserer Zeit nichts, auch nur für einen Augenblick, an seiner Stelle bleiben kann und alles sich, wo nicht verbessert doch immer verändert“, schrieb er staunend 1797 in einem Brief. Das Zeitalter der permanenten Transformation hatte begonnen, eine „Zeit, die nichts reif werden lässt“, ahnt er, weiß er, was auf uns zukommt.Er sieht tief in unsere Zukunft hinein – in eine Zukunft, der wir im Grunde genommen seit 250 Jahren hinterher laufen. So sehr wir auch rennen, wir können diese Zukunft weder einholen noch ihr vorauseilen. „Goethe ist unser Zeitgenosse“, schreibt die Wochenzeitung ‚Die Zeit‘ aus Seite 1 ihrer Ausgabe vom 19. August 1999.

2006: »Google Dir einen Goethe runter«

Überschrift in der Tageszeitung „Die Welt“ am 2. September 2006

Wir setzen nur noch die Träume unserer Ahnen um, als hätten sie uns programmiert.

Wir, die wir doppelt und dreimal so lang leben wie die Menschen vor 250 Jahre, wir, deren Neugeborene die Chance haben, 150 Jahre zu leben, wir, die wir alle Zeit der Welt haben und nur noch halb so lang arbeiten wie die Menschen vor der industriellen Revolution, wir haben keine Zeit zum Träumen mehr, keine Zeit, um Werke zu schaffen, die über unsere eigene Lebenszeit hinaus gehen und wirken. Wir bauen keine Kathedralen des Geistes und des Glaubens mehr. Wir geben Gas. Wir wollen Spaß. Das Quartal ist unser Zeithorizont. Da packen wir alles hinein. Von früh bis spät. Rund um die Uhr. Rund um den Globus. Unsere Kosten, unsere Gewinne, unser Wachstum, unsere Steuern. Und wir schieben das alles hin und her, wie wir es gerade brauchen. Auf Knopfdruck bewegen wir Millionen, Milliarden, Billionen. Tag für Tag. In Nanosekunden.

Alles ist heute dem unmittelbaren Nutzen und der schnellen Verwertung unterworfen. Das ist der Oberbefehl einer Wirtschaftsordnung, die eigentlich selbst schon längst für unnütz erklärt worden ist. Der italienische Philosoph Georgia Agamben (*1942) folgert: „Deshalb führt die Ökonomie entweder nirgendwohin oder, wie die Geschichte der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts und die derzeit herrschende Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums zeigen, zur Zerstörung des Lebens, dessen sie sich angenommen hat.“

– 1797: „... und mit Geisteskraft tu' ich Wunder auch.“

Johann Wolfgang von Goethe, in: „Der Zauberlehrling“

 

Der französische Publizist Jean–Jacques Servan–Schreiber (1924–2006) meinte 1970 weitaus optimistischer: „Es hat Jahrtausende gedauert, den Menschen von den Unbillen der Natur zu befreien; den Menschen von der Wirtschaft zu befreien; das wird die Aufgabe einer Generation sein, der unsrigen.“ Ganz einfach „Menschen zu sein“, hatte sich Goethe am 12. März 1828 im Gespräch mit Eckermann für das 20. Jahrhundert gewünscht. Vielleicht schaffen wir es im 21. Jahrhundert.

Sonderlich angestrengt haben wir uns dabei bislang nicht. Die Wirtschaft dominiert alles – eine Erkenntnis, die ein Denker wie Karl Marx (1818–1883) voll akzeptierte und bis heute unbestritten zu sein scheint. Die Abhängigkeit von der Ökonomie ist sogar eher gestiegen. Nach wie vor gilt also der Satz des 1922 ermordeten deutschen Außenministers Walther Rathenau: „Die Wirtschaft ist unser Schicksal.“ Die Zeit, die es braucht, um sich aus diesem Schicksal zu befreien, wird auf jeden Fall länger dauern als eine Generation, länger als zwei oder gar drei Generationen. Vielleicht gelingt die Erlösung noch in diesem Jahrhundert, vielleicht auch niemals.

Mitten in der Finanzkrise 2009 erinnerte der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (1942-2023) an den Superökonomen Joseph Schumpeter. Dieser habe gesagt:  „Der Kapitalismus sei auf ein gelingendes soziales Leben angewiesen, das er nicht nebenbei aus dem Ärmel schütteln könne“. Schumpeter habe vor der „Zersetzung der schützenden Schichten und Institutionen“ durch den Kapitalismus gewarnt. „Die Rationalisierung des gesamten Lebens führe zu einer Art unausgesprochener Kostenrechnung auch im Privatleben und ziehe dadurch zwei verhängnisvolle Entwicklungen nach sich: den Aufstieg des Konsumenten und den Abstieg der Familie.“ Die Folgen wären – wie wir bis heute spüren – fatal. Wir werden zu Objekten einer total durchkalkulierten und algorithmisierten Wirtschaft, die uns als Subjekt gar nicht mehr wahrnimmt. Wir gehen auf in Big Social Data. 

»Hätte Goethe einen Facebook-Account?«

Überschrift in der FAZ, 2. März 2011

 „Eine ziemlich lange Rumpelstrecke“ läge vor uns, meinte 2008 der Zukunftsdenker Meinhard Miegel, um sofort hinzuzufügen: „Die dann folgende historische Phase könnte jedoch spannender, lohnender und menschenwürdiger werden als diejenige, die die Menschheit in den zurückliegenden 150 Jahren durchlebt hat. Voraussetzung hierfür ist aber, dass wir unsere Sicht– und Verhaltensweisen ändern. Wir müssen uns von unseren derzeitigen ökonomischen Prägungen lösen und anderen Dingen mehr Raum geben. Die vielen Facetten unserer Kultur müssen wieder in ein ausgeglicheneres Verhältnis zueinander gebracht werden.“ Auf jeden Fall müssen wir Geduld haben und die Entwicklung über lange Zeiträume beobachten. Wie Goethe.

Oder wie der große britische Nationalökonom John Maynard Keynes (1883–1946), der – so wurde es in seinem Todesjahr festgehalten – einmal meinte:  „Der Tag ist nicht mehr fern, an dem das ökonomische Problem auf die hinteren Ränge verbannt werden wird, dort, wohin es gehört. Dann werden Herz und Kopf sich wieder mit unseren wirklichen Problemen befassen können – den Fragen nach dem Leben und den menschlichen Beziehungen, nach der Schöpfung, nach unserem Verhalten und nach der Religion.«

Wird also mehr und mehr wahr, was Keynes vorausahnte? Hinter uns stünde dann eine vollautomatische Wirtschaftswelt, die auch ohne uns auskäme, ohne unser Eingreifen. Es wäre ein Welt, die voll und ganz auf dem technologischen Wandel basiert, der letztlich im großen Finale nur dazu dient – uns zu dienen, damit wir endlich frei sein können. Das ist die große, endgültige Utopie, die seit der Industriellen Revolution immer wieder in unterschiedlichster Form beschrieben wird. Sie verheißt den Himmel auf Erden, die letzte Hoffnung. Vielleicht sogar mit dem Ausblick auf ewiges Leben. Auf Erden.

Ist es das wirklich das, was wir uns wünschen?

Halleluja, sag i.

Bis es soweit wäre, werden wir den technologischen Fortschritt immer wieder als „erdbebenartigen Wandel“ erleben und empfinden. Er erscheint uns schon jetzt so gewaltig, dass wir ihn in seiner Bedeutung gar nicht mehr erfassen. Die Wahrheiten, nach denen Forschung und Wissenschaft streben, seien längst „zu kurzlebig geworden, als dass sie diesen Namen noch verdienten“, meinte 1996 Lorraine Daston, renommierte amerikanische Wissen­schafts­histo­ri­ke­rin am Max-Planck-Institut in Berlin. „Das erste Geschäft der Wissenschaft ist nicht die Wahrheit, sondern die Widerlegung von Irrtümern“, konstatierte 1992 der Historiker und Englandforscher Kurt Kluxen.

»Wäre Goethe heute Sozialdemokrat?«

Überschrift in der Welt, 9. Juni 1999

 

Wird es in einer Welt ohne Wahrheiten und voller Irrtümer wenigstens noch die Dichtung geben? „Goethe“ – so schreibt 1988 der Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski (*1945) – „will in seiner Person noch einmal zusammenhalten und verbinden, was die mächtigen Tendenzen des Zeitalters auseinanderreißen: analytischen Verstand und schöpferische Phantasie, abstrakten Begriff und sinnliche Anschauung, künstliches Experiment und gelebte Erfahrung, mathematisches Kalkül und Intuition.“ Und irgendwie findet sich das alles wieder in seinem „Faust“. 1806 schrieb Goethe über den überall spürbaren Aufschwung von Wissenschaft und Technik: „Nirgends wollte man zugeben, dass Wissenschaft und Poesie vereinbar seien. Man vergaß, dass sich Wissenschaft aus Poesie entwickelt habe, man bedachte nicht, dass nach einem Umschwung der Zeiten beide sich wieder freundlich, zu beiderseitigem Vorteil, auf höherer Stelle, gar wohl wieder begegnen könnten.“

Der Autor von „Dichtung und Wahrheit“, dieser Johann Wolfgang von Goethe, nahm sich zumindest jede Menge Zeit für sein Hauptwerk. Als sei „sein ganzes Leben eine einzige Vorbereitung auf dieses Werk“ gewesen, würdigt ihn der „Economist“, der in seinem wöchentlichen Angebot wie wohl kein anderes Wirtschaftsmagazin ständig changiert zwischen analytischen Verstand und schöpferischer Phantasie.Goethe würde das Blatt abonnieren, so, wie der Meister einer der ersten Leser des Buches „The Wealth of Nations“ von Adam Smith war. Goethe war an allem interessiert. 

60 Jahre brauchte der Dichter, bis er die zweiteilige Tragödie des Fausts vollendet hatte – von der er wohl selbst nicht wusste, was sie vor allem in ihrem zweiten Teil wirklich war. War es „ein Mysterienspiel, Kultur–Digest, vielleicht auch nur ein Jux, den sich Goethe mit dem Abendland machen wollte“, wie es 1966 der linksliberale Journalist Erich Kuby im Magazin 'Der Spiegel' meinte?War es gar „die Bibel der Deutschen“, wie es Heinrich Heine formulierte? Für den Schriftsteller und Nobelpreisträger Thomas Mann war es auf jeden Fall „unser größtes Gedicht“.

– 2014: »In Genie hat Goethe achtzehn Punkte«

Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Oktober 2014

 

Der erste Teil war 1829, drei Jahre vor seinem Tod in Braunschweig uraufgeführt worden. Der zweite Teil, der nach seinem Willen erst posthum veröffentlicht werden durfte,  kam 1852–1854 auf die Bühne – und das auch nur abschnittsweise.

In diesem Theaterstück lässt Goethe eine Zeit an sich vorüberziehen, in der der Westen begann, alles  neu zu erfinden – bis hin zu einer ganz anderen Wirtschaftsordnung. „Was das Denken unserer Zeit bestimmt, ist damals entstanden“, befand 2004 der deutsche Theaterregisseur Claus Peymann, als die 'Frankfurter Allgemeine' ihre Leser an die Uraufführung erinnerte. So reißt auch die Regisseurin Christina Paulhofer ihren Goethe vom Sockel und stellt ihn despektierlich in unsere Zeit: „Johann-Wolfgang, wir lieben Dich und wollen Dich als Türsteher und Bodyguard unserer Faust-II-Party“. Von dort aus ist es nicht mehr weit bis zu der 2013 veröffentlichten Filmkomödie „Fack ju Göhte“.

Der Germanist Gerhard Kaiser schreibt: „Im gleichen Zeitraum, in dem Goethe die Faust–Konzeption entwickelte und verwirklichte, wurde die Dampfmaschine von James Watt funktionstüchtig – ein Symboldatum für den beginnenden Großverbrauch der Kohle, versteinerter Urwälder, die sich in geschichtlicher Zeit nicht regenerieren. Der Verschleiß der Ressourcen beginnt.“ Faust ist ein „Fortschritts–Phantast“, vor allem im zweiten Teil dieses Dramas scheint der Dichter alles vorwegzunehmen, was bislang an Umwälzungen in diesen „ersten“ 250 Jahren des dritten Jahrtausends auf uns zukam. (Der Autor dieser Zeilen vertritt die These, dass das dritte Jahrtausend bereits um 1750 herum entstand.) Vier Jahre vor der Lehmann–Pleite und der Finanzkrise erinnert der Regisseur Matthias Günther an die unglaublichen seherischen Fähigkeiten des Dichters: „Wertpapiere, die sich mitunter autonom von der übrigen Wirtschaft entwickeln (Kaiserliche Pfalz), Gentechnologie und Stammzellenforschung (Laboratorium), der Bildungstourismus (Walpurgisnacht)...“  

1970: »Pessimisten sehen bereits die Zeit kommen, in der alle Menschen mehr oder weniger an einem riesigen System hängen, das ihre Lebensfunktionen erst ermöglicht.«

Die Zeitschrift Hobby, „Unser Zeitgenosse von morgen – Der künstliche Mensch“

 

„I do what I do, what I do, what I do, what I do“, lässt die amerikanische Schriftstellerin Gertrude Stein (1974-1946) ihren Dr. Faustus in ihrem Theaterstück erklingen, in dem der große Gelehrte sogar das Licht erfindet. „Dr. Faustus lights the light“, heißt das Stück, das als Libretto geplant, aber bis 2016 nie als Oper aufgeführt wurde. Es endet als Nonsense-Spektakel. Was soll man denn heute auch noch dem „Faust“ hinzufügen? Hier ist alles gesagt.

Goethes Ahnungen weisen weit über die zu seinen Lebzeiten anbrechende und die Dominanz der Agrarwirtschaft ablösende Industrialisierung hinaus. Der primäre und der sekundäre Sektor füllen sich. Der Dichter dachte sich offenbar bis in unsere Zeit hinein, wenn Gerhard Kaiser 1994 den „Faust“ so interpretiert:: „Gen– und Atomingenieure, Informatiker und Umwelttechniker verheißen die tertiäre Superkultur, die ökologisch mit dem sekundären System aufräumt, das die alte Erde überzogen hat.“ Aber wir streben ja längst schon weiter – in ein quartäres System, in dem alles der Null und der Eins unterworfen ist, alles funktioniert – ohne uns. Als Version 4.0 wurde es abgedroschen und schon wieder vergessen. In Wirklichkeit war es ein mageres Stück billigen Fortschritts, das der Zukunft hoffnungslos hinterherlief. Und der KI wird es nicht anders gehen. Wie schon so in den letzten 250 Jahren verwechseln wir Fortschritt mit Zukunft. 

21. Oktober 1765:  »Meldet mir, was für ein Leben Ihr lebt!«

Johann–Wolfgang Goethe, deutscher Dichter, an seinen Freund Johann Jakob Riese

 

Wir Menschen sind schon viel weiter. Wir wissen es nur nicht, aber wir ahnen vielleicht (und hoffentlich), dass dies nicht das letzte Wort ist. Manchmal könnte man meinen, dass die alten Mächte in Staat, Wirtschaft und Religion vor diesem Wechsel eine Heidenangst haben. Was wir erleben, sind Nachhutgefechte.

Die Agrarwirtschaft, den Primärsektor, haben wir weit hinter uns gelassen – so weit, dass unsere Politik ihn schon vergessen hat. Noch protestieren die Bauern. Die Industrie, der Sekundärsektor, entfernt sich ebenfalls von uns und ist dabei, seine Aufgaben den Robotern und deren Steuerungen zu übereignen – und den staatlichen Subventionen. Selbst die tertiäre Subkultur, die Dienstleistungen und die Bürokratie, haben ihren Höhepunkt überschritten. Sie sehen schon ihrem Wärmetod entgegen.

Eine vierte Epoche bricht an – eine, die vielleicht all das verschlingt, was vor 250 Jahren begann, eine Epoche, die möglicherweise sogar uns, die Menschen, schluckt. Friedrich Hölderlin (1770–1843) hatte bereits über uns, seine Landsleute, im „Hyperion“ geurteilt: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herren und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen – ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und Glieder zerstückelt untereinander liegen, indessen das vergossene Lebensblut im Sande zerrinnt?“ Aus Sand gewinnen wir das Silizium, das Rohmaterial der Digitalisierung, in das wir unser ganzes funktionales Wissen hineinstopfen.

„Lesen, Lernen, Lifestyle“ – unter dieser Überschrift verkündete 2005 das Goethe-Institut das Ziel, seine Bücher abzuschaffen. Alles wird digitalisiert. Nicht nur der Lifestyle. Warum nicht auch das Leben an sich? Wann kommt der neue Mensch?

2005: »Wenn Goethe Pop ist, dann ist Schiller Rock.«

Matthias Schweighöfer,  deutscher Schauspieler

 
 

Im „Faust II“ erweckt der Famulus Wagner „nach den erhaltenen Rezepten des Paracelsus“ ein „chemisches Menschlein“, den Homunculus, zum Leben, der nach Meinung des Schriftstellers Norbert Bormann, für Goethe „eine Art dämonischer Übermensch“ darstellt. Bormann berichtet in seinem 2001 erschienenen Buch „Frankenstein“, dass im 18. Jahrhundert, also vor 250 Jahren, „ein erster Boom künstlicher Menschen“ in der Literatur erscheint, nachdem dieses Thema seit Homer, seit der Antike, immer schon die Dichter bewegt hat. Vielleicht lag das Thema so in der Luft wie die Erfindung der Dampfmaschine in jener Zeit.

Damals, 1777, schreibt Goethe eine – wie er es nannte – „dramatische Grille“, in der sich ein Prinz in eine für ihn lebendige Puppe verliebt. „Der Triumph der Empfindsamkeit“, heißt das Stück, das 1778 uraufgeführt wurde. Ein Jahr später veröffentlicht der Schriftsteller Jean Paul den Aufsatz „Der Maschinenmann nebst seinen Eigenschaften“. In diesem Essay prophezeit er, dass der „Mensch auf eine viel höhere Stufe der Maschinenhaftigkeit“ rücken werde. „Statt der fünf Sinne“ habe der Mensch „fünf Maschinen“, alles ist künstlich, der gesamte Mensch. „Er behielte nicht einmal sein Ich, sondern ließe sich eines von Materialisten schnitzen“. Am Ende stünde über allem „ein guter Kopf“, der „die Erde übersähe“, ein Wesen, das umso „vollkommener ist, je mehr es mit Maschinen wirkt und je mehr es Arme, Beine, Kunst, Gedächtnis, Verstand außer seinem Ich liegend sieht und alles das nicht mit sich zu schleppen braucht“. Alles ist da. Die Roboter. Die Computer. Das Internet. Die Agrarwirtschaft ist überwunden, die Industrie, die Bürokratie – das Paradies scheint angebrochen. Doch in Wahrheit ist es eher die Hölle. Denn die Menschen hätten nur noch ihre Ängste, wären apathisch und willenlos: „Nichts sein und alles können“, wäre unser Schicksal.  Über allem stünde der Maschinenmann.

Auf die selbstgestellte Frage, was denn dessen Name sei, antwortet Jean–Paul: „das achtzehnte Jahrhundert oder der Genius des 18. Jahrhunderts.“

In der Tat – dieser „Genius des 18. Jahrhunderts“ steuerte sich in dieses Jahrtausend hinein, in eine Epoche, die sich selbst denkt, selbst lenkt. Vollautomatisch. Voll traumatisch.

Es ist dieses Jahrtausend, an dessen Ende der letzte Rest dessen erfunden sein wird, was sich unsere Ahnen erträumt haben – und in dem wir uns selbst eine völlig neue Rolle zugewiesen haben werden müssen, wenn wir nicht untergehen wollen. Wird dann deswegen nichts mehr erfunden, weil es uns gar nicht mehr gibt? Schaffen wir uns selbst ab? Scheitern wir ohne dass uns – wie Faust – Erlösung gewährt wird? Bei Jean Paul gibt es diese Erlösung nicht mehr. Denn der Leser seines Essays ist – wie er am Schluss offenbart   – „der – – Maschinenmann selbst“.

Noch sind wir da, aus Fleisch und Blut. Beseelt von uns selbst. Aber die Maschinen sind längst bei uns eingefallen. Sie sind bei uns zuhause. Irgendwann, vermutlich sogar in den nächsten hundert Jahren, werden sie unsere Doppelgänger sein, ganz so wie sie 1916 der deutsche Schriftsteller Hermann Kasack (1896-1966) vorhergesehen  hat – noch als „mechanische Doppelgänger“, nicht als elektronische. Eines dieser Wesen wird dann uns folgendes, ganz persönliches Angebot machen:  »Wie angenehm wird es für Sie sein, wenn Sie sich erst einen mechanischen Doppelgänger von sich halten – oder besser, wenn Sie gleich zwei Exemplare von sich zur Verfügung haben. Sie könnten gleichzeitig verschiedene Dienstreisen unternehmen, an mehreren Tagungen teilnehmen, überall gesehen werden und selber obendrein ruhig zu Hause sitzen. Sie haben einen Stellvertreter Ihres Ich, der Ihre Geschäfte wahrscheinlich besser erledigt als Sie selbst. Sie werden das Doppelte verdienen und können Ihre eigene Person vor vielen Überflüssigkeiten des Lebens bewahren.«

Am Ende werden wir selbst überflüssig. Die Welt ohne uns.

»Überhaupt hat der Fortschritt das an sich, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist.«

Johann Nestroy (18011862), österreichischer Dramatiker