Freitag, 26. Juli 2024

Arche Nova und die Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 64)

Vorbemerkung: Seit etwa zwei Jahren versuche ich das, was ich mir so im Laufe der Jahre so zusammengeschrieben habe, in einer Abfolge von gesprochenen Filmen zu ordnen. Und zwischendurch experimentiere ich innerhalb des Experimentierens mit weiteren Experimenten. Irgendwann hatte ich im vergangenen Jahr die Idee, das mal in ein Bühnenstück umzusetzen. Da Ihr für mich zwar ein anonymes Publikum seid, ihr mir trotzdem irgendwie vertraut seid, habe ich hier mal einen kleinen Ausschnitt zum Besten. Formuliert hatte ich dies, nachdem ich im Juli 2023 bei Facebook hinausgeworfen wurde.

    Ich weiß nicht, was ich habe, was ich gebe,
    und eines empfind ich klar: ich lebe.

    Arno Nagel (1877-1943), litauischer Musikwissenschaftler und Schriftsteller

 

Die Bürokratie - ein Drama

Von Raimund Vollmer

 

Sprecher 1: Alle wollen alles von uns allen. Der Allstaat, die Allwirtschaft, die Allwissenschaft. Und alle haben die besten Absichten. Dennoch herrscht Angst, abgrundtiefe Angst.

Ich zitiere: „Jeder möchte die Werte der offenen Gesellschaft bewahren“, sagt die norwegische Krimi-Schriftstellerin und Politikerin Anne Holt, geboren 1958, „gleichzeitig aber schaut der Staat tiefer in jedermanns Leben – das macht mir eine Scheißangst. Es wird immer schwieriger eine Privatperson zu sein. Das ist die Kontrolle eines Polizeistaates. Und die Menschen sind bereit, es zu akzeptieren, weil sie Angst haben.“

Gesagt hat sie dies im Jahr 2004. Gegenüber der Tageszeitung ‚Die Welt‘. Es war das Jahr, in dem Facebook gegründet wurde. Der Urknall des Metaverse, in dem nichts und niemand mehr privat ist. Der Weltalgorithmus einer neuen Bürokratie, die sich als unser zweites Ich aufspielt und es ersetzt – durch ein Nicht-Ich. Es ist ein Fremdes in sich selbst. Es saugt uns aus - für sich selbst. Facebook genügt sich selbst.

Der Staat kann uns einsperren, Facebook aber kann uns aussperren. Der Staat tut dies im Namen des Gesetzes, hoffentlich, das andere aber, Facebook & Co., tritt neben das Gesetz. Hier herrscht das Hausrecht.

Aber die größte Sperre ist die Lüge.

Sprecher 2: Wir glauben inzwischen jede Lüge, nicht die plumpe, die dreiste. Wir sind den weißen Lügen ausgesetzt, den Lügen, die die wahren Absichten verschweigen. Wir wollen sie nicht wissen. Wir wollen sie nicht hören. Uns werden sie auch nicht erzählt. Wir glauben an das Gute.

Wir haben eine solche Scheißangst vor der Bürokratie, die uns doch eigentlich alle Angst nehmen soll – in ihrer Fürsorglichkeit, in ihrer Sozialstaatlichkeit, in ihrer Rechtsstaatlichkeit – dass wir mit allem einverstanden sind. Ja, wir haben selbst schon damit angefangen, über uns zu wachen. Und wehe, wir tun das nicht!

Sprecher 1: Aber wahrscheinlich ist das Quatsch. Die Bürokratie wünscht sich eine Welt ohne uns, allenfalls noch in der Rolle eines unkritischen Konsumenten. Schon jetzt schwebt sie über uns, folgt sie allein ihren eigenen Gesetzen. Unsere irdischen Bindungen und Bedürfnisse gelten ihr nichts. Nur Formulare und Vorschriften. Sie sind ihre Methode. Sie halten die Welt zusammen. Sie sind ihr alleiniger Gegenstand. 

Bürokrat (Schattenmann): Schluss mit diesem Geschwätz! Wir sind dabei, die Welt in Abermilliarden von Einzelschritten zu zerlegen und in unendliche Lieferketten zu vereinen. In Bits & Bytes. Null und eins. Eins nach dem anderen.

 

     „Bald mehr Bürokraten als Kühe“

    Überschrift am 21. April 1998 in der FAZ

Bürokrat: Die Digitalisierung vollzieht sich mit Hilfe von durch und durch rationalen Verfahren und modernsten Technologien. Man nannte dies bis in die achtziger Jahre hinein Electronic Data Processing, Elektronische Datenverarbeitung (EDV).[2] Nur um Ihnen, meine Damen und Herren, einen Eindruck zu geben, in welchem Tempo sich dies vollzog, habe ich für Sie folgendes Narrativ vorbereitet.

Bildschirm zeigt entsprechende Bilder.

Begonnen hatte es etwa 1950, als Röhren in den Rechnern die Relais ersetzten. Dann ersetzten die Transistoren die Röhren. Schließlich kamen die Integrierten Schaltkreise und schluckten die Transistoren. Ein Wandel, der sich innerhalb eines Jahrzehnts vollzog.

Wie war das möglich? Antwort: Durch uns: durch die Bürokraten. 

Wir, die vielgeschmähte Bürokratie, wir waren es, die allein über diese Technologien verfügten. Gut, Wissenschaftler auch. Aber die zählen nicht wirklich.

Wirklich anders wurde es 1975. Ab da übernahmen die Mikroprozessoren das gesamte Geschäft. Der PC kam. Das Netz. Seitdem müssen wir uns mit Menschen herumschlagen, mit Usern. Das ist alles andere als rationell.

    

    2023: Seit über 20 Jahren bin ich
    jetzt der Sklave von Jeff Bezos.

    Wolfgang Rüger, Antiquar in Frankfurt

 

Ich weiß, solche Wahrheiten darf man heute nicht mehr sagen. Aber es muss doch gesagt werden. Alles andere wäre verlogen.

Abgang

Sprecher 1: Hast du das gehört?

Sprecher 2: Ja, ich war die ganze Zeit stand-by.

Sprecher 1: Ich auch.

Sprecher 2: Was sagt denn unser Zeitzeuge dazu?

Erstes Ich (RV): Bleisatz, ich sage nur Bleisatz. Jeder Satz war Bleisatz, als ich am 2. Juli 1973 mein Volontariat begann. In Mönchengladbach, nicht in Düsseldorf, über der Königsallee. Zwei Jahre später war alles Fotosatz. Jeder Satz war Fotosatz. Aber geschrieben habe ich auf der Schreibmaschine, erst mechanisch und dann elektrisch – mit Korrekturtaste. Das war Fortschritt genug. Zehn Jahre später hatte ich meinen eigenen Computer, ein Schreibsystem. 23.000 Mark hat der gekostet. Viel Geld, aber ich war mein eigener Herr. Nicht mehr in Düsseldorf, sondern in Reutlingen. Verheiratet, Vater, freier Journalist. Wieder zehn Jahre später, war ich alles in einer Person: Schreiberling, Verleger, Setzer, Publizist. Großartig. Alles, was ich tat, war in meinem Kopf. Alle Prozesse, alle Verfahren. Unwichtig. Hauptsache, ich konnte schreiben. Über das, was in der Welt so geschah.

Sprecher 1: Schreiben? Als sei das wichtig! Chat-GPT schreibt jetzt. Heute spricht auch keiner mehr von EDV. Altmodisch. Jetzt heißt es vor allem IT – Information Technologies. Verarbeitung haben die IT-Systeme nicht mehr im Sinn – sondern  Prozesse, Geschäftsprozesse. Und die stecken nicht im Kopf, sondern in der Maschine. Es geht um systemübergreifendes Management. Mit ätherischer Software, möchte man sagen, nicht mit isolierter, irdischer Hardware. Korrekturtaste! So etwas…

Sprecher 2: Mit der Korrekturtaste gegen die Weltgeschichte – was für ein Größenwahn!

Plakat: Es lebe der historische Prozess, der mich zertrampeln wird wie einen Kuhfladen, und der die alten Gesellschaftsordnungen zertrampeln wird wie ich diesen Tisch.

Jean-Paul Sartre , französischer Schriftsteller, in seinem 1955 uraufgeführten Stück Nekrassow 

Bürokrat kehrt zurück Bildschirm ist eingefroren

Bürokrat: Entschuldigt, wenn ich dazwischenfunke. Die Bürokratie hat endlich das Instrumentarium gefunden, das sie braucht, um ihren ständig wachsenden Aufgaben gerecht zu werden. Ich meine damit die Cloud. Hier ist das Feld der Profis, hier findet endlich wieder rasanter technischer Fortschritt statt, von dem die ganze Welt profitieren wird. Ich sage nur: Neuronale Netze, Quantencomputer, Artificial Intelligence, Big Data.

Sprecher 2: Aber ist dieser Fortschritt nicht das Verdienst der Computer Science, der Informatik, der Wissenschaft? Was hat das mit Bürokratie zu tun?

Bürokrat: Alles. Es hat alles mit Bürokratie zu tun. Hier beginnt alles. Hier endet alles. Glaube mir!

Sprecher 2: Ich bin sprachlos.

(Abgang: Bürokrat)

Zum Tage

 "Wer fest im Sattel der Autorität sitzt, lernt bald zu glauben, dass Sicherheit und nicht der Fortschritt höchste Staatskunst ist.“

James Russell Lowell (1819-1891), amerikanischer Autor

 

Aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann, assoziiere ich bei diesem Zitat den aktuellen Eindruck, dass höchste Staatskunst tatsächlich darin besteht, dass sich der Staat selbst schützt. R.V.

Arche Nova (6): 1995

 

Ohne Worte

Donnerstag, 25. Juli 2024

Zum Tage

 Kein Mensch kann beim anderen das sehen und verstehen, was er nicht selbsterlebt hat.

Hermann Hesse (1877-1962), deutscher Autor und Literaturnobelpreisträger

 

Mittwoch, 24. Juli 2024

Zum Tage

 1998: „Eine der Schlüsselkomponenten der schwerelosen Wirtschaft besteht darin, daß sie unendlich ausdehnbar ist. Die Schaffung unzähliger Kopien eines gewichtsfreien Produktes kostet nicht mehr als die Erzeugung eines einzigen Gutes. Das führt zu einer unendlichen Ausweitung des Wachstums.“

Danny Quah (*1958 in Malysia), London School of Business


Arche Nova (6): (1952/2024)


Aus dem Buch "Das bedrohte Ich" von Paul Reiwald aus meinem Geburtsjahr 1952, das - auf welchen Wegen auch immer - seinen Weg in meine Bibliothek fand, flatterte mir diese obige Korrigenda entgegen, die dann in dem Buch selbst geisterhandschriftlich bereits erfüllt worden war. (Ich war's nicht, schon gar nicht 1952) Und da ich schon dabei war, wieder einmal in dem Werk, dem mein bedrohtes Ich ansonsten immer etwas hilflos gegenüberstand, herumzustöbern, fiel mir folgende Textstelle auf, die ich wohl selbst einmal kulihandschriftlich angestrichen habe: 

"Gerade weil die ungeheure Maschine unserer Industriezivilisation den einzelnen erbarmungslos in ihre Formen presst, muss er Widerstand leisten. Und er leistet ihn, indem er sich ernst nimmt. Er muss versuchen - eine schwere Aufgabe - Mensch außerhalb seiner Arbeit zu bleiben."

Der Psychologe Reiwald ahnte nicht, dass unsere Erziehung von der Industriezivilisation zu einer Digitalzivilisation diese schwere Aufgabe nahezu unmöglich gemacht hat. Ansonsten teile ich mit, dass ich gut ernährt bin, aber bei einem BMI von 23 keineswegs "adipös" bin, wie mein Kardiologe jüngst in seiner Diagnose behauptete. Da fühlte sich mein Ich trotz seines Bauchansatzes durch diese digitale Falschaussage ganz schön bedroht. Ich glaube, mein bedrohtes Ich, das sich ernst nimmt, verlangt nach einem Faktencheck...

Dienstag, 23. Juli 2024

Arche Nova (5): To BI or not to BI? (2009)

 Business Intelligence (BI):

2009: Der leere Thron

Ist dies der finale Traum von Business Intelligence (BI)? Mitte des nächsten Jahrzehnts werden die Unternehmen keine Data Warehouses mehr errichten müssen, sondern alle herein- und herausströmenden Daten werden automatisch katalogisiert und kategorisiert und von Suchmaschinen nach allen Regeln der Kunst für jeden Wunsch individuell zusammengestellt. Möglich wird dies durch 64-Bit-Systeme und weiter fallende Hauptspeicher-Preise. Von BI als einer separaten Disziplin wird dann niemand mehr sprechen. Die Reports googlen und generieren sich selbst. Das Management braucht nur noch seine Entscheidungen zu treffen. Es ist eine wunderbare Welt, die Bürokratie überlassen wir endgültig der Technologie. Wir selbst haben den Kopf frei – aber für was?

Das 20. Jahrhundert erlebte den triumphalen Aufstieg der Bürokratie, die heute alles kontrolliert – nur nicht sich selbst. Für alles und jedes ersann sie Regelwerke, die das Ziel hatten, eine Welt zu errichten, in der die Systeme alles entscheiden, aber nicht der Mensch. Er sollte entthront werden mitsamt seiner Fähigkeit zu denken und zu lenken.

Es ist mehr als vierzig Jahre her, da eröffnete der deutsche Philosoph Hans-Georg Gadamer den VIII. Deutschen Kongress für Philosophie mit den Worten: »Die Entthronung der Philosophie hat begonnen.« An die Stelle der einstigen Königin der Wissenschaften trete nun die Technik. Und ihr treuester Geselle wäre die Bürokratie mit ihrer ständig wachsenden Zahl an Angestellten. Doch wer regiert dann die Welt? 1992 gab Gadamer darauf eine Antwort: »Manchmal habe ich, wie jeder Mensch, Angstträume, und einer meiner wachen Angstträume ist, dass es eine bürokratische Gesellschaft geben wird, mit einem höchsten Thron, auf dem niemand mehr sitzt.«

Haben wir, unsere Chefs und unsere Regierungen, wirklich nichts mehr zu sagen? Wird Business Intelligence weder der Bürokratie noch dem Management jene Autarkie geben, nach der sich beide seit Jahrzehnten sehnen? Rationalisiert sich die Bürokratie und damit auch das Management selbst weg?

Noch 1895 waren in Deutschland nur zehn Prozent der Beschäftigten Angestellte. Mitte der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam auf drei Arbeiter ein Angestellter. 21 Wirtschaftszweige wiesen bereits mehr Angestellte als Arbeiter aus. »Der Kreis der Personen, die wirklich etwas erzeugen, wird immer kleiner, der Kreis derer, die damit Handel treiben, immer größer«, hatte 1966 Horst Wagenführ, Leiter des Wickert-Instituts für wirtschaftliche Zukunftsforschung in Tübingen, prognostiziert. Eines gar nicht mehr so fernen Tages, raunte der Zukunftsforscher, werde »kaum noch etwas übrig bleiben, womit man Handel treiben könne. Es sei denn man fing an, genau mit dem Handel zu treiben, was Wagenführ und seine Leute für die Wirtschaft produzierten: mit Wissen um die Zukunft – mit Business Intelligence.

Der französische Geologe und Paläontologe Pierre Teilhard de Chardin hatte 1963 in seinem Buch »Die Zukunft des Menschen« prophezeit, dass es zu einer »Einswerdung« der gesamten Menschheit kommen werde. Sie würde sich auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung zu einer »denkenden Einheit« zusammenschließen. Und mit dem Internet haben wir ja genau die Grundlage für eine solche „denkende Einheit“ geschaffen.

Kurzum: Es ist an der Zeit, dass wir wieder mit dem Denken anfangen. Bei all den vielen Daten und Reports muss sich ja doch auch noch etwas denken lassen. Wir sollten den Thron wieder besetzen.

Ganz ehrlich: Die Krise an den Finanzmärkten ist auch vor diesem Hintergrund als deutlicher Hinweis zu verstehen. Wir hatten das Denken den Systemen überlassen. 

Raimund Vollmer


Montag, 22. Juli 2024

Arche Nova (4): (2024)

Grönemeyer und
die Babyboomer

In Kommentaren zu meinem Beitrag "Arche Nova (2)"  kam das Gespräch auch auf den Sänger Herbert Grönemeyer (Jahrgang 1956). Ich äußerte meine Meinung, dass mir seine Texte eher peinlich seien und mir Anlass zum Fremdschämen gäben. Das war für einige Kommentatoren Grund, meine pauschale Kritik durch Belege aus seinen Liedern zu korrigieren. Da Grönemeyer wie ich zur Generation der Babyboomer gehört, reagiere ich vielleicht besonders empfindlich auf diese Art von Texten. Ich bin von Jugend an ein Bewunderer von Bob Dylan - wegen dessen Texten wie zum Beispiel "Sometimes even the President of the United States has to stand naked" (Aus der Erinnerung zitiert). Dylan hatte uns eigentlich die Schlagertexte ausgetrieben. Aber nicht ganz: deren Süßlichkeiten schleichen sich in die Songs vieler deutscher, besonders populärer Liedermacher wieder ein. So ist mein Empfinden. Beispielhaft daür steht für mich Herbert Grönemeyer.


Ich halte Grönemeyer für infantil im Sinne einer Generation, die vielleicht gerne Kind geblieben wäre und am Ende doch nur kitschig ist. Das ist mir alles zu süßlich - und erinnert mich an eine Aussage von Joseph (Jossif) Brodskij, der - nach seiner erzwungenen Ausreise 1972 aus der Sowjetunion - schrieb, dass "derjenige, der nach außen das Böse bekämpft, sich automatisch mit dem Guten identifiziert und sich für einen Träger des Guten zu halten beginnt". Im Grunde entzieht man sich damit der Verantwortung. Er bezog dies damals auf politische Bewegungen, aber als Dichter natürlich auch auf seine persönliche Verantwortung. Als einen solchen "Träger des Guten" hält sich meines Erachtens Herbert Grönemeyer, was bei Bob Dylan nie der Fall war und bei Brodskij ebenfalls nicht. Beide bekamen den Literaturnobelpreis - und zwar nicht deshalb, weil sie zuckersüße Texte schrieben.

Der Text von Brodskij, aus dem ich zitiere, erschien 1972 in der "Zeit", ich habe ihn nicht gegoogelt, sondern seit damals aufbewahrt. (Vielleicht findet ihr ihn dort: 24. November 1972, "Blick zurück ohne Zorn".) Da er physisch auch Teil meiner "Arche Nova" ist, habe ich ihn jetzt beim Stöbern wiedergefunden und muss sagen, ich war auch nach 50 Jahren mehr als beeindruckt. Ich war baff über das, was dieser Mann damals geschrieben hat. 

Grönemeyers Lied "Kinder an die Macht", das in den Kommentaren zitiert wird, hat insofern eine große Bedeutung für uns als die Generation der "Babyboomer", weil es unsere Haltung entlarvt - unfreiwillig und schräg. Denn wir machen die Kinder zu "Träger des Guten", jenes Guten, mit dem wir uns identifizieren. Im Grunde genommen steht dahinter eine infantile Sehnsucht nach einer Welt, die es nie gab und nie geben wird, weil wir selbst durch unser Verhalten die Hoffnung darauf zerstört haben. Und dafür müssen wir auch die Verantwortung übernehmen.

Grönemeyers Lieder treffen auf das, was der Philosoph Odo Marquard (1928-2015) bereits 1987 als "wachsende Illusionsbereitschaft" bezeichnet hat. Er schreibt: "Das hängt damit zusammen, dass unter Wandlungsbeschleunigungsbedingungen unsere Lebenserfahrung immer mehr veraltet. Denn in unserer Beschleunigungswelt kehren - wo sie sich durch immer schnellere Innovationen  verändert - jene Situationen immer seltener wieder, in denen und für die wir unsere Erfahrungen erworben haben. Darum rutschen wir - statt durch stetigen Zuwachs an Erfahrungen erfahren und weltkundig, d.h. erwachsen zu werden - zunehmend immer wieder in die Lage derer zurück, für die dieWelt überwiegend neu, unbekannt, fremd und undurchschaubar ist: in die Lage der Kinder. Die Welt bleibt uns fremd, und wir bleiben weltfremd. Wir werden nicht mehr erwachsen." (Die Welt, 20. Dezember 1987, Odo Marquard: "Von der Schnelligkeit der Welt und der Langsamkeit des klugen Menschen", auch dieser Artikel it physisch Teil meiner Arche Nova) 

Ich gebe zu, dass ich auch nicht frei bin von dieser Sehnsucht zurück in die Kindheit - und so sage ich oft spaßeshalber: "Wenn ich noch einmal auf die Welt komme, dann als Kind". Und damit ist nun dieser doppeldeutige Satz auch Teil meiner "Arche Nova", genauso wie dieser Beitrag. 

P.S.: Ansonsten möchte ich mich für die Kommentare bedanken, die mir sehr zu Herzen gingen und doch den Eindruck vermitteln, dass wir uns als Erwachsende fühlen. ;-)

Raimund Vollmer

Zum Tage

 „Regieren ist kein Ding für Leute von
Charakter und Erziehung. Niederträchtig,
Unwissend muss man sein! - -
     Du hast ja, was
Ein Demagog nur braucht: die schönste
Brüllstimme, bist ein Lump von Haus aus, Krämer,
Kurzum, ein ganzer Staatsmann!“

Aristophanes (446-386 v.Chr.), griechischer Dichter in der Komödie „Die Ritter“

Sonntag, 21. Juli 2024

Arche Nova (3): 1995

1995: Welt im Brauseschritt

Vorbemerkung: Vor 30 Jahren eroberte der Netscape Navigator das Internet. Natürlich konnte auch ich nicht die Finger davon lassen und wollte unbedingt die Story dahinter schreiben. So entstand diese Geschichte, die ich unter folgendes Motto stellte:

Wer den Pfennig nicht ehrt,
ist der Milliarde nicht wert. 

Für das Wirtschaftssystem, das sich dahinter aufbaute, hatte ich mir - selbstbewusst wie ich damals mit meinen 43 Jahren war - sogar einen Namen ausgedacht: "Techonomics" in Anlehnung an die "Reaganomics", mit der die Wirtschaftspolitik des US-Präsidenten Ronald Reagan bedacht worden war. 

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Warum be­wer­teten Anleger im August 1995 eine 15 Monate junge Soft­wa­re­firma namens Net­scape, die magere 16 Millionen Dollar um­setzt und keine Spur von Gewinn ausweist, bei der Bör­sen­ein­füh­rung mit sage & schreibe zwei Milliarden Dollar? Warum ließen die Anleger drei Wochen zuvor den Kurs der Soft­wa­refirma Microsoft, die gerade ei­nen neuen Quartalsgewinn von 368 Millionen Dollar aus­ge­wiesen hatte, so stark fallen, dass der Gründer Bill Gates von einem Tag zum anderen um zwei Milliarden Dollar ärmer war? 

Nun, da war Metcalfe's Law am Werk. (Demzufolge die von einem Netzwerk geschaffene Wertschöpfung proportional zum Quadrat der Anzahl der verbundenen Benutzer“ beträgt. R.V.2024)


Gerade zwei Jahre ist es her (1993 R.V.) ‑ da katapultierte sich das In­ternet mitten hinein ins Multimedia‑Zeitalter. Ein bisschen Soft­ware hier, ein größeres Stück Software da, all das geschickt mit­einander kombiniert ‑ und schon war das World Wide Web, die Multimediale des Internets, eröffnet. Seitdem wächst es Monat für Monat um 50 Prozent. Mehr als drei Millionen Pa­ges wurden inzwischen auf 30.000 Servern kreiert und inszeniert. Die publizistische Seite ihres Angriffs auf die Lotus Development Corp. intonierte IBM im World Wide Web ‑ und eroberte damit schließlich die Herzen von Jim Manzi und seinen Mannen. 

Das Web klingt. Das Web tönt. Das Web schönt die Botschaft durch Bilder und Video. Und wenn dieser raketenhafte Aufstieg, wenn die Metamorphose des textbasierenden Inter­nets zur Picture Show irgend­einen Helden hat, dann ist es Marc An­drees­sen. Er ist Mitgründer von Netscape, die mit ihrem Navigator die Fensterpracht im Internet öff­nete. Er schuf das echte Wunder‑Window 95.

Als »neuer elektronischer Messias« (The Economist) gefeiert,  als Bill Gates der neunziger Jahre ausgerufen, gilt der 23jährige Wunderknabe schon als der heimliche Herrscher des In­ternets. Denn irgendjemand muss doch diese Rolle übernehmen. Ein Markt, der nie­man­dem gehört, der als gesetzlos gilt, der alles aus sich selbst her­aus kreiert, der völlig liberalisiert ist ‑ das kann es nicht geben, das darf es nicht geben, das wird es nicht geben.


Aber es gibt diesen Markt längst. Fernab von jeglichem büro­kra­tischen Zu­griff entstan­den, hat sich das Internet einfach selbst geschaffen:

Es ist ein Parasit, der sich auf das multi­mil­liar­den­schwere Fernmeldenetz der Welt draufgesetzt hat und sich nun mit Hilfe seines verwunderten Wirtes blitzschnell aus­breitet.

Die Marktforschungsfirma Forrester Research in Cambridge ver­­mu­tet, dass das Inve­stitionsvolumen an wirklich Internet‑spe­zifischer Hard­ware gerade mal weltweit 50 Millionen Dollar beträgt. Eine lä­cher­liche Summe. Mit sparsamsten Mitteln wurde ein gigan­tisches System in Szene gesetzt, das heute mehr Computerbenutzer eint als die gro­ßen Infor­ma­tions­systeme der Geschäftswelt, die allein in den USA während der achtziger Jahre eine Billion Dollar dafür ausgab.

Und doch ist dieses Internet von unschätzbarem Wert, weil es letztlich die Investitionen aller ‑ der Wirtschaft ebenso wie der Privatleute ‑ in sich vereinen kann. Und es ist Andreessen, der der staunenden Welt zeigt, welche technomischen Kräfte dabei entfesselt werden.

Seine Geschichte ist schnell erzählt. Als Student der Universität von Illinois hatte er 1993 im Hypertext‑Verfahren ein Programm namens Mosaic geschaffen, mit dem die interaktiven Web‑User im Maus‑Klick‑Verfahren nun auch durch Multimedia‑Shows brausen konnten. Jeder durfte es benutzen. Kostenlos. Es war ein Geschenk der Uni­ver­sität an die gesamte Welt. Sie nahm es dankend an.

Auf diese winzige Schöpfung wurde ein Mann namens Jim Clark auf­merksam. Er war Chairman und Gründer von Silicon Graphics. Vergeblich hatte er versucht, seine Leute davon zu überzeugen, dass die Zukunft des Workstation‑Herstellers in der Herstellung von Niedrig­preis­pro­duk­ten für den Informa­tion Highway läge. Doch er stieß auf taube Ohren. So räumte er im Februar 1994 seinen Sessel ‑ und wusste nicht, wohin mit sich selbst. Dann sah er Mosaic. Prompt fügte sich das Muster zusammen. Ein E‑Mail an Andreessen, zwei Monate später war die Firma Mocaic Communications im kalifornischen Mountain View gegründet. Startkapital: vier Mil­lionen Dollar.  Schon ging's ans Werk.

Denn ein neues Mosaic, einen besseren und sicheren Brow­ser, wollte die junge Firma schaffen. Im November 1994 tauchte dieser Mosaic‑Killer erstmals im Netz auf. Sein Name: Net­scape Navigator. Ei­nen Monat später firmierte das Unternehmen um und benannte sich analog zu ihrem wichtig­sten Produkt: Netscape Communi­ca­tions. Endlich hatte Andreessen etwas in der Hand, was ihm und seinen Partnern ge­hörte: eine richtige Ware. Es fehlte nur noch das Preisschild. Doch was tat der junge Bursche? Er verschenkte sein Netscape ans Netz. Dort gebärdete sich der Navigator als echter Maus­fänger. Sieben Monate spä­ter, im Juli 1995, folgten zwei Drittel der insgesamt neun Mil­lionen browser im Web auf die Kommandos des Navigators.

Womit aber will die Firma ihr Geld verdienen, wenn sie ihr Pro­dukt verschenkt? Ganz einfach! Wer navigieren möchte, braucht einen Cy­berspace. Das ist die Welt der Inhalte, durch die der Benutzer her­umbrausen kann. Auch auf dem Informations‑Marktplatz gibt es Nachfrager und Anbieter. Letzteren, die ihre multimedialen Offerten fit machen wollen für das Web, verkauft Netscape zu Preisen zwi­schen 1.500 und 50.000 Dollar ihre Software.  Rund 70 Prozent des Marktes für diese Art der Server‑Software hat Netscape auf sich vereint. Diesen hohen Anteil hätte sie nie bekommen, wenn sie ihren Browser nicht an jedermann ver­schenkt hätte. Auch auf die spektakulären zwei Milliarden Dollar Bör­sen­kapitalisierung wäre Netscape niemals abgesaust.

Nach dem Netz‑Gesetz von Metcalfe ist die sieben Mil­lionen mal verschenkte Software im Kleinen nichts wert. Gerade mal 0,7 Cents je Kopie. Ein Pfennig‑Wert, den einzutreiben sich einfach nicht lohnt. Doch dieser multipliziert sich zu einem Marktwert von 44.721 Dollar. Erhebt man allerdings die Zahl zum Quadrat, dann kommt man auf etwa zwei Milliarden Dollar. Das war der Börse die Firma wert.

Und sie überraschte mit dieser Summe jeden, sich selbst am mei­sten. Die Investmentbanker hatten den Wert von Netscape irgendwo zwischen 480 und 560 Millionen Dollar taxiert. Und eine Verdoppe­lung schien ihnen durchaus möglich. Aber nun hatten die Anleger den Betrag vervierfacht! Die Techonomics hatten zugeschlagen.

Nun lastet auf der jungen Firma ein enormer Druck, der Druck des Er­folges und der Erwartung. Kann sie dem standhalten? Ja, wenn sie die Techonomics des Internets auch weiterhin anwen­det. Und Andreessen hat dabei keine Angst vor den großen Na­men, vor dem Establishment. Die Geschäftswelt ist eher sein Freund. An sie verkauft er. Was ihn quält, ist, dass irgendwo auf der Welt wieder ein Pfennigwert entsteht...

(Raimund Vollmer)