Samstag, 16. März 2024

Zum Tage

 1980: »Wer über künstliche Intelligenz verfügt, kann der Welt seinen Willen aufzwingen.«

Michael Dertouzos (19362001), Wissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology

Freitag, 15. März 2024

Zum Tage

 

1975: »Freiheit erzeugt immer Ungleichheit. Und materielle Gleichheit kann nur unter Verlust von Freiheit erreicht werden.«

Friedrich von Hayek (18991992), österreichischer Nobelpreisträger

Donnerstag, 14. März 2024

Zum Tage

 2019: »Google gehört die Welt. Ihr seid alle Sklaven«

Leserkommentar in der Washington Post am 20. März 2019


Mittwoch, 13. März 2024

Zum Tage

 „Politik stinkt mich an."

1963: Arno Schmidt (1914-1979), deutscher Schriftsteller

Dienstag, 12. März 2024

Zum Tage

 

2016: »Ich verspüre sehr viel Zorn gegen Ökonomen, weil ich nicht auf ein wirtschaftlich handelndes Individuum reduziert werden will, das für Geld arbeitet.«

Michel Houellebecq (*1956), französischer Schriftsteller


Montag, 11. März 2024

Zum Tage

 

1930: »Insofern die Gesellschaft Natur ist, drängt sie wie alle lebendigen Naturgebilde nach Selbstkorrektur ihrer Schäden.«

Siegfried Kracauer  (1889–1966), deutscher Soziologe, in seiner Studie 'Die Angestellten


Sonntag, 10. März 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 11)

 

1797: „Man kann wohl mit Gewissheit sagen, dass die Welt noch nie so bunt aussah wie jetzt. Sie ist eine ungeheure Mannigfaltigkeit von Widersprüchen und Kontrasten. Altes und Neues! Kultur und Rohheit. Bosheit und Leidenschaft!... Knechtschaft und Despotism! Unvernünftige Klugheit, unkluge Vernunft!“

Friedrich Hölderlin (1770-1843), deutscher Dichter, in einem Brief

 Die demente Demokratie

 Von Raimund Vollmer 

 

Während das „Christentum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Verantwortungsräume der politisch Handelnden klar und scharf nebeneinander stellt“, wie 2005 der Politologe und frühere bayerische Kultusminister Hans Maier (*1931) bemerkte, werden diese drei Kategorien nun systematisch zu einer Rechenformel, zu einem Algorithmus vermengt.

„Instant economics“ nannte dies im Oktober 2021 das britische Wirtschaftsmagazin ‚The Economist‘ – und sah bei allen Chancen als „größte Gefahr“ eine mögliche Hybris, eine Selbstüberschätzung. Es warnte eindringlich vor jeglicher „Form von digitaler Zentralplanung“, also vor etwas, wie es die autokratische Regierung Chinas anstrebt.„Es kann und darf keine einzige greifbare Instanz geben, die sämtliche gesellschaftlichen oder gar menschlichen Vorgänge (…) zugleich steuert“, schrieb 1957 der katholische Theologe Karl Rahner (1904-1984).

Das wäre gottgleich. Aber genau darauf zielt das, was wir hier einmal die  „chinesische Revolution“ nennen möchten. Sie ist so etwas wie die Fortsetzung, nein, wie die Aufhebung der Französischen Revolution.

„Gäbe es ein Volk von Göttern, so würde es sich demokratisch regieren. Eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht“, schrieb vor 250 Jahren der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) in seinem „Contrat sociale“. Aber eine solche Regierung passt genau in das Konzept, das China nun in die Welt hineinträgt. Die Partei spielt Gott, gute hundert Jahre nach ihrer Gründung 1921 – ein Volk mit inzwischen fast 100 Millionen Mitgliedern. Aber entscheiden werden immer nur ganz wenige. Die Götter.

Diese Einparteiendemokratie wird sich über die individuellen Rechte, die wir den Monarchen und Autokraten dereinst im Gefolge der Französischen Revolution abgetrotzt haben, einfach hinwegsetzen. Sie ist Gott, der hinter dem prächtigen Schreibtisch thront“, wie es 1975 der ägyptische Schriftsteller und Nobelpreisträger Nagib Machfus (1911-2006) in seinem Roman „Ehrenwerter Herr“ über die Bürokratie formulierte. Da gibt es bereits den Tugendkatalog, wie ihn China bis in den digitalen Exzess hinein installieren will. Und da ist die Angst davor, entbehrlich zu sein, dass auch alles ohne die Bürokraten „wie gewohnt weitergehen würde“, ersetzt durch eine andere Bürokratie, die des künftigen digitalen Gottes, der zu uns in wundersamen Algorithmen herabsteigt. So klammert sich in China die Parteibürokratie an ihren Gottstatus – und ihr Chef Xi lässt sich gleich auf Lebenszeit zu Gott erklären, der sich dereinst zu einem himmlischen Frieden mit Gottvater Mao und dem Heiligen Geist von Den-Xiaoping vereinen wird.

Mit ihrem Verlangen nach absoluter Macht erwischt sie die westlichen Demokratien in einer äußerst kritischen Phase. Dank Corona. Zum ersten Mal in der Geschichte unserer 75 Jahre jungen Demokratie stehen die Sphären der einzelnen Bürger mit denen der Gemeinschaft in einem großen, letztlich unlösbaren Konflikt. Wir oder ich. Umwelt oder Freiheit. Geimpft oder Ungeimpft. Aber dann kam die AfD und einte die Demokratie. Jedenfalls machen die Demontrationen zu Jahresbeginn 2024 diesen Eindruck.

Es zeichnet eine Demokratie aus, dass sie genau solche Konflikte aushält – so unerträglich sie manchem erscheinen mögen.

In dieser Situation konnte sich China mit seinem Ein-Parteien-System, dem alles beherrschenden Wir, eine Zeitlang als eine attraktive Alternative zum westlichen Demokratie-Modell in der Welt positionieren – weit über die Länder hinaus, die von Peking abhängig sind, meint der ‚Economist‘. Abhängig ist doch schon die ganze Welt.  China zeigte sogar Bereitschaft, der zweigrößte Sponsor der Vereinten Nation zu werden. Und die Diplomaten ahnen längst, dass „chinesische Politik“ bald „UN-Politik“ werden soll. Die Chinesen fädelten ihre Politik sehr geschickt ein: sie besetzten die unattraktiven, unauffälligen Jobs dort – und versuchten, von dort aus ihr Netzwerk zu spinnen.

Wollen wir das hinnehmen? Jetzt – und damit für alle absehbare Zukunft? Damit wäre dann wohl unser Modell zu Ende.

Es sei ein Nullsummenspiel, sagt das britische Wirtschaftsmagazin. Einerseits brauche China nach wie vor unser Knowhow, um fürderhin zu wachsen. Andererseits sähen wir in dem Aufstieg dieses Landes aber auch unseren eigenen Abstieg. Da würden sich einige schon fragen, „warum sie helfen sollten. Liberale Demokratien sind in Schwierigkeiten. Während sie erwägen, wie sie mit einem derart durchsetzungsfähigen China umgehen sollen“, sollten sie daran denken, dass sie „eine Stimme haben“ – und zwar jetzt. 

Denn morgen kann es schon zu spät sein. Aber sind wir uns dessen bewusst? Was ist in diesem Zusammenhang überhaupt Bewusstsein?

„Das Bewusstsein (…) ist ein Strom subjektiver Erfahrungen, die wir Moment für Moment erleben. Es ist das Realste, was es gibt“, sagt Yuval Harari (*1976), israelischer Historiker. „Es ist das einzige auf der Welt, über das es keinen Zweifel gibt.“ Unser Bewusstsein.

Doch unser Bewusstsein bekommt Konkurrenz. Künstliche Konkurrenz. Künstliche Intelligenz. Mächtige Konkurrenz. Sie ist in den Händen von Autokratien ein verführerisches, gottgleiches Instrument, das aber auch – auf lange Sicht – selbst die Regierung übernehmen könnte. 

Die Künstliche Intelligenz – so möchte man Hararis Satz abwandeln – ist ein Strom objektiver Erfahrungen, die sich Moment für Moment programmieren. Sie ist das Virtuellste, was es gibt. Sie ist das einzige auf der Welt, das keinen Zweifel kennt – und über kurz oder lang auch ohne uns auskommt. Für immer. Aber ohne Bewusstsein. Automat statt Büromat.

Dieser Automat, dieser verführerische Autokrat, meint es nur gut mit uns. Er nimmt uns das Jetzt ab. Deswegen brauchen wir keine Demokratie mehr, wie wir sie seit der Französischen Revolution kennen.

So denkt offenbar die chinesische Regierung.

Da sie ja die Bevölkerung permanent befragt und auch berät, habe sie allein von der Input-Seite her schon die absolute Legitimität. Denn was der Datenstrom, der Jetztstream erfasst, kann keine Demokratie mit ihren umständlichen Stimmrechten erbringen. Und Wahlergebnisse sind ohnehin nur Momentaufnahmen. Da die kommunistische Partei Chinas zudem eine erfolgreiche Politik betreibe, habe sie auch die Output-Legitimität. Es ist ein fulminantes Konzept, das allerdings nur solange funktioniert, solange der Output stimmt – und nicht nur die PR.

Beim Output aber scheint es momentan zu hapern. Unzufriedenheit mit der wirttschafgtlichen Situation ist das, was die Machthaber in Peking am meisten zu fürchten haben. Das wissen sie seit 1989. Schon deswegen setzen sie auf die digitale Diktatur.

An die Stellen der bewussten Entscheidungen, die das alte demokratische Konzept des Westens verlangt, tritt der permanente Datenstrom. „Extensive, whole-process socialist democracy“, zitiert etwas steif Qin Gang, Chinas Botschafter in Washington, diese Philosophie, die seit März 2021 so etwas wie Verfassungsrang besitzt. Wahlen werden da unnötig. Alles wird fortan in einem unendlichen Prozess der informellen Abstimmung zwischen der Bevölkerung und der Partei  konfiguriert und korrigiert. Aus sich selbst heraus, permanent, eingebettet in den von Politik und Wissenschaft aufmerksam gesteuerten Datenstrom. Die Bevölkerung selbst schwimmt darin als somnambule Wesen, handelt in willigen Reflexen, lebt von Jetzt zu Jetzt, das nunmehr andere steuern.

Wie zum Beispiel in der mehr als umstrittenen Minderheitenpolitik Chinas, besonders im Umgang mit den Uiguren. Da geht es - wie 2018 sogar vor der UNO erklärt wurde – um die „Standardisierung menschlichen Verhaltens“, um auf diese Weise eine „gesellschaftliche Stabilität“ zu erreichen. Was die Partei darunter versteht, kann man in den Umerziehungslagern sehen. Da würden „neue Menschen“ geschaffen, heißt es in einem Bericht von Adrian Zenz, Wissenschaftler an der Stiftung  Victims of Communism Memorial Foundation in Washington, in der ‚FAZ‘: „Ein Augenzeuge beschrieb es treffend: Die Internierten hätten merkwürdig leere Gesichter, sie erschienen seelenlos, wie Roboter.“

Wollen wir solche Zustände? Die BASF ist sehr nachdenklich geworden – und VW steht ebenfalls unter Druck.

Noch sind wir wach und bei vollem Bewusstsein. Als Person. Als Generation, als Menschheit, sogar als zukünftige Menschheit. Das hoffen wir jedenfalls. „Es ist höchste Zeit, dass wir dem nicht mehr tatenlos zusehen“, meinte 2019 der deutsche Anthropologe Zenz. Wir sind alarmiert. Wir haben etwas zu verteidigen: unser Bewusstsein. Wir wissen offensichtlich, wie wir es zerstören können, aber nicht wie es entsteht. Wir ahnen nur: Es ist uns Glaube, Hoffnung, Liebe, kurzum: es ist durch und durch menschlich

Wunderbar, aber eigentlich ohne Platz in dieser Welt. Wir verkümmern zu einem kollektiven Unterbewusten. Wir verlieren unsere Identität, unser Ich, dessen stärlsdtes Ausdruckmittel ist die Sprache. Wir sind dabei, sie an die Algorithmen zu verlieren.

Algorithmen werten längst unsere ureigenste, größten und auch rätselhafteste Errungenschaft aus: die Sprache. Mit positivistischer Gewalt: „Die Herkunft der Sprache bleibt auch nach jahrzehntelanger Forschung ein Mysterium“, meinte einmal der Schriftsteller Tom Wolfe. Die Sprache ist wie das Bewusstsein. „Menschen haben die Sprache erschaffen“, mutmaßt Wolfe. Und sie kann, wie der geniale Schriftsteller uns erzählt, auch ohne Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auskommen. Das lehrt uns im brasilianischen Dschungel der Stamm der Pirahas: „Ein primitives Völkchen, das offenbar sehr glücklich ist. Sie reden nie über die Zukunft oder Vergangenheit, nur über die Gegenwart“, erzählt uns der Schriftsteller. 

Wir staunen und verstehen die Botschaft. Eine Sprache, in der es nur noch die Gegenwart gibt, macht uns glücklich. Und Software ist die Sprache der zeitlosen Gegenwart. Sie kennt nur die Befehlsform.

Autokraten werden eine solche Sprache lieben…

Vielleicht werden auch wir bald glücklich sein, wenn sich unser persönliches Bewusstsein völlig dem Jetzt und dem kollektiven Bewusstsein ergibt, dem „Tianxia“, der neuen Staatsphilosophie Chinas. Dann wird unser eigenes Bewusstsein eingebettet in einem gewaltigen, ins Unermessliche anschwellenden Datenstrom, dem Ur-Strom, dem Schicksalsstrom unseres Zeitalters, seines eigenen Zeitalters. Wir selbst sitzen am Ufer, blicken völlig verblödet auf die Strömung oder lassen uns von ihr treiben. Jeder Tag ist fortan ein Nullpunkt. Wir sind dement, das heißt „ohne Geist“. Tolle Aussicht. Die Dementokratie.

„Im Grunde genommen befindet sich die ganze Gesellschaft bis auf ganz wenige Ausnahmen in einer Art von psychologischem Streik gegen die Welt“, urteilte 1994 der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk (*1947) und forderte, dass wir endlich wieder unsere Intelligenz, unsere Phantasie walten und wallen lassen. Aber streiken wir wirklich? Nein, wir sind vielmehr dabei, uns aufzugeben. Auch Sloterdijk ist pessimistisch: „Das ist gesellschaftsweit das beunruhigendste Syndrom: dass keiner mehr ehrgeizig genug ist, bei sich ausloten zu wollen, wie weit das Verstehen reicht. Intelligenz ist das letzte utopische Potential.“

Da kommen einem die Demonstrationen für die Demokratie fast schon wie Ersatzhandlungen vor. Eine Äußerung, der das Innere fehlt. Dasmüssen wir wieder auffüllen. Dann erledigen sich Parteien wie die AfD von allein. Aber das kostet Kraft, das kostet Selbstkritik, das verlangt intellektuelle Anstrengungen. Demonstrationen wirken da wie das Hochamt des Jetzt.

Wie gerne wäre man dabei, wenn diese Demonstrationen nicht so selbstbezüglich wären. Algorithmen für Deutschland – das ist das Feld, auf das der Verfassungsschutz sein Augenmerk richten sollte.

Auf zur Gegenwehr, Gegenangriff, stürmt die Bastille der Algorithmen! Nichts wie raus aus dem narkotischen, komatösen Jetzt. Revolution! Hinein in die letzte „terra incognita, die die Menschheit noch besitzt“, um mit Sloterdijk zu sprechen. Hinein in die „Galaxien des Gehirns“, in „die Milchstraßen der Intelligenz.“

Ach, wenn das nur so einfach wäre, diese neue, große Revolution! Due Revolution gegen uns selbst! Gegen den Stumpfsinn. Gegen die Ödnis. Gegen die große Langeweile. Die hat übrigens Tom Wolfe schon 1988 für das 21. Jahrhundert vorhergesagt. Corona trieb uns vollends dahin.

Wir kämpfen nicht wirklich. Wir taumeln nur von einem Augenblick zum nächsten. Wir leben den Corona-Rausch der Bürokratie innerlich weiter. Vielleicht haben wir uns unbewusst schon daran gewöhn: Geimpft, genesen, gehorchen. Das ist der Befehlsdreisatz, aus dem sich  ganz allmählich der Charakter des Menschen im 21. Jahrhundert bildet – ein in die ganze Welt eingesperrtes Wesen. So will es Tianxia. Alles ist leere Innenwelt. Alles ist jetzt.

Wir sind gegen unseren eigenen Verstand, gegen unser eigenes Ich geimpft.

„Über den nächsten Augenblick hinweg kann nicht gesehen werden, nur gedacht werden“, meinte 1962 – vor sechs Jahrzehnten – der deutsche Philosoph der Hoffnung, Ernst Bloch (1885-1877).Klar, wir denken uns Ziele, nennen uns Zeiten, setzen uns Daten, geben uns Regeln, über deren Verwirklichung wir heute, jetzt, entscheiden. Wir wissen, wenn wir jetzt nicht gehorchen, werden wir nicht überleben. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Das einzige, was zählt: Jetzt. Ohne das gibt es keine Zukunft, keine Hoffnung. Wir klammern uns an den Augenblick.

Das Jetzt ist – um mit dem Jahrhundert-Genie Sigmund Freud zu sprechen – unser Über-Ich geworden, mehr noch: es ist unser Über-Über-Ich. Es steht weit über unserem eigenen, persönlichen Über-Ich. Es radiert es sozusagen aus. Dieses Über-Über-Ich ist jetzt nicht mehr die Kultur, wie sie dem großen Psycho-Meister vor bald 100 Jahren Unbehagen bereitete. Es hat jetzt, technisch gesprochen,  weitaus größere Dimensionen: Es sind nicht nur die Umweltkatastrophe, der totale Klimawandel, es ist die Zerstörung des Individuums. Aber deswegen geht niemand auf die Straße.

"Der Dienst an der Sache kann oft gerade dasjenige fordern, wodurch ich am wenigsten glänzen und leuchten kann.“

Friedrich Schleiermacher (1768-1834), deutscher Theologe und Philosoph