Samstag, 24. August 2024

Zum Tage: Heilung

 „Es kommt darauf an, den Körper mit der Seele und die Seele durch den Körper zu heilen.“

Oscar Wilde (1854-1900), irischer Schriftsteller

Freitag, 23. August 2024

Zum Tage: 80.000 Seiten Bürokratie

 1996: „Der Präses der Hamburger Handelskammer hat jüngst vorgerechnet, das Bundesgesetzblatt umfasse allein an reinen Gesetzestexten 80.000 Seiten. Der Bundeskanzler solle seinem ansonsten überflüssigen Wirtschaftsminister den Auftrag geben, binnen Jahresfrist dem Kabinett und dem Parlament eine Streichungs- und Vereinfachungsliste vorzutragen – von der Steuergesetzgebung bis zum Baurecht und vom Sozialversicherungsrecht bis zum Verfahrensrecht der Gerichte –, und zwar ohne Rücksicht auf Ressortzuständigkeiten.“

Helmut Schmidt (1918-2015), Politiker und Bundeskanzler von 1974 bis 1982

Donnerstag, 22. August 2024

Zum Tage: Keine Zeit

 „Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.“

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), deutscher Mathematiker, Physiker und Schriftsteller

Kommentar: Ich habe gelernt, dass diese Leute mit ihrer Aussage "keine Zeit" erstens ihrer Wichtigkeit und zweitens ihrer Macht (über dich) Ausdruck geben wollen... Man trifft sie besonders in Managementetagen an. Ihnen darf man nicht trauen.

Mittwoch, 21. August 2024

Zum Tage: Tricks

2004: "Man kann alle denkbaren Bilder mit Tricks herstellen, aber selbst Leute, die solche Szenen ohne jegliches Vorwissen zu sehen bekommen, haben irgendwie das Gefühl, dass sie kein Abbild vor sich haben, sondern nur eine Nachahmung."

Tim Burton (1958), amerikanischer Filmemacher, am 5. April 2004 in der Tageszeitung Die Welt


Ist das immer noch so?

Dienstag, 20. August 2024

Zum Tage: Feldarbeit

  1967: »Die Experten erwarten, dass die gesamte Feldarbeit auf einer Farm von Automaten geleistet wird. Gesteuert werden sie von gespeicherten Programmen. Alles wird überwacht von Fernsehkameras, die auf hohen Türmen montiert sind.«

Das USLandwirtschaftsministerium in seinem Bericht „Agriculture 2000“

Montag, 19. August 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 66): Ausschwellender Blog-Gesang

1993: »Die Intelligenz der Masse
hat ihren Sättigungsgrad erreicht.« 

Botho Strauß (*1944), deutscher Dramatiker und Schriftsteller, in seinem Essay "Anschwellender Bockgesang"

Ausschnitte aus einem Graffiti an einer zubetonierten Ufer-Mauer der Echaz in Reutlingen Fotos: RV


Aus allen Wolken

  Von Raimund Vollmer 

Die Giganten der Cloud agieren in einer Wirtschaft, in der die Befehle nicht mehr von den Kommandohöhen eines alles kontrollierenden Managements kommen, sondern unsichtbar aus der Software, aus dem Netz. Es ist eine Wirtschaft, in der nicht das Management im Vordergrund steht, sondern das Managen. Die Tätigkeit ist es, nicht der Täter. In dieser Welt ist alles Software, alles Befehl. Alles muss funktionieren. Und zwar geräuschlos.

Die Amerikaner hatten dafür mal den eleganten Begriff „silent business“ geprägt, doch dann setzten sie auf das vorlaute, affektive Adjektiv „smart“. Vielleicht ist er gar nicht so ganz falsch, wenn man bedenkt, gegen wen dieses „smart business“ ursprünglich gerichtet war: gegen die Bürokratie.

 


Eng verbunden mit der Ausbreitung von Staat und Wirtschaft im 20. Jahrhundert war der unaufhaltsame Aufstieg der Bürokratie in den vergangenen 150 Jahren. „Organisation ist alles, und alles ist Organisation“, so lautete das Credo, dem niemand widersprechen durfte. Es war eine grandiose Erfolgsstory, dessen Grundlagen aber andere schufen: „Als die ersten Organisationen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, folgten sie dem Modell des Militärs. Die preußische Armee war für die Welt von 1870 ebenso ein Organisationswunder, wie es Henry Fords Fließband 1920 war“, erinnerte uns 1992 Peter F. Drucker in einem Beitrag des 'Harvard Business Review' an die Ursprünge.[1]  Wo Organisation alles ist, da ist die Bürokratie nicht fern – sehr zum Leidwesen des Managements, das noch in den 50er Jahren glaubte, sich mit Hilfe der Computer der von Menschen bestimmten Bürokratie entledigen zu können. 



 

Deshalb sah die Bürokratie in dem Computer zuerst den größten Feind, doch schließlich wurde sie dessen größter Freund. Gemeinsam schufen und verwalteten sie gewaltige Systeme der Verteilung und der Umverteilung. Die Bürokratie spiegelte sich in dem Computer und umgekehrt. Gemeinsam brachten sie das, was die Wirtschaftslehre den tertiären Sektor nennt, zu ungeahnter Größe. Nun erleben wir den Sturz der Bürokratie, sagen die Auguren, so wie wir zuvor den Bedeutungsverlust von Landwirtschaft und Industrie erlebten:

Primär: Ackerbau und Viehzucht – 10.000 Jahre lang die größte Erfindung. Doch dann kam die Industrie und entmachtete die Landwirtschaft. Fortan bestimmte die Maschine alles. Das war der erste Fall.

Sekundär: Dampfkraft und Maschine – 100 Jahre lang waren sie die stärkste Verbindung. Doch dann kam die Bürokratie und setzte ihre Schreibtische vorne dran. Fortan war alles Organisation. Das war der zweite Fall.

Tertiär: Organisation und Computer – 50 Jahre lang die mächtigste Symbiose. Doch dann kam das Smartphone und ist nun auf dem Weh, all unsere Sinne zu besetzen. Überall herrscht das Netz. Und allmählich erkennen wir, dass dies der dritte Fall sein könnte.

Quartär: Denn über allem erhebt sich ein vierter Sektor, eine quartäre Wirtschaft. Ihre Sphäre ist die Cloud. Ihr Ziel ist die totale Kontrolle über alles und jeden. Über die Landwirtschaft, über die Industrie und über die Dienstleistungen. Es ist eine Kontrolle ohne Verantwortung. Sie basiert auf der totalen Hinrichtung des Individuums. Es hängt am Galgen und richtet seinen toten Blick hinauf zu den Wolken.

Dieser quartäre Sektor wird momentan beherrscht von den Tech-Giganten, von Amazon und Apple, von Facebook und Google – und unscheinbar in allem, Microsoft, dem stillen Riese. Und zwischen allen agieren als Chipschmieden nicht mehr Intel, Motorola oder Texas Instruments, sondern Nvidia & Co.

Die Cloud „Gaia“ – die politisch stimulierte, europäische Gegeninitiative – möchte da gerne mitmischen. Doch kommt sie viel zu spät – und dann wieder mit einem Anspruch, der alle Chancen hat, wieder an sich selbst zu scheitern, wie dies bei so vielen europäischen IT-Initiativen geschehen ist. Wir werden sehen. Vor allem wir, die Deutschen, die der Initiator gewesen waren.

Es ist wie immer seit dem Ende des zweiten Weltkrieges. Wir laufen hinterher. Gar nicht einmal technisch, sondern eher intellektuell. Am Ende meinen wir aufgeholt, vielleicht sogar überholt zu haben, um dann festzustellen, dass der Kampfplatz inzwischen ganz woanders ist.

Mit jedem Übergang von einem Sektor zu dem nächsten verschwanden und wandelten sich Millionen von Arbeitsplätzen, auch in Deutschland.

-         Nur drei Prozent der Bevölkerung leben heute von der Landwirtschaft, dem primären Sektor. Um 1850 waren es noch 90 Prozent. Und 1975, als dieses Jahrhundert nach Peter F. Druckers Zeitrechnung begann, waren es noch 6,8 Prozent. Die Beschäftigung hat sich also in der Zwischenzeit mehr als halbiert.

-         Etwa 25 Prozent arbeiten aktuell in der Industrie, dem sekundären Sektor. Um 1900 waren es in Deutschland rund 65 Prozent aller Arbeitsplätze. Und 1975 waren es immerhin noch 45,1 Prozent.

-         Und der größte Joblieferant sind seit den siebziger Jahren die Dienstleistungen. Dieser tertiäre Sektor reklamiert 74 Prozent der Beschäftigten für sich. 1975 musste er sich noch mit 48 Prozent begnügen.[2]

 

 

Werbung für einen Bergsteiger Foto: RV

Dahinter standen also jedes Mal massive Verschiebungen in Staat und Wirtschaft – nicht nur in den letzten 250 Jahren, sondern auch in den vergangenen 40 Jahren. In den USA und in Großbritannien waren die Veränderungen sogar dramatisch. Noch zu Beginn der neunziger Jahre lag in den USA der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt bei 21 Prozent. Keine zwanzig Jahre später war er auf Werte unter 13 Prozent gesunken. „Große Teile der britischen Wirtschaft haben sich einfach abgemeldet“, meinte 2009 Michael Rothgang vom Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung, in der FAZ.[3] Die Briten haben den Industriesektor schlichtweg verschwinden lassen – und damit auch dessen Wissen abgetötet.

Der bessere Weg schien der zu sein, wenn im Rahmen dieser gewaltigen Transformationen  das Wissen von einem Sektor zum anderen wanderte und dort seine Wirkung entfaltet.

-  So hat die Landwirtschaft bis heute ihre immensen Produktivitätsgewinne der Industrialisierung zu verdanken. Diese griff mit ihren Erfindungen und Neuerungen tief in die Urproduktion ein.

Der Bauernhof wurde zu einer Fabrik.

-  So profitierte die Industrie von den Errungenschaften des tertiären Sektors, der die Absatzmärkte organisierte, das Patentwesen schuf, Normen setzte, das Geldwesen ordnete, Rechtssicherheit schuf und überhaupt die Regeln in Wirtschaft und Staat festlegte.

Die Fabrik wurde zum Büro.

Jeder Wandel schuf über sich seine eigene Welt, seine generische, künstliche Wirklichkeitsschicht, die zuerst von Menschen erobert und dann von Maschinen übernommen wurde. Ja, man hat den Eindruck, dass der Mensch stets geradezu störte in einer Welt, von der wir seit Isaac Newton erwarten, dass sie wie ein Uhrwerk zu funktionieren hat, also am besten ohne uns.

Nur der tertiäre Sektor schien über die letzten 100 Jahre hinweg irgendwie hartnäckig am Störfaktor Mensch festzuhalten. Mitte der siebziger Jahre tauchte in einer Studie des amerikanischen Wirtschaftsministeriums der Begriff des „Information Workers“ auf. 46 Prozent der arbeitenden Bevölkerung würden inzwischen diesem Berufsstand angehören. Mehr noch: die Hälfte des Nationalproduktes würde bereits darauf basieren. Ein Fünftel der Exporte in den USA seien keine „Güter“, sondern „Services“. Das Ministerium prognostizierte, dass 70 Prozent der Einkommen aus Arbeit durch „Informationsaktivitäten“ generiert werden würden. Was allerdings „Information“ genau sei, darüber ließ sich die Studie nicht weiter aus.[4]

Trotz all der Investitionen in Informationssysteme schien sich der Faktor Mensch im tertiären Sektor fest etabliert zu haben. Er wurde nicht aus dem Büro vertrieben. Im Gegenteil: es wurden immer mehr.

Bis heute haben wir gar nicht so recht registriert, dass sich längst dieser vierte, dieser quartäre Sektor gebildet hat. Der amerikanische Zukunftsforscher Herman Kahn hatte ihn bereits 1972 in seinem Buch „Angriff auf die Zukunft“ zaghaft als „Dienstleistungen an Dienstleistung“  beschrieben. Es seien „Dienstleistungen um ihrer selbst willen“. Kahn rechnete dazu „Freizeitbeschäftigungen, die Künste usw.; vor allem bestimmte Formen des Verwaltungsdienstes.“[5] Das war, wie gesagt, 1972. Zwölf Jahre später, 1984, griff der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Manfred Timmermann diesen Begriff auf und meinte: „Die Vorstellungen eines quartären Sektors mit Knowhow-Produktion und wissenschaftlicher Forschung sind überwiegend noch Gegenstand futurologischer Betrachtungen.“[6]

Inzwischen spüren wir deutlich, dass diese „quartären Aktivitäten“ die Kontrolle über die anderen Sektoren übernehmen, so wie diese das vor ihr getan haben. Eine Agrargesellschaft ist etwas anderes als eine Industriegesellschaft oder eine Dienstleistungsgesellschaft. Nun befinden wir uns auf dem Weg in die Netzwerkgesellschaft, in die Cyber-Society, in die digitale Gesellschaft. Deren Kennzeichen ist das Streben nach totaler Kontrolle – ohne Verantwortung.

Das ist letzten Endes die Welt der Maschinen, der Systeme

Den treffenden Namen dafür haben wir noch nicht gefunden.

Dieser quartäre Sektor greift  in alle anderen Sektoren hinein und krempelt sie um:

-  In der Landwirtschaft besorgen satellitengesteuerte Landmaschinen die Felder, und Computer berechnen die richtige Aussaat und Düngung für jeden Acker.  Verantwortung dafür aber übernehmen sie nicht, die liegt nach wie vor bei den Landwirten, die wiederum von den Saatgutkonzernen abhängig werden. Nicht erst seit den neunziger Jahren sind diese Ideen bekannt. Bereits 1967 entwickelte das amerikanische Landwirtschaftsministerium eine entsprechende Vision für das Jahr 2000.

-  Im produzierenden Gewerbe nistete sich das Thema „Industrie 4.0“ in alle Aspekte der Vernetzung und Automatisierung. Auch hier geht es ausschließlich um Kontrolle, nicht um Verantwortung. Spätestens seit den achtziger Jahren sind diese Ideen bekannt. Damals wurden sie unter dem Namen Computer Integrated Manufacturung (CIM) zusammengefasst. Ein Megathema in der Industrie.

-  Im weitgespannten Dienstleistungssektor revolutionierte sich zum Beispiel das gesamte Versand- und Verlagswesen mitsamt allen Medien und Mechanismen. Allein die immensen Verschiebungen in den Werbeetats vom Print zum Web, das Aufkommen neuer Formate, bringen die Geschäftsprozesse der etablierten Medien völlig durcheinander. Längst hat man das Gefühl, dass ausgerechnet in dem Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen, alles außer Kontrolle gerät  Kontrolle ist zwar das Ziel aller Sozialen Medien, Verantwortung aber nicht. Auch diese Transformation ist spätestens seit der Jahrtausendwende zu beobachten.

Trotz dieses schon sehr langen Vorlaufs ist dies erst der Anfang der „vierten industriellen Revolution“, wie diese Epoche von Wissenschaftlern wie dem Saarbrücker Professor Wolfgang Wahlster als Ausdruck höchster Hilflosigkeit genannt wird.[7] Dabei hat sie mit Industrie nur noch wenig zu tun. Alle Bereiche unserer Wirtschaft und unseres Sozial- und Kulturlebens werden davon erfasst. Schneller als wir denken – und vielleicht auch schneller, als die Cyber–Giganten lenken.

Wenn man ganz genau hinschaut, dann sind Firmen wie Amazon, Google, Facebook, Apple und all die anderen netzgewordenen Service-Maschinen dabei, eine neue Wirklichkeitsschicht in unsere Wirtschaft einzuziehen. Sie automatisieren gnadenlos Dienstleistungen. Sie machen das so geschickt, dass wir gar nicht merken, was sich da eigentlich abspielt. Stattdessen werden wir durch Themen wie Künstliche Intelligenz und Datenschutz kolossal abgelenkt.

Dabei geht es nicht nur darum. Es geht nicht nur um Urheberrechte. Es geht nicht nur um Sascha Lobos „digitale Kränkung des Menschen“ durch die staatlichen und privatwirtschaftlichen „Spähapparate“.[8] Sich zu sehr damit zu beschäftigen, ist sogar gefährlich, weil wir uns damit selbst in die Enge treiben, auch in die Enge eines Denkens, das uns kein Stückchen weiterbringt.

Wir müssen über uns selbst nachdenken, nicht über die anderen, die Bösen, die Gierigen, die Mächtigen. Ihren omnipotenten Plänen und Begierden dürfen wir nicht zum Opfer fallen. Weder als Mensch, noch als Gesellschaft. Weder als Wirtschaft, noch als Staat.

„Wir müssten zurückkriechen“, meint der Alt-Informatiker Jaron Lanier in einem Interview mit der 'FAZ'. „Es wird eine Generation geben, die einstmals die verlorene Generation genannt werden wird.“[9] Eine ziemlich bestürzende Aussage. Aber muss es wirklich so weit kommen?

Da lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, eine Exkursion in Zeiten, als es noch kein Internet gab, als der Kampf um die Zukunft sich entfaltete, Kriege entfesselte und schlussendlich in unvorstellbaren Katastrophen endete...

Wir müssen erkennen, dass wir in einer Epoche der permanenten Zerstörung leben. Euphemistisch nennen wir diese Zerstörung, die uns als kreativ verkauft wurde, Transformation. Es ist eine Transformation, die stets die Zerstörung als unausgesprochenes Ziel hatte. Das geht bis in die als Drohung längst  allgegenwärtige Klimakatastrophe hinein, ein Begriff, der allein vor diesem Hintergrund Gültigkeit hat.

Wir müssen nun dieses Zeitalter der Zerstörung zerstören, das mit der Aufklärung begonnen hat und sich mit dem Bau der Atombombe selbst ein mögliches, welterschütterndes, alles vernichtende Ende setzte. Wir müssen lernen, über unsere Epoche hinaus zu denken, um sie betreten zu können.

Eigentlich haben wir das auch schon. Nur gibt es Kräfte, die mit aller Macht verhindern wollen, dass wir dies erkennen. Diese Kräfte sind verdammt gut darin. Sie nutzen schamlos unsere Angst vor dem Neuen aus, indem sie uns permanent etwas Altes als Neues verkaufen. Im Grunde genommen treten wir auf der Stelle, die uns im Hier & Jetzt gefangen hält.  

„Die Zivilisation muss sich gegen das Traumbild einer Welt verteidigen, die frei sein könnte“, meinte vor bald siebzig Jahren der Philosoph Herbert Marcuse in seinem Büchlein „Triebstruktur und Gesellschaft“. Wir verteidigen uns gegen etwas, was es nur als Trugbild gibt! Das ist hart. Die Zivilisation will gar nicht frei sein.

Deshalb sprach Marcuse von einer „technologischen Aufhebung des Individuums“, die sich im „Abstieg der sozialen Funktion der Familie“ widerspiegelt. Statt der Generationenkonflikte, bei denen die Jüngeren gegen die Älteren mit eigenen „Impulsen und Ideen“ auftraten und sich als sehr persönliche Erlebnisse behaupteten, stünde nun alles unter der anonymen „Herrschaft ökonomischer, politischer und kultureller Monopole“, hinter den alles Persönliche verschwindet: „vor den Bewegungen und eigenen Gesetzen des Apparates scheint jedermann, selbst wenn er an der Spitze steht, machtlos zu sein“.

Irgendwo unterwegs Foto: RV

Alles wird zur Verwaltung.

Marcuse: „Die Verantwortung für die Organisation seines Lebens liegt beim Ganzen, beim 'System', bei der Gesamtsumme der Institutionen, die seine Bedürfnisse bestimmen, befriedigen und lenken.“ [10] Was uns so abhängig macht, ist die Tatsache, dass alles so gut funktioniert – und sich immer weiter optimiert.

Aber der Preis ist enorm hoch. Er beruht auf der Zerstörung des Individuums. Nicht das Individuum wird als Ganzes, als – wie der Begriff Individuum besagt, als Ungeteiltes genommen, sondern das „System“, das sich aus Abertrilliarden von Daten ständig neu zusammensetzt. Es sind Daten, die wir freiwillig abgeliefert haben – bis man uns als Lieferanten auch nicht mehr braucht. Wirt werden in dieses System einfach nur hineinkopiert – vollkommen sinnentleert. ASls ein technischer Trick. Wir existieren nur noch als Nachahmung unserer selbst.

Das System wird autark. Aber ohne uns hat es sich längst schon selbst zerstört. Es ist vollkommen sinnlos. Nur weiß es das nicht. Und das ist es, was es so gefährlich macht. 


 

„Erkenne dich selbst!“ – „Gnothi seauton!“ – Nosce te ipsum!“ Dieser alte, griechische Götterspruch ist das, was seit zweieinhalbtausend Jahren unerschütterlich dagegen steht. Es ist das, was die Schönheit der Welt ausmacht.


Zum Tage: Totes Denken

 1988: „Im Großen und Ganzen ist unsere gesamte Kultur eine Kultur der Toten – der toten Menschen. Die Stoßkraft unseres Denken ist auf historische Begriffe ausgerichtet.“

Edward de Bono (1933-2021), maltesischer Mediziner und Kognitionswissenschaftler

Sonntag, 18. August 2024

Zum Tage: Fukuyama

 1994: »Die Natur der Macht ist nicht mehr länger entscheidend vom Territorium abhängig, von der Bevölkerungsgröße, den Bodenschätzen oder der geopolitischen Lage - also den traditionellen Besitztümern der internationalen Gesellschaft: Sie ist immer mehr an das Humankapital gebunden, an das Wissen und die Fertigkeiten verschiedener Bevölkerungen.«

Francis Fukuyama, Autor von »Das Ende der Geschichte«