Donnerstag, 11. April 2024

Zum Tage

 

„Was ich mache, ist meine Geschichte, nicht, was mir geschieht.“

Vilém Flusser (1920-1991), tschechisch-brasilianischer Medienphilosoph[


Mittwoch, 10. April 2024

Zum Tage

 Das Du ist älter als das Ich.

Also sprach Zarathustra, also sprach Friedrich Nietzsche (1844-1900), deutscher Philosoph


Dienstag, 9. April 2024

Zum Tage

 Mein Gedächtnis ist wie ein Keller voll alter Zeitungen:
Nichts ändert sich mehr

Louise Glück (*1943), Lyrikerin und amerikanuische Literaturnobelpreisträgerin

Montag, 8. April 2024

Zum Tage

 1999: Ich bin Militär und führe Befehle aus.

Wladimir Putin (*1952), russischer Oberst der Reserve, zu seiner Wahl zum Premierminister

Sonntag, 7. April 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 16)

 2018: »Wir streben schnell in Richtung einer digitalen Superintelligenz, die weit über der des Menschen liegen wird.«

Elon Musk, amerikanischer Unternehmer

 

1994: »Ich kann doch nicht alles im Kopf haben.«

Die Figur Heiko Schütz in dem Dreiakter „Im Zeichen des Sterns“, Business–Theater für Mercedes–Mitarbeiter

Vater User, der du bist im Himmel

 Von Raimund Vollmer 

Wladimir Iljitsch Lenin, der Revolutionär, der Kommunist und Gründer der Sowjetunion, hatte im November 1922 bei der IV. Kommunistischen Internationale in Sankt Petersburg den Begriff der „Kommandohöhe“ aus dem Militärischen in die Welt der Wirtschaft übertragen. Er meinte damit vor allem den Staat als ultimativen Herrscher über alle Märkte, denen er damit ein kleinwenig ihre Bedeutung zurückgeben wollte. Streng staatlich kontrolliert selbstverständlich.[2] Zwei Generationen der Armut und der Unterdrückung später taumelte dann diese totale Kommandowirtschaft dem Bankrott entgegen. Geistig, moralisch und wirtschaftlich. Der Versuch, von einem Machtgipfel aus die Welt zu bestimmen, war gescheitert. Wie so oft, wenn die falschen Menschen an den Schalthebeln sitzen, dann gilt plötzlich das Schlechte als gut und das Gute als schlecht.

Auf jeden Fall schien mit dem Scheitern des Kommunismus die Idee der Kommandohöhe tot zu sein – so tot, dass wir sogar vor dem „Ende der Geschichte“ standen. Nur noch Demokratie und Marktwirtschaft, beide Kinder des Wettbewerbs und der Selbststeuerung, würden fortan unser aller Leben bestimmen, hatte 1992 der Verfechter dieser These, der Amerikaner Francis Fukuyama (*1952) behauptet. Eine These, die angesichts der raschen Entwicklung auf dem Gebiet der neuen elektronischen Medien und deren demokratisierender Wirkung viel Unterstützung bekam. Da passte alles zusammen, alles sollte direkter werden, kommunikativer, emotionaler. phantasievoller.

Doch schon war das Netz als Träger all dieser Neuerungen auf dem Sprung in die nächste Entwicklungsstufe: in die totale Kommerzialisierung. Und in dessen Gefolge reden wir – wie der 'Economist' im Mai 2018 in einer achtseitigen Analyse über das Internet schrieb – über das kontroverse Thema „zentral–dezentral“.[3] Im Grunde aber ist es eine alte Melodie, die seit den sechziger Jahren in schöner Regelmäßigkeit durch die IT–Branche schallt und eigentlich immer nur um sich selbst kreist.

Wann reden wir endlich mal über uns? Oder wollen wir wirklich den Oberbefehl über den Weltlauf aufgeben, den biblischen Urauftrag?

Keiner hat den Weltlauf so schön beschrieben, wie Heinrich von Kleist (1777–1811). Würde er in unserer Zeit wiederauferstehen, hätte er garantiert seinen Spaß an all den Neuerungen, die unser Leben zu bestimmen suchen. Kleist war der „erste große Absurdist“, meinte  einmal das 'Time-Magazin'.[4] Kleist war ein Vielschreiber, der sich – lebte er heute – jeden Morgen stundenlang an seinen Emails und Kommentaren in den Sozialen Medien ergötzen würde. Wahrscheinlich würde er versuchen, seine vielen verrückten Ideen in virtuelle Welten umzusetzen. Vielleicht würde er auch seine 1810 veröffentlichen „Betrachtungen über den Weltlauf“ aktualisieren. Sie waren damals in seinen 'Berliner Abendblättern' erschienen, der ersten Tageszeitung in Preußens Hauptstadt, vielleicht würden sie sogar – nicht minder originell zusammengekleistert – wiedererscheinen. Im Netz natürlich.

Am Anfang einer Epoche – so hatte Kleist erkannt – dominieren die Helden. Sie sind das Größte, das Höchste, das Echte. Würde er solche Helden auch heute noch finden? In der IT–Branche? Nicht der erste, wahrscheinlich der letzte und größte Held war der kalifornische Apple-Gründer Steve Jobs (1955–2011), der auf erstaunliche Weise nur sich selbst folgte und sich mit Kleist bestens verstanden hätte. „Er war kein idealer Mensch, der sich als Vorbild eignete. Wenn er von Dämonen beherrscht wurde, konnte er seine Umgebung an den Rand des Wahnsinns und der Verzweiflung treiben. Aber seine Persönlichkeit, seine Leidenschaften und Produkte standen alle miteinander in Verbindung, genauso wie es bei der Hard– und Software von Apple der Fall ist, als seien sie Teil eines kombinierten Sinnes“, schreibt Walter Isaacson, Autor der autorisierten Biographie über „Steve Jobs“.[5]

Für Kleist wäre Steve Jobs gleichsam das personifizierte Internet. Er fasste für jeden von uns, für jedes Individuum in seinen Produkten auf geniale Weise zusammen, was bereits an Strömungen im Anfang angelegt war. Zugleich aber war er – auf einer anderen Ebene – zerrissen von den ungelösten Konflikten seiner Generation, die zwischen heftigem Protest und strikter Anpassung lavierte. Er war Teil der „Californian Ideolgy“, die einerseits dem Hippie-Kult von San Francisco frönte, andererseits sich dem brutalen Darwinismus des Silicon Valley stellte, ja, ihn begründete.[6]

 

Kleist 

Doch unser Dichter hätte auch feststellen müssen, dass die Zeit der Helden erst einmal vorbei ist. Es gibt momentan nur noch Imitate.

Einige der alten Heroen leben zwar noch, aber als Ideengeber sind sie – um mit Kleist zu sprechen – „ausgestorben“. Neue, echte Originale gibt es nicht mehr. Wir leben in einer Zeit, in der wir sie uns „erdichten“ (Kleist) und einen Riesenrummel um sie machen müssen, damit wir sie überhaupt wahrnehmen. Die PR-Maschinen liefern uns Typen mit marottenhaften Tugenden und Lastern, immer gleichen Legenden von Startups und Silicon Valleys. Aber sie sind kein Ersatz. Weil uns selbst zu den PR–Idolen nichts mehr einfällt, blähen wir deren kümmerlichen Geschäftsmodelle zu „Billion-Dollar-Bubbles“ auf, bestaunen sie als fabelhafte „Einhörner“ und wissen doch, dass alles, was sich digital zeigt, im Grunde banal und trivial ist.

„Als sie keine mehr dichten konnten, erfanden sie dafür die Regeln“, geht es bei Kleist weiter. In der IT–Branche sind es die Algorithmen, mit denen wir uns momentan regelrecht zuballern. Wie Zauberformeln werden sie gehandelt, aber sie haben nichts Magisches an sich. „Als sie sich in den Regeln verwirrten, abstrahierten sie die Weltweisheit selbst“, konstatiert Kleist. Auch da würde er in dem Glauben an die Künstliche Intelligenz eine Analogie finden. KI soll uns aus der Verwirrung befreien, gleichzeitig aber auch auf Schritt und Tritt begleiten. „Und als sie damit fertig waren, wurden sie schlecht“, beendet Kleist seine Betrachtungen. Sie – das sind wir, die Menschen, nicht die Systeme. Auch da sehen wir die Parallelen: Schon treiben wir auf jenen Tag zu, an dem Maschinen klüger sein werden als wir. An diesem „Singularity Day“ ist es vorbei mit unserer Vorherrschaft. Die Maschine übernimmt endgültig den Oberbefehl, ohne uns zu sagen, woraus er besteht.

Die „Abkopplung des Wissens vom handelnden Subjekt“ führt am Ende zum Verlust all jener Formen von Wissen, die „subjektive Stellungnahme und individualspezifische Sicht notwendigerweise voraussetzen“, meinte die Soziologin Barbara Becker 1992 in ihrem Buch „Künstliche Intelligenz“. Wir werden des Wissens beraubt, das „letztlich den Menschen von der Maschine unterscheidet, und mittels dessen er seine Besonderheit ihr gegenüber behaupten könnte“.[7]

Ist unser Untergang also schon längst programmiert, der letzte Teil des Weltlaufs?

Kleist hatte – uns weit vorauseilend – hier schon eine Antwort parat, die wie ein Oberbefehl daherkommt, den wir uns aber selbst geben müssen, ganz persönlich, ganz individuell: „Aber in uns flammt eine Vorschrift und die muss göttlich sein, weil sie ewig und allgemein ist; sie heißt: erfülle Deine Pflicht“, schrieb er 1801 an Wilhelmine von Zenge, wobei die Betonung auf dem Wort „Deine“ liegt.[8] Es ist für ihn der absolute Oberbefehl, der über allem anderen steht, den man sich aber inhaltlich selbst geben muss. „Erfülle Deine Pflicht!“ Sie steht über allen Gesetzen, Geboten, Sitten und Normen, selbst ein König könne sich nicht darüber stellen, kein Trump, kein Erdogan, kein Putin, kein kommunistischer Kaiser von China. Niemand. Staunend stellt man fest: hinter dieser Forderung bleibt selbst ein Immanuel Kant und dessen kategorischer Imperativ zurück.

Natürlich scheint dieser persönliche Oberbefehl nach Meinung des Literaturwissenschaftlers Wilhelm Emrich (1909–1998) „zu einem ausweglosen Konflikt“ zu führen – zu der Forderung nach Selbstverwirklichung, die so stark über allem steht, dass Kleist meint, ihr sprachlich keinen Ausdruck geben zu können, und die sich in einer permanenten Spannung von Ich und Welt äußert.

Vielleicht ist es genau das: Sprachlosigkeit. In der Welt der Netze ist jedes Wort zu viel, weil wir uns mit jedem Wort selbst verraten – an das Netz, das jedes Wort auf seine digitale Waagschale nimmt. Wir werden unserer größten Fähigkeit, der Sprache, beraubt und damit all unseres niedergeschriebenen und festgehaltenen Wissens. Absurd.

Kleist verlangte von sich und uns vollkommenes Bewusstsein, also das komplette Gegenteil zu den Welten, die wir uns momentan schaffen, die ohne eigenes Bewusstsein sind und uns zugleich zurück in eine selbstverschuldete Unmündigkeit stoßen. „Ware überall. Zur-Ware-Werden aller Dinge und Menschen, Reduktion der zwischenmenschlichen Beziehungen auf Tauschwert, Verselbständigung des Warenumlaufs hinter dem Rücken, über den Köpfen der Menschen: that's business, das ist die wichtigste Fabrik der Entfremdung“, schreibt Ernst Bloch. Der Weltlauf besteht nur noch aus Warenumlauf.

Zum Tage

 

Wir glauben, dass Menschen und andere Tiere in wissenschaftlicher Hinsicht wie Maschinen sind.

Norbert Wiener (1894–1964), amerikanuischer Mathematiker, Philosoph und Vater der Kybernetik