Freitag, 19. Juli 2024

Arche Nova (1): 1996

 Vorbemerkung: Im nächsten Jahr ist es 50 Jahre her, dass mich mein Weg als Journalist in die IT-Branche führte. Ich hatte gerade meinen Redakteursbrief erhalten (Volontariat bei der Westdeutschen Zeitung in Düsseldorf) und wollte eigentlich in Tübingen studieren. Doch daraus wurde nichts, weil ich meine Zukunft in der Zukunft sah, in der - wie man damals altmodisch sagte - EDV-Branche. Nach einer Woche bei der CZ hatte ich allerdings schon die Schnauze voll: Und blieb - wenngleich mit ziemlicher Unruhe, weil ich, um mein mangelndes Wissen zu kompensieren, immer die Perspektive wechselte. Und das war einfach in einer Branche, die selbst immer wieder ihre Perspektive wechselte, bis sie sich auf sich selbst einpendelte. Nun habe ich angefangen, mal in meinen Texten herumzustöbern - und zu gucken, was ich in diesen fünf Jahrzehnten so alles journalistisch angestellt habe. Es ist eine willkürliche Auswahl, hat keine Struktur - wie diese Branche, die sich immer gerne eine geben möchte, aber dann auch immer wieder wunderbar daran scheitert. Weil irgendjemand eine bessere Idee hat. Raimund Vollmer

Das Protokoll des Marktes (1996) 

In Kali­for­nien begann an der Stan­ford Uni­ver­si­ty ein junger Mann namens Vinton G. Cerf (*1943) mit seinem Studium. Mathematik war das, was ihn faszinierte. Aber er interessierte sich in steigendem Maße für Com­pu­ter. Kurzum: Er war auf dem besten Weg, ein typischer IBMer zu werden.

So geschah es. 1965 heuerte er bei Big Blue an, um die Company zwei Jahre später wieder zu verlassen. Er drückte noch einmal die Schul­bank an der University of California in Los Angeles. Er machte dort seinen Doktor in Computerwissenschaften. Und 1969 geriet auch er in die Fänge des Staa­­tes. Für die Defence Advanced Research Pro­jects Agency (DARPA) sollte er den Aufbau eines gewaltigen, martialischen Netzwerkes leiten: das Advanced Re­search Projects Agency Net­work, besser & kürzer bekannt unter den Buchstaben AR­PA­NET. Es sollte den Wissenschaftlern helfen, noch schneller noch bessere Waffen zu ent­wickeln. Was auf dem Netz geschah, war Cerf indes so ziem­lich egal. Wie es zu funktionieren hatte, das war seine Aufgabe. Ein Bil­der­buch‑Ingenieur war gebo­ren. Er war auf dem Marsch zum Internet.[1]

Cerf ist heute eine weit über den Computerbereich gefeierte Be­rühmt­heit. Er gilt als der Mitbegründer des Internets, des schon jetzt legendären Pro­totyps der Infobahn, die unser Leben radikal ver­än­dern wird. Dabei hatte Cerf auf das, was mit seiner Schöp­fung ge­schah, nur einen geringen Einfluss.

Lektion 1: 1976 erhielt Cerf den Auf­trag, als Chefwissenschaftler der DAPRA zwei neue Kommu­ni­­kationsstandards zu ent­wic­keln: das Transaction Control Pro­to­col und das In­ter­net Protocol. Sechs Jahre später war das TCP/IP fertig, und 1983 wurde es konstitutioneller Bestand­teil des ARPANET. Zu diesem Zeit­punkt war das ARPANET vor allen Din­gen ein mili­tä­risches Netz. Es verband das Pentagon mit der zi­vi­len Rechner­welt. 300 Knotenrechner waren daran ange­schlos­sen, über die rund 50.000 amerikanische und euro­pä­ische Wis­sen­schaftler im Bereich der militärischen Forschung vir­tu­ell ko­ope­rierten. Doch der amerikanischen Regierung unter Präsident Ronald Reagan wurde dieses un­heim­lich. Sie hatte Angst, dass der bö­se Osten in das Netz ein­drin­gen und es zu Spionagezwecken miss­­­brau­chen würde. Kurzerhand kappte das Ver­tei­di­gungsministerium im Herbst 1983 die Leitungen und mauerte sich im Namen der Strategic Defence Ini­tia­tive (SDI) sein eigenes Hochsicher­heitsnetz, das MILNET. Die be­freun­de­ten Regie­run­gen waren er­bost, sahen sich vom Datenfluss abge­schnit­ten.[2] Es herrsch­ten je­doch die Gesetze des Kalten Krieges, den die USA ge­winnen wollten. Das ARPANET wurde in die Freiheit entlassen und verwandelte sich bald zu einem zi­vilen Wissenschaftsnetz, dem Internet. 1987 waren bereits 28.000 Rechner an­geschlossen. Aber das Netz ge­hörte niemandem. Bald konn­ten alle mitmachen. Ein neuer Markt ent­stand, aus dem institutionelle Macht für immer und ewig verbannt scheint. Hier zählten nur die »Kernkompetenzen der Hippie‑Kultur«, erinnert das britische Wirtschaftsmagazin ‚The Economist‘ an die Ur­sprünge des Netzes, das immerhin zur Zeit des kalifornischen Flower Powers initiiert worden war.[3] Vergeblich ver­suchten seit­dem die Re­gie­rungen die Kontrolle über das Internet zurückzuge­win­nen. Bald un­terwarfen sich sogar die mäch­ti­gen Computerfirmen und Telekoms seiner Marktmacht.

Lektion 2. Deren Entzauberung als Visionäre des Fortschritts geht übrigens ebenfalls zurück auf die achtziger Jahre ‑ und auf Cerf. Während des Kalten Krieges Zeit tobte nämlich noch eine ganz andere Ausein­an­der­setzung: der Krieg der Standards. Das Stichwort lautet Open Sy­stems Interconnection, das von der International Standar­di­sa­tion Organisation (ISO) seit 1977 angedacht und nun am Markt gegen IBMs proprietäre Systems Net­work Architecture (SNA) durchgesetzt werden sollte. Vor allem die Behörden und staatlichen Fernmelde­or­ganisationen legten sich mächtig dafür ins Zeug. Die ge­samte staat­liche Gewalt, von den Po­lizeibehörden bis hin zum Bil­dungs­­sektor, stand dahinter. Der Kampf wurde fast mit derselben Leidenschaft ge­führt wie der um das Betriebssystem Unix. Ja, beide standen für offene Systeme. Die Compu­ter­industrie, am Ende ganz besonders sogar die IBM, kuschte vor dieser institutionellen Macht. Mitte der neunziger Jahre redete niemand mehr von OSI. Aber nicht SNA hatte gesiegt, sondern TCP/IP ‑ und der Markt.

Woran war OSI gescheitert? Die Standardisierer hatten be­reits bei der Definition versucht, al­les hineinzupacken, was an Ent­wick­lungen am Horizont sichtbar wur­de. Vor allen Dingen aber wollten sie alles sicher & sauber machen. So scheiterten sie, weil Märkte weder sicher noch sauber sind. Sie woll­ten mit vorausei­len­der Intelligenz introvertiert und bürokratisch verwalten, was sich in der explosiven Genialität der Märkte von alleine gestaltet. Diese hatten sich bereits 1987 längst um TCP/IP ar­rondiert und damit arrangiert: Der Grund: TCP/IP war zwar nicht sicherer und sauberer als Open Systems Interconnec­tion, dafür aber offener.

Lektion 3. Ein weiteres Jahr später sollten sie überhaupt keinen Grund mehr ha­ben, sich OSI zuzuwenden. Der Ostblock löste sich auf, und das Internet konnte sich endlich aus jeglicher Form staatlicher Um­klam­merung befreien. Cerf hatte auf der ganzen Linie ge­siegt. Die Märkte, die politischen und die wirt­schaft­­li­chen, hatten für ihn die Arbeit gemacht. Mit dem Fall der Mauer in Berlin meldete sich das 21. Jahrhundert lautstark zu Wort. Damit wurde der alte institutionelle Rahmen, der des Ostens und der des Westens, gesprengt. Wie in einem Zeitraffer durchlebte seit­dem die wiedervereinigte Stadt noch einmal das alte Jahrhundert, wäh­rend sich gleichzeitig kaum weniger schnell das neue entfaltete.

 Ausgang 2024: ungewiss, ob sauberer, ob sicherer – mehr als fraglich.

 

(Verfasst 1996, Raimund Vollmer)


16 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Crowdstrike 😩

Besserwisser hat gesagt…

Das OSI-Modell war nie zur Implementierung gedacht, sondern ist nur ein konzeptionelles Modell. Es wird hauptsächlich zur Beschreibung, Diskussion und zum Verständnis einzelner Netzwerkfunktionen verwendet. TCP/IP ist jedoch vor allem dazu gedacht, eine bestimmte Reihe von Problemen zu lösen, anstatt als Generierungsbeschreibung für die gesamte Netzwerkkommunikation als Modell zu fungieren. Das OSI-Modell ist generisch und protokollunabhängig, aber die meisten Protokolle und Systeme halten sich daran, während das TCP/IP-Modell auf Standardprotokollen basiert, die das Internet (weiter-)entwickelt hat.

Anonym hat gesagt…

Der 1. Januar 1983 war in den USA ein "Flag Day", zumindest für die Systemadministratoren des Arpanets. An diesem Tag wurden die rund 200 Hostrechner vom alten NCP (Network Control Program) auf das moderne TCP/IP (Transmission Control Protocol/Internet Protocol) umgestellt.

Analüst hat gesagt…

Da wünsche ich anregendes Schmökern vor dem goldenen Jubiläum 👍

Analüst hat gesagt…

Wir treffen uns in zwei Jahren zum goldenen Abijubiläum in Ahaus. So Gott will

Raimund Vollmer hat gesagt…

Lieber Besserwisser, ja, das stimmt mit dem Referenzmodell, aber trotzdem musste es ja mit Software gefüllt werden. Meiner Meinung nach war TCP/IP anfangs nicht enthalten. Aber ich werde da mal in meiner "Arche Nova" nachschauen (wenn ich dazu Lust habe...)
Lieber Analüst, goldenes Abi habe ich hinter mir und Ahaus 1961. Es war eine schöne Kindheit im Münsterland, wie ich sie allen Kindern wünsche. So viel Freiheit wie möglich, so viel Erziehung wie nötig (lieber weniger). Ach ja...

Anonym hat gesagt…

"Die Zeit ist ein Fenster, in dem du kurz erscheinst."

Raimund Vollmer hat gesagt…

Zu: "Die Zeit ist..."
Ein schönes Zitat. Von wem?

Anonym hat gesagt…

Ursprünglich von Kafka:
"Das Leben ist ein Fenster,
in dem du kurz erscheinst."
Ich fand es nicht ganz perfekt.
Das Leben ist die gesamte Zeitspanne eines Menschen.
Für mich gibt es so mehr Sinn:
"Die Zeit ist ein Fenster,
in dem du kurz erscheinst."
Damit wird das Temporäre und Vorübergehende und das Verhältnis menschlichen Lebens zur Zeit offenkundiger.

Anonym hat gesagt…

......Wiederholungstag heute. Und die Welt steht still. Wieder mal wegen MS

Anonym hat gesagt…

Für eine Simulation seiner selbst müsste der Altenburger Journalist auf den Quantencomputer warten. Weil es darum geht,  die vielen Variablen zu jonglieren, Optimierungschancen abzugleichen und die Simulationen seiner psychischen Tiefen auszuloten und zu bewerten. Dafür braucht es unübliche Kapazitäten.

Anonym hat gesagt…

Nach 50 Jahren wird er einmal damit angefangen.

Anonym hat gesagt…

Verstehen Sie den Quantencomputer?

Besserwisser hat gesagt…

Dieser Altenburger Journalist ist doch absolut einzigartig und völlig unberechenbar! Selbst Quantencomputer stoßen bei diesem nichtdeterministischen Exemplar der Gattung Mensch an ihre Grenzen 😉

Anonym hat gesagt…

Zeit - Fenster=Windows - Stillstand - Déjà-Vu

Anonym hat gesagt…

👍