Donnerstag, 29. Februar 2024

Montag, 26. Februar 2024

Demokratie (7)


 

Zum Tage

 

1934: »Gentlemen, machen Sie keinen Fehler! Die Börse ist eine perfekte Institution.«

Richard Whitney, Präsident des New York Stock Exchange, gegenüber dem amerikanischen Senat, der die Börsenaufsicht Securities Exchange Commission (SEC) einführen wollte. 1938 wurde Whitney wegen des Diebstahls von Wertpapieren seiner Kunden eingekerkert.

Sonntag, 25. Februar 2024

Demokratie (6)

 


Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 9)

„Lesen ist Denken mit fremdem Gehirn.“

Jorge Luis Borges (1899-1986), argentinischer Schriftsteller

 

 In diktatorischer Vertikalität

 Von Raimund Vollmer 

 

Je tiefer ich mich, in mich selbst versenke, desto tiefer spüre ich, dass Geschichte biographische Erfahrung ist.“

Amos Oz (1939-2018), israelischer Schriftsteller

 

Es ist Freitag, 5. Dezember 2031. Überall in der christlichen Welt ist Nikolausabend.

Ich sitze in meinem Keller und spreche aus der Zukunft. Jedenfalls ist das so, wenn das, was möglich ist, auch wirklich wird.

Ich bin bald 80 Jahre alt und – so sagt die Medizin – technisch noch okay. Wie gesagt – wir sind im Jahr 2031. Für Euch Zukunft, für mich Gegenwart. Aber das ist eigentlich egal. Es kommt auf den gemeinsamen Augenblick an. Jetzt.

Würde ich nicht mehr leben, wäre ich jetzt im Himmel. Das hoffe ich zumindest. Ich wäre allerdings sehr überrascht, wenn es kein Leben nach dem Tod geben würde. Wenigstens das, lieber Nikolaus!

Dieser Mann ist ein Phänomen. Er ist seine eigene, globale Lieferkette. Sensationell, was der in einer Nacht schafft! Ohne Manager. Ohne digitale Transformation. Ohne irgendjemanden zu vergessen. Und das seit Jahrhunderten. Ohne Computer. Ohne Big Data. Ohne irgendwelche definierten Prozesse. Er hat nur ein Ziel vor Augen: unsere Stiefel. Und so begleitet er mich schon Jahr für Jahr mein ganzes Leben lang. In einem ewigen Kulturprozess.

Damals, als er noch selbst Geschichte schrieb, also vor siebzehnhundert Jahren, herrschte die Pest. Daran starben seine Eltern. Er nahm das ererbte Geld und sorgte damit für die Armen.

Niklaus ist ein guter Mann. Ich aber bin ein armer Mann.

Mein Keller ist leer. Die Regale sind ausgeräumt. Nirgendwo funkelt und munkelt noch ein Papierfitzel. Das, was ich als Print behalten wollte, ist in Kisten verpackt. 250 Regalmeter sind verschwunden.Nur Bücher sind geblieben - und die vielen Zeitschriften, die ich so gerne gesammelt habe.

 ***

Keine andere unserer Schöpfungen stand für Würde so sehr wie das Buch. Hier traf Seele auf Seele und vereinte sich mit ihr. „Das Buch ist ein Bauwerk menschlicher Würde“, schrieb 2014 der Medienkünstler und Erfinder Jaron Lanier (*1960) in seinem Buch „Wenn Träume erwachsen werden“. Software ist es nicht.

Das Buch wird abgeschafft. Es ist kein Bauwerk mehr. Es ist nur noch Teil des neuronalen Geschnatters. Seine Tugenden werden missbraucht.

In einem Buch existiert alles, was in ihm steht, gleichzeitig. Es ist das vollkommene Jetztwerk. Alles in ihm ist „starrende Ruhe“, ist vollendet, ist ein zeitloser Raum. So nahmen wir es seit Jahrhunderten wahr – dann aber, wenn wir es in die Hand nehmen und darin lesen, erwacht es zum Leben – wird Teil unseres Lebens.

Ohne uns aber ist sein In-Halt, in dieser Totalität für uns vollkommen nutzlos. Es existiert für sich als ein klinisch totes Objekt. Dem aber – würde Schopenhauer sagen – fehlt ohne uns das Subjekt, das Lesende und damit Erkennende. Wir geben dem Buch den Sinn. Wir sind es, die die Seele zum Klingen bringen. Das schafft kein Algorithmus. Es sei denn, er gehört uns allein. Wie ein Buch. Aber er gehört nicht uns. Er schielt – wie der Spiegel in dem Märchen Schneewittchen – immer nach dem anderen, dem noch Schöneren, Besseren.

Alles im Buch ist Reihenfolge. Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für Zeile, Seite für Seite – alles gerät beim Lesen in „rastlose Flucht“, in eine  unendliche Abfolge von Abbildern. Alles ist nacheinander. Alles fügt sich in unsere persönliche Zeit – zu unserem ureigenen Abenteuer. Wir spiegeln seine Inhalte in uns – als unsere Bilder, Gedanken, Vorstellungen, Träume.

Das Buch triggert unser Gehirn, unsere Seele, unser Bewusstsein. Das Buch ist vor uns und in uns. Unsere Augen eilen rastlos von Zeile zu Zeile. Wir lesen. Waagerecht. Das Buch selbst aber halten wir aufrecht in der Hand.

So spricht es zu uns. Senkrecht.

Wir aber sind nur noch „Blätterer“, wir lesen allenfalls „selektiv“, meint Peter Sloterdijk (*1947), der Karlsruher Meisterphilosoph, der 1995 damit begonnen hatte, eine auf 20 Bände ausgelegte Burchreihe unter dem Titel „Philosophie jetzt!“ herauszugeben. Philosophie ist wie alle andere Lektüre ein Jetzt, wie wir es wollen, nicht das Buch, das uns an der Nase durch die Zeilen seiner Weisheit eilen lassen möchte. Das war einmal.

„Mir sind alle Bücher zu lang.“

Voltaire (1694-1878),  französicher Philosoph und Schriftsteller

„Diktatorische Vertikalität“, nannte dies einmal krachend der Philosoph Walter Benjamin. (1892-1940). Das Buch, das uns diktiert und inspiriert, aber nichts davon weiß. Ein Objekt, hinter dem aber immer ein Subjekt steht. Als Urheber. Als Autor. Italo Calvino (1923-1985), dieser feingeistige italienische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, meinte in dem 1991 postum auf Deutsch erschienenen Buch „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“, dass unsere Gedanken und geistigen Bilder beim Lesen sich in einem imaginären Raum bewegen, während wir von Buchstabe zu Buchstabe, von Wort zu Wort, von Zeile zu Zeile weitereilen. Er schreibt: „Die vielgestaltigen Visionen der Augen und der Seele finden sich eingefasst in gleichförmige Reihen von kleinen und großen Buchstaben, Punkten, Kommata, Gedankenstrichen. Seiten voller aneinandergereihten Zeichen, dicht an dicht wie Sandkörner, repräsentieren das farbige Schauspiel der Welt auf einer Fläche, die immer gleich und immer verschieden ist, wie die vom Wind durch die Wüste getriebenen Dünen.“

Ja, das war die gute, alte Welt der Bücher, in der wir es waren, die das, was wir lasen, zum Leben erweckten. Unsere Augen folgten dem Wind, den Buchstaben, den Zeilen, einer Richtung, die „einer unendlichen horizontal laufenden Linie zu vergleichen“ ist, sagt Schopenhauer. Sie ähnelt, meint der Philosoph, „dem gewaltigen Sturm, der ohne Anfang und Ziel dahinfährt, alles beugt, bewegt, mit sich fortreißt“. Es ist die Linie, die für ihn vor allem die der Wissenschaft und des Fortschritts war.  Für andere war es der Roman, die Erinnerung, die Lyrik.

Da scheint es der Software nicht unähnlich. Nur – Software kennt kein Ende, ist ewige Transformation.

Diese Waagerechte, der wir im Buch nacheilen, wird indes – beliebig oft – durchkreuzt von einer Senkrechten, einem Sonnenstrahl, der – so schreibt Schopenhauer – „den Weg dieses Sturms durchschneidet, von ihm ganz unbewegt.“ Dieser Sonnenstrahl ist die Kunst, das Geniale, die Imagination, die Überraschung, das Unerwartete. Es sind die Abbilder der Abbilder, die sich in uns reflektieren und aufsteigen. So erst wird aus dem „Gewühl“ der Zeichen ein Buch, ein Werk, eine Schöpfung. In uns. Für uns. Für Dich und mich. Für andere Menschen.

Das war die heile Welt des Buches. „Der ‚Geist‘ ist die Sphäre der Bilder, Begriffe und Ideen, der Sprache und des Denkens", schrieb 1984 Sherry Turkle (*1948), die sich bereits vor vierzig Jahren mit dem Entstehen einer Computerkultur befasste. Es ist eben die Welt des Buches.

„Dichtung ist nicht Ausdruck der Persönlichkeit, sondern eine Art Befreiung von der Persönlichkeit.“

T.S. Eliot (1888-1965),  amerikanischer Literaturnobelpreisträger

Das ist nun vorbei. Dank Software, der neuesten Schrift, die ihre Geheimnisse für sich behält. Heimtückisch. Das Buch besetzt vielleicht unsere Gedanken, Software aber besitzt sie. Frau Turkle zitiert in ihrem Buch einen Wissenschaftler am MIT namens Mark. Er sagt: „Zu keinem Zeitpunkt funktioniert irgendein Teil des Gehirns in einer Weise, die sich nicht in digitaler oder analoger Logik nachbilden ließe.“

Die Software kopiert uns. Das Objekt wird nun selbst zum Subjekt, und das Erkennende wird zum Erkannten. Nicht wir lesen, sondern wir werden gelesen. Von unserem Smartphone, von unseren Bildschirmen, dieser neuen, dieser digitalen, „diktatorischen Vertikalität“, die alles durchdringt. Wir sind nur noch „starrende Ruhe“. „Always on“, ohnmächtig der rastlosen Datensucht ausgesetzt.

Wir sind für die Software ein offenes Buch.

Wir sitzen nur noch reglos da und stieren auf die Mattscheibe. „Mit Schichten von Bildersplittern regelrecht zugeschüttet wie eine Müllgrube“, ahnte Italo Calvino, seien wir unfähig, „unter den vielen Formen noch eine einzelne zu unterscheiden“. In der Tat sind wir es, die mehr und mehr dem Genie und der Vorstellungskraft der Algorithmen unterworfen werden. Wir ertrinken im Überfluss.

Die Cookies sind unter uns und über uns. Bald haben sie uns ausgelesen. Wir sind nur noch Archiv. Ab in den Keller. In die Tiefe. In die Dunkelheit. Da gehören wir hin.

1990: „Die Finsternis kann uns etwas lehren, wenn wir in sie hineingehen, in die Tiefen unserer Psyche, ihrer Widersprüche und Schuldgefühle.“

Gaston Salvatore (1941-2015), chilenischer Schriftsteller

 

Archive sind voller Finsternis, Widersprüche, Schuldgefühle. Wie unser Gehirn. Glauben Sie mir! Hier steigt die Zukunft auf – die des Menschen.

Fortsetzung folgt oder auch nicht.