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2017 - Als die Welt noch in ihrer Ordnung war
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1811: »Wie
der Wille,
so
muss auch der
Gedanke
beim Gehorsam anfangen.«
Tod und Teufel
Die Exekutive ist sich ihrer eigenen Macht nicht sicher.
Weil das so ist, will sie immer mehr davon, immer mehr Macht. Am Ende dominiert
das Motiv Selbstbehauptung alles. „Inzwischen sind überall gewaltige Apparate
entstanden, und alle mit der Lebenslänglichkeit der Beamten. Ist das notwendig?“
So fragte 1969 der Tübinger Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg (1904–1999)
zu einem Zeitpunkt, als der Staat als Arbeitgeber erst so richtig aufdrehte und
immer mehr Menschen in seine Solonichtselbständigkeit aufnahm. Aus
einer Million öffentlich Bediensteter wurde über alle Privatisierungswellen
hinweg mit den Jahren knapp fünf Millionen, davon ein gutes Drittel als Beamte.
Zur Selbsterhaltung ist dies allemal nützlich.
Notwendig ist diese Lebenslänglichkeit indes nicht, sondern ein
wichtiger, strategischer Teil der Selbstbehauptung. Um die geht es. Überall. Um
die Selbstbehauptung der Gesundheitssysteme, des Bildungswesens, der Regierung,
der Parteien, der Bundeswehr, der Polizei, der Bundesbank, der diversen Institute,
überhaupt aller Institutionen, auch des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Kurzum:
Die Systeme sind systemrelevant. Punkt. Aber sind sie auch menschheitsrelevant?
Wenigstens als unsere Schutzmacht, dem Urauftrag des Staates?
Die Lebenslänglichkeit des Beamten sichert nicht nur den
Arbeitsplatz, sondern festigt vor allem die Loyalität der Mitarbeiter, die noch
vor 25 Jahren von 65 Prozent der Deutschen als eine „privilegierte Klasse“
gesehen wurden.
Daran wird sich wohl nichts geändert haben. Eine Forsa-Umfrage ergab, dass 61
Prozent der Bürger den Staat bei der Erfüllung seiner Aufgaben für überfordert
halten. Kein sehr positives Urteil. Das war vor Corona. 2019. Das spricht nicht gerade für eine
Legitimation auf der Basis eigener Leistung. „Überall (…) arbeiten Beamte auf
Lebenszeit mit stark herabgesetztem Arbeitsplatzrisiko, dafür aber mit hoher
Unabhängigkeit“, schrieb 1992 Klaus Otto Nass (1931–2017), ehedem
Staatssekretär und Völkerrechtler an der Universität Hannover.
Da kam die Verheißung auf lebenslange Anstellung allen
zupass. Nun aber wird es eng. Denn an der Seitenlinie steht ein mächtiger
Feind, einer der alle Verhältnisse umdrehen kann. Aus einer Bundespost mit
angehängter Paketpost wurde unter der Herrschaft von Amazon eine Paketpost mit
angehängter Briefpost. Doch das war ja nur das Vorspiel. Die eigentlichen
Attacken kommen noch. Und sie werden
alle Ebenen staatlichen Handelns traktieren.
Sie greifen nicht das Gewaltmonopol des Staates an, sondern
sein bislang sorgsam gehütetes und bestens verstecktes Datenmonopol. Es ist das
Big Thing, das der Staat bislang für sich selbst beanspruchte – als ein irgendwie
gesetzlich verbrieftes Monopol. Aber darüber redet er nicht gerne.
Alle Daten gehen vom
Volke aus.
Doch dieses Datenmonopol wird ihm, dem Staat, von fremden,
zudem auch noch ausländischen Mächten mehr und mehr streitig gemacht. Es lauert
die Gefahr des imperialen Datentotalitarismus. Dem Staat droht dabei in seinem
Bemühen, seine Autorität zu schützen und zu wahren, eine weitaus größere Gefahr
als von wildgewordenen Finanzmärkten oder wütenden Medien.
Die Gefahr kommt von den Digitalkonzernen, wie er sie gerne
mit abfälligem Unterton nennt. Sie sind die teuersten Unternehmen der Welt,
Firmen, die wie Facebook vor 20 Jahren entweder noch gar nicht existierten oder
wie Google oder Amazon geheimnisumwittert waren. Die, die wie Microsoft und
Apple schon länger im Geschäft waren, glaubte man im Griff zu haben.
Pustekuchen.
Heute treiben diese Giganten die staatlichen Bürokratien in
aller Welt vor sich her, nur vor autokratischen Systemen kuschen sie schon
einmal und bringen den Steuerstaat in Bedrängnis. Prompt schlägt er zurück: „Wenn
Amazon, Apple und Google sich im Rahmen der Globalisierung die günstigsten
Lücken im Steuerrecht aussuchen, dann kann der Staat auf dieselbe Weise die
Gewaltenteilung umgehen und alle gesetzlichen Hemmnisse abstreifen, seine
Stärke, die im Innern gebunden ist, im Außenraum endlich ausleben“, meinte 2014
der deutsche Schriftsteller Günter Hack (*1971). Der Horizont wird
überschritten. Es gibt kein Halten mehr. Die ganze Widersprüchlichkeit einer
unkontrollierten Kontrolle hatte damals der Whistleblower Edward Snowden aufgedeckt,
als er die weltweiten Geheimdienstaktivitäten der USA und Großbritanniens
bloßstellte. Hack: „Snowden hat nichts weiter getan, als den Stöpsel aus der
Badewanne dieses Leviathans zu ziehen, nun liegt das mythische Monstrum nackt
vor uns und windet sich.“ Ja,
der Staat windet sich.
Der Rechtsstaat wackelt, je mehr er sich zum Machtstaat
aufschwingt. Er schlägt unreflektiert um sich. In seiner Gier, alles zu
kontrollieren oder kontrolliert zu sehen, hat er sich selbst nicht mehr im
Griff. Er kauft „Steuersünder–CDs“ von Informanten, die auf illegale Weise die
feilgebotenen Daten erworben haben. Immer
wieder bohrt er in Deutschland nach der Vorratsdatensammlung. In Großbritannien
boxte Premierminister Boris Johnson ein Gesetz durch, das die Regierung
ermächtigt, in den EU-Brexit-Nachverhandlungen Rechtsbruch zu begehen, wenn er
sein „Sicherheitsnetz“ bedroht sähe. In
den USA ließ sich ein Präsident durch nichts und niemanden mehr bändigen. Und.
Und. Und.
Selbst die Gerichte demonstrieren mit aller Macht – ihre Ohnmacht.
„An die Stelle der Vernunft tritt der Wille, an die Stelle der Wahrheit das
Interesse“, schreibt Volkmann. Und man musste in jenen bereits verdrängten Corona-Monaten
nur nach Asien schauen, um zu erkennen, wie Regierungen alles Recht hinter sich
lassen. Schon war man eher bereit, sich den Wünschen Chinas zu unterwerfen als
den Berechtigten Ansprüchen des NATO-Partners USA zu folgen.
Aus alldem kann man wunderbare Verschwörungstheorien mixen
und dabei sogar die besten Denker und Dichter als Kronzeugen auffahren lassen. Das
ist umso leichter, weil an der Oberfläche all die Elemente, die man für eine
schlüssige Verschwörungstheorie braucht, sehr kompakt sind und sich geradezu
beliebig miteinander konfigurieren lassen. Wir sind schon längst voll in der
gedanklichen Virtualisierung aller Lebensverhältnisse. Gekämpft wird jetzt um
die Oberhoheit. Da ist der Bürokratie die Autokratie Chinas näher als die
Demokratie Amerikas, der Staatsanspruch wichtiger als der Privatanspruch der
Digitalkonzerne.
»Der
Staatsmann muss die Dinge rechtzeitig herannahen sehen und sich darauf
einrichten. Versäumt er das, so kommt er mit seinen Maßregeln meist zu spät.«
Otto von Bismarck (1815–1898),
deutscher Staatsmann Der lange Zeit sich gedemütigt fühlende, beleidigte Staat
lässt nach und nach alle Hemmungen fallen und nutzt jede Chance, seine Macht zu
demonstrieren. Ihm mangelt es dabei an genau jener Sittlichkeit, die Hegel
dereinst von ihm forderte. „Es steht
schlecht mit dem Ansehen des Staates in unserer Welt“, hatte 1971 der Philosoph
Helmut Kuhn (1899–1991) geschrieben, „Hegel hatte ihm Göttlichkeit
zugeschrieben – ein Prädikat, auf das er keinen Anspruch hat.“
Aber der Staat versucht’s immer wieder, ein Teufel mit Heiligenschein, der sich
– wie es der „deutschen Innerlichkeit“ zu bemächtigen sucht. So nannte es der
Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Thomas Mann (1875–1955), als er am
29. Mai 1945 in der Library of Congress in Washington in einer Rede erklärte,
dass „es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur
eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse
Deutschland, das ist das fehlgegangene gute.“ Eine harte Aussage von jemandem,
der damals gerade an seinem Doktor Faustus arbeitete. Der Staat ein Teil von
jener Kraft, die stets das Gute will und doch nur das Böse schafft.
Nein, nein, das ist unerträglich. Für den Staat.
Auch jetzt sucht er ja das Gute – im Namen seiner
Sittlichkeit. Der Staat sucht die Hoheit über Wirtschaft und Gesellschaft, über
Forschung und Entwicklung, über unser Zuhause und unsere Arbeit. Über uns. Seine
Motive sind vielfältig. Im tiefsten Innern – vielleicht gar nicht im vollen
Maße bewusst – befürchtet er indes, dass die mächtigen Digitalkonzerne ihm weit
voraus sein könnten. Es ist eine uralte Angst, die vor langer Zeit von den
Giganten der Wirtschaft erzeugt wurde – von den Rockefellers, J.P. Morgans, von
AT&T und IBM. Diese Riesen standen im Verdacht, die Macht nicht nur über
ein Land, sondern über die ganze Welt zu übernehmen.
Wer zu mächtig wird, das lehren uns vor allem die USA, dem
droht staatlicherseits die Zerschlagung. Und die Europäer machen es ihnen nach,
obwohl in Geld lieber ist. Auch die Chinesen agieren so. Dabei wäre eine
Zerschlagung per Richterspruch gar nicht nötig. Denn in der Zwischenzeit vernichten
sich die Wirtschaftsriesen zumeist selbst von ganz allein. Aber solange mag und
kann der Staat nicht warten. Er will derjenige sein, dem das Verdienst zukommt,
die Kontrolle behalten zu haben. Jedenfalls möchte er diesen Schein wahren. Vor
allem aber will er sich selbst schützen.
So gehen die Kartellämter, Teil der Exekutive, nicht der
Jurisdiktion, gerne in Position gegen Google und Facebook, Amazon und Apple. Und
die Parlamente folgen treu und brav: „Diese Firmen haben zu viel Macht“, hieß
es 2020 in einem 449 Seiten starken Report des US–Repräsentantenhauses, an dem
die Abgeordneten über ein Jahr lang gearbeitet hatten. Die
Digitalmächte hätten „ihre Monopolmacht ausgenutzt, um sich als Torwächter des
Marktes“ aufzuführen, meinte der Republikaner Ken Buck. Irgendwann
werden sie vielleicht sogar die Torwächter des Staates sein, ihn kontrollieren,
statt von ihm kontrolliert zu werden.
Die Big Four oder auch Big Five sind die neuen Götter, die
das Potenzial besitzen, die alten Institutionen zu zerschmettern. Es wäre die
Fortsetzung der „Dialektik der Aufklärung“ im 21. Jahrhundert. Max Horkheimer
und Theodor W. Adorno schauen vom Philosophenhimmel herab fasziniert zu.
Das amerikanische Ehepaar Alvin und Heidi Toffler, dereinst
die Weltstars unter den Zukunftsforschern, hatte 1994 in dem Buch „Überleben im
21. Jahrhundert“ vorgeschlagen, sogar das Führen von Kriegen Privatkonzernen zu
überlassen.
Heute alles machbar: Amazon sorgt für die Logistik, Facebook für die Soldaten,
Apple für die Walkie-Talkies, und Google steuert die Waffensysteme. All die
anderen Digitalkonzerne können das Ganze noch mit ihren Systemen arrondieren.
Eine bürokratische Supermacht ließe sich konfigurieren, die auch den Frieden
managen kann und dabei „die moralische Beurteilung vollständig vom menschlichen
Handeln trennt, aufgrund der Wahnvorstellung, die Welt vollständiger zu machen,
als sie ist“, möchte man Zygmunt Bauman zitieren, der dies 1993 auf die
Potentiale einer „bürokratischen Ordnung der modernen Welt“ bezog. Nichts
anderes sind die Digitalgiganten: die Bürokraten des 21. Jahrhunderts. Wir
wissen es nur noch nicht. Auf jeden Fall – so unser teuflischer Verdacht und
unsere diabolische Unterstellung – hätten sie mit ihren ungelernten,
unterbezahlten, jederzeit kündbaren Mitarbeitern die Pandemie besser gemanagt.
Die Angst davor, dass Digitalkonzerne den Staat an den Rand
drängen könnten, ist durchaus real. Die Digitalisierung bindet schon jetzt mehr
Bürger an diese Konzerne, als es einem Staat gefallen kann. Nur noch ein autokratischer Totalstaat wie China kann das
Geschehen auf diesen Plattformen rigoros kontrollieren. Ein gewaltiges Dilemma
tut sich somit auf. Denn der Erfolg der Chinesen legitimiert Nachahmung. Der
Staat schützt dabei weniger seine Bürger als vielmehr sich selbst – nicht vor
uns, sondern vor diesen Digitalkonzernen.
„Wir leben in einer Welt, in der eine Handvoll
Technologiefirmen und eine größere Gruppe von Milliardären, denen sie gehören,
eine Macht besitzen, die beinahe absolut ist – unangefochten nicht nur von der
Politik, sondern auch von den Medien“, schrieb 2016 Evgeny Morozov (*1984),
amerikanischer Publizist weißrussischer Abstammung, in der `Süddeutschen
Zeitung‘.
Dagegen helfen auch nicht die Datenschutzgrundverordnung und alle anderen „Acts“.
Sie sind eher ein Zeichen der staatlichen Schwäche. Denn sie werfen die
Verantwortung zurück auf den einzelnen Bürger, schützen ihn nicht wirklich.
Um dem Bürger zu helfen, müsste der Staat die Erfassung, das
Sammeln und Speichern von Daten grundsätzlich verbieten, also auch sich selbst.
Weil er das natürlich nicht will, ist so etwas wie die Grundverordnung nur eine
Attrappe, ein Ausdruck der Hilflosigkeit, eine Bestimmung ins Unbestimmte. Zugleich
unternimmt der Staat immense Anstrengungen, um seine Kontrolle auszuweiten. „Es
sind großflächige Identifikations- und Speicherpflichten für Bezahlvorgänge
vorgesehen, die ein deutliches Zeichen setzen: Anonymes Bezahlen wird es nicht
mehr geben“, warnte im selben Jahr die deutsche Informatikerin Constanze Kurz
(*1974), Sprecherin der Chaos Computer Clubs, in ihrer exquisiten, aber wohl nicht
mehr wieterverfolgten ‚FAZ‘–Kolumne ‚Aus
dem Maschinenraum‘. Und
Markus Morgenroth (*1977), Informatiker und Autor, meinte 2013: „Der Mensch ist
digital vermessbar – je mehr Daten zur Verfügung stehen, desto besser lässt
sich sein Verhalten entschlüsseln und prognostizieren.“
Naja, für die Verhaltens-Steuerung durch die Pandemie reichte es noch nicht,
aber das war ja auch nur das Vorspiel.
Dennoch schien es lang so, als würde Corona den alten
Schutzstaat wieder in Amt und Würde zu setzen. Alle suchten seinen Schutz – und
stärkten ihn anfangs damit in seiner Rolle als Schutzmacht. In Deutschland. In
Europa. Überall in der Welt. Das diente auch seiner eigenen Rettung. Der Staat
gewann an Vertrauen und Glaubwürdigkeit, um dann im nächsten Augenblich genau
die Strategie zu wählen, um sie wieder zu verlieren. Er schützte nur sich
selbst.
Durch Corona war anfangs alles abgedeckt. Das Virus
garantierte Generalabsolution und versetzte den Staat wieder in den Zustand
höchster Sittlichkeit. „Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich
viel verzeihen müssen“, hatte uns der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn
(*1980) im Frühjahr 2020 gewarnt. Wir ahnen inzwischen, dass dieses
gegenseitige Verzeihen oberflächlich bleiben wird. Darunter lauert der alte
Leviathan, und er plustert sich mächtig auf – zum Zerplatzen.
Im Zeichen der Pandemie mutierte der Staat zu einem
Schutzmonster, zu einem Schuldenmonster, einem Regulierungsmonster, einem
Supermonster. Vor allem aber zu einem gigantischen Datenmonster. Überall in der
Welt. Das war die Außenwirkung. Nach innen aber wusste er nur zu genau, dass
ihm alles aus den Händen glitt. Die Finanzkrise hatte uns doch schon 2008 offenbart,
dass der Staat auch nicht annähernd wusste, was er da eigentlich zu
kontrollieren und zu regulieren versuchte. Und Wirecard hat ihm dies noch
einmal ins Stammbuch geschrieben. Lesen wird er es nicht. Nein, er scholzt sich
in die Erinnerunglücken.
Das Geld, um das es in der Finanzkrise 2007/2008 ging, war
in gigantischen Dunkeltaschen der Bilanzen, in Derivaten unvorstellbaren Ausmaßes,
versteckt. Unsichtbar. Wie das Virus, das man auch nicht sieht. Da half nur
noch Schauspielerei, die Selbstinszenierung. Damals wie heute. Und dieses
Geschäft beherrscht der Staat wie kein anderer. Aber dazu muss er uns eine
Heimat geben, ein Refugium, einen emotionalen Raum. Und er zog alle Register.
Mal tat er sanft, der Staat, mal machte er Angst. Mal plump
und trump, mal merkelte er herum, mal macronte er über allem. Jetzt scholzt er
sich durch die Haushalte. Am Ende rastert er sich – auf der Suche nach einer Antwort
auf reaktionäre Kräfte in der Bevölkerung – ein in den guten, alten Nationalstaat,
dem heimlichen Sehnsuchtsort der Kleinbürger, in dem alles wieder auf Normalmaß
schrumpft. Und der brave Bürger möchte gerne sein Wuinschdenken verwirklicht
sehen: So schlecht war es nicht, als wir nach dem Krieg unser
Selbstbestimmungsrecht zurückeroberten. Alles war überschaubar. Wir bilden uns
zurück – nun können wir sogar wieder stolz, auf unsere
Fußballnationalmannschaft sein. 2026 wird sie Weltmeister. .
Wir leben in einer Phase der Regression. Aber es sind nicht
die fünfziger Jahre, in die wir zurückfallen – in jene Epoche, als die Zahl der
Rentner noch klein und wir alle glücklich waren. War damals der Begriff der
Menschenwürde, der den Artikel 1 unseres Grundgesetzes ziert, nach Meinung des
Rechtsphilosophen Uwe Volkmann noch zukunftsgewandt, so wandelte sich sein
Verständnis seitdem komplett: „Mit disparater gewordenen Moralvorstellungen
übernimmt die Menschenwürde nun mehr und mehr die Rolle eines Bollwerks, das
Tendenzen der Individualisierung, Fragmentierung, Liberalisierung, vielleicht
auch der Enthemmung entgegengesetzt wird. So wie sie für die Anfangsjahre der
Republik etwas Vorausweisendes hatte,
bekommt sie dadurch nun einen rückwärtsgewandten Zug“, schrieb der Philosoph
2003 in der ‚FAZ‘ unter dem Titel „Vom Ende der Gewissheit“. Also auch ihn hat
dieses Unbestimmte, das dieses neue Jahrhundert mehr und mehr in seinen Griff
nimmt, erfasst. Unsere Würde ist unsere Maske. Sie schützt uns vor dem Teufel.
Wir besänftigen uns – in einer „Pandemie der Nostalgie“, wie
es der 2017 verstorbene Soziologe Bauman in seinem letzten Essay (Retropia) nannte.
Drei Jahre später war diese mentale Pandemie überall zu spüren. „Dieses Virus
entpuppt sich als Zeitmaschine“, meint der
bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov (*1968) und sieht
angesichts dessen, dass uns durch das Virus die Zukunft versperrt ist eine
Sehnsucht nach der Vergangenheit. „Die Zukunft ist unmöglich, aber was wir bei
der Hand haben, ist alle Vergangenheit der Welt.“ Genügt
uns dies auf Dauer?