Montag, 15. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 62) (Der Staat und wir)

2018: »Früher waren wir mutiger.«

Sigmar Gabriel (*1959), SPD–Politiker und Vizekanzler in Merkel-Zeiten

Die Demokraturen

Von Raimund Vollmer


 

Erinnerungen an eine Pandemie

 

Wir können schreiben und denken, was wir wollen. 

Der gute Staat hat gewonnen. Er hat die Hoheit über den Stammtischen. Er hat das Obereigentum über allem. Er schwebt über uns, weit über uns. Über unserem Geld und unserem Eigentum. Über Medien und Kunst. Selbst die Kritik an ihm hat er unter permissiver Kontrolle. Kritik kann ihn nicht mehr treffen, ist allenfalls Teil eines rein rhetorischen Medienspectaculums, sie ist nicht wirklich ernst, liegt auf jeden Fall immer auf seiner Linie, in mitunter gespielter Leidenschaft. Diskurs nennt man dies in altkluger, artiger Weise. Denn im Diskurs ist alles methodisch „eingehegt“, weit weg von jenen scharfen Debatten, mit denen die Generation der 68er den staatlichen Organen den Marsch blasen wollte, bevor sie dann selbst den Marsch durch die Institutionen antrat und in ihnen versackte. Nun hinterlässt diese Generation einen Staat, der unangreifbar geworden ist, an dem alles abprallt, durch dessen Maske nichts mehr dringt. Jede Kritik wirkt nur noch lächerlich. Ihr sind sämtliche Zähne gezogen. Selbst das Parlament, unser aller Repräsentation und erste Gewalt im Staat, muckt nicht mehr auf – und wenn doch, dann hat es den Anstrich einer Inszenierung. Man zählt die Clicks.

Dringt doch mal etwas an Pöbelei durch, dann wird dies schleunigst in die Hass- und Schmuddel-Ecke der Social Media verbannt, wo jene, die man sowieso nicht mag, für deren Löschung verantwortlich gemacht werden. Die Finger schmutzig machen sich immer nur die anderen. Ansonsten wird Kritik, je nach Tonlage, auf subtile Weise geächtet, auf arrogante Weise verachtet, verpönt und verhöhnt oder gutmütig an die Seite geschoben. So ging Woche für Woche ins Land. Der Lockdown funktionierte.

Noch nie war zugleich die professionelle Kritik dem Staat so treu und wir selbst dem Staat so nah wie in den Corona-Monaten des Jahres 2020. Eine verrückte Situation. Man möchte fast sagen: eine perfekte Verschwörung, wenn einem angesichts einer solchen Behauptung nicht das schlechte Gewissen packen würde. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Aber es gab keine Trennung mehr zwischen Staat, Wissenschaft, Wirtschaft, Medien. Jene Sphäre, die alles voneinander separierte und ordnete, existierte nicht mehr: die Gesellschaft. Der Bürger war isoliert. Zuhause. Home–Office. 

 „Abstand halten“ galt nur für uns, untereinander, als Ungesellschaft, nicht zum Staat, der war un so nah wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Lockdown kam alles zu einem Halt, es war so, alle wolle man für einen Moment innehalten, um sich zu orientieren und um dem Strom der permanenten Veränderung eine neue Richtung  zu geben. Es war, als habe die Politik nur auf diese Pause gewartet, die ihr die Corona-Pandemie bescherte, um sich selbst neu auszurichten. Sie bekam die Zeit, die sie brauchte, um ihre Macht zurückzugewinnen. Im Antlitz edelster Motive. Und sie genoss es.

Endlich konnte die Politik wieder ihre ganze Staatskunst zeigen, zumindest nach außen, nach innen sah es ganz anders aus: „Eine Verantwortung der Staatskunst ist, dass künftige Staatskunst möglich ist“, hat der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) in seinem 1979 erstmals veröffentlichten Buch „Das Prinzip Verantwortung“ geschrieben. Jonas meint, dass diese Verantwortung darauf zielt, dass nicht „Lakaien oder Roboter“ die Macht übernehmen, ein Maschinenstaat entsteht, ein Leviathan, sondern ein Menschenstaat. Jede Regierung muss an die nächste Regierung denken – solange sie das tut, ist alles gut. Und sie muss – wie wir alle – daran denken, „dass das, worauf Verantwortung sich sinngemäß bezieht, aktuelles und potentielles Leben ist, und zuallererst menschliches.“[2]

Das ist Munt, womit im Mittelalter der Schutz des Menschen gemeint war. Das ist die Inszenierung. Nach außen.

Aber nun stehen sie da – diese Regierungen. Irgendwie ohne Nachfolger mit mehr oder minder starker Tendenz zu Autokratien. In einer Demokratie ist die Nachfolge bis in die Verfassung hinein geregelt. Durch die Wahlen, durch das Parlament. Wenn dies indes an Bedeutung verliert, sich gar – wie in Ungarn selbst zeitweilig entmachtet – dann wird jede Verfassung hohl. Es wirkt wie eine Umkehrung der jüngsten Geschichte.

„Mitte der siebziger Jahre galt rund die Hälfte aller Staaten als ‚Autokratie`“, erinnerte 2008 der britische Star-Historiker Niall Ferguson (*1964) an den lange Zeit unaufhaltsamen Aufstieg der Demokratie. Diktaturen waren ein Auslaufmodell. „Bis 1998 hatte sich (deren) Zahl ziemlich genau halbiert. Und bis 2002 war sie auf weniger als 30 gesunken.“ Mehr als die Hälfte der Menschen lebten nun in einer Demokratie. Doch dann brach die Welle der Demokratisierung. So beobachtete dies jedenfalls die Denkfabrik Freedom House 2019, die die Entwicklung bis zurück ins Jahr 2005 analysiert. Und 2023 sei der Trend zu weniger Demokratie auch in den Ländern sichtbar, die zur freien Welt gehören. Eine unheimliche Entwicklung.

Autokratien sind im Vormarsch, schleichend und schleimend. Sie bedienen sich dabei vor allem der neuen Technologien.

Der Weltmeister in dieser Disziplin, China, würde sogar inzwischen sein reichhaltiges Instrumentarium an Überwachungs- und Zensurtechniken in die ganze Welt exportieren. Überall fänden sie gelehrige Schüler. Inzwischen verbietet Deutschland den Einsatz von Bauteilen des Elektronik-Konzerns Huawei in 5G-Netzen und ordnete deren Ersatz an.

Selbst in den Demokratien mit großer Tradition sei ein Nachlassen zu vermerken. Ein schleichender Prozess. Immer mehr Regierungschefs würden zum Beispiel versuchen, ihre Amtszeit über die gesetzlichen Bedingungen hinaus zu verlängern.[3] Ein Trump drohte sogar damit, selbst nach seiner Abwahl nicht zurückzutreten. Als das Freedom House ein Jahr später wieder seinen Bericht vorlegte, erfährt die Welt, dass nun auch im 14. Jahr hintereinander die Freiheit gelitten hatte. Und der Trend ist ungebrochen. „Der führungslose Kampf um die Demokratie“, nannte die Denkfabrik 2020 ihren Report.[4] Wieder ist es China, das über die Technik der Mobilfunknetze immer mehr „Einfluss über entscheidende Teile der Informations–Infrastruktur anderer Länder gewinnt.“ Die Technik gewinnt. Klammheimlich.  

Da deutet sich ein Wandel an, der uns beunruhigen sollte. Aber wir sind es nur oberflächlich – vielleicht auch aus dem Gefühl der Ohnmacht heraus, aber noch mehr der Bequemlichkeit.

Ansonsten nehmen wir unseren ganzen Mut zusannen und hauen uns selbst in die Tasten…

 



[1] Reutlinger General-Anzeiger, 21. November 2018, Isabelle Wurster: „Früher waren wir mutiger

[2] Hans Jonas, Frankfurt 1985, (Ersterscheinung 1979): „Das Prinzip Verantwortung, Seite 189

[4] Freedom House, 2020, „A Leaderless Struggle for Democracy

9 Kommentare:

Besserwisser hat gesagt…

Früher war alles besser!
Mein Opa

Anonym hat gesagt…

„Wir können schreiben und denken, was wir wollen.“
Damit haben wir gewonnen! Denn der Staat sind wir. Das hat an dieser Stelle vor wenigen Tagen erst unser sehr geschätzter Blogger höchst persönlich festgestellt!

Anonym hat gesagt…

Was genau ist Obereigentum? Und wenn schon Eigentum Diebstahl ist, was ist dann Obereigentum ??

Anonym hat gesagt…

Obereigentum ist das Eigentum von Clans.
Da wagt sich der Staat nicht mehr ran. Weder mit der Steuer, dem Geldwäschegesetz oder Diebstahlskonfiszierungen.

Anonym hat gesagt…

„Ich werde eine Autokratin sein, das ist mein Beruf. Und Gott der Herr möge es mir verzeihen. Das ist sein Beruf.@
Katharina II., die Große (1729 - 1796), russische Zarin von 1762 bis 1796

Anonym hat gesagt…

Katharina war deshalb groß, weil sie wusste, wie etwas in Russland laufen muss, um ein Riesenland zu regieren.
Peter der Große wusste es und Putin der Große auch.

Anonym hat gesagt…

"Jede Regierung muss an die nächste Regierung denken – solange sie das tut, ist alles gut."
Das ist faktisch bei unserem Wahl- und Versorgungssytem nicht zu verlangen von Regierung und Parlament.
Wenn man die übliche Personal- und Bildungsstruktur ansieht, dann weiß man ausserdem, dass sie nur an die aktuelle Legislaturperiode denken.
Das hat auch Vorteile: 2025 ist die Hälfte der Köppe wieder weg.
Dann in Verbänden, Gewerkschaften, Staatsbetrieben und auf ihren Beamtenposten.
Von dort aus holen sie sich dann die Subventionsknete. Sie wissen ja wo die Töpfe warten.

Besserwisser hat gesagt…

Meinen sie Putin den Kleinen, der aktuell Russland regiert???

Anonym hat gesagt…

"Staatskunst ist die kluge Anwendung persönlicher Niedertracht für das Allgemeinwohl."
Abraham Lincoln