Montag, 22. März 2021

Big Data, Corona und Hegels Weltgeist

 Von Raimund Vollmer

 

Ist Big Data der neue Übermensch? Schaufenster in Zürich 2020 Quelle: R.V.


Unsere ganze Existenz hebt sich empor zu Big Data. Wir, die wir doch von uns behaupten eine „Sonderstellung“ in der Welt zu besitzen, nicht unbedingt ein „Geschöpf Gottes“, aber auch kein „arrivierter Affe“, sondern eher ein „Mängelwesen“, wir, wir erheben uns zu einer virtuellen, einer außermenschlichen Existenz, zu Big Data. So möchte man mit Begriffen des deutschen Philosophen Arnold Gehlen (1904-1976) spielen, um zu verstehen, was gerade mit uns passiert, mit uns, den Menschen, und mit uns, den Daten.  

Wir sind überall zuhause. „Zuhause bleiben“ - das ist für uns überall. „In Eis und Schnee nicht weniger als in Wüste und Hitze“, meint der deutsche Philosoph Henning Ottmann (*1944), sich auf Gehlen beziehend.[1] Im Wasser und auf See. Im Weltall und auf dem Mond. Doch nun wird unsere physische Existenz eingekerkert, während unsere Daten überall zuhause sind. 

Das „Mängelwesen“ bleibt daheim. Was zählt, sind die Daten, gehütet von mächtigen Institutionen, „die Normierung und Gesetzlichkeit, Selbstbescheidung und Verantwortlichkeit individuellen wie kollektiven Lebens steuern sollten“, wie die 'Neue Zürcher Zeitung' 1976 anlässlich des Todes von Arnold Gehlen schrieb und sich fragte, ob dessen Vorstellung vom „Staat nicht allzu sehr Hobbes' 'Leviathan' schmeichelt“.[2] Denn dieser Staat soll die Menschen auch vor den zersetzenden, den anarchischen Ideen der Intellektuellen schützen. Der Atem der totalen Vernunft weht über uns, lässt uns nicht mehr auf dumme Gedanken kommen.

Wir sind nicht nur ein von Gott und der Natur verlassenes Wesen. Die Natur sieht in uns längst einen erbitterten Feind und schlägt unbarmherzig zurück. Denn seit Jahrtausenden sind wir damit beschäftigt, die Natur nach unserem Willen umzuformen und auszubeuten. Wir setzen dazu alles ein, was wir haben. Unsere Arbeit, unser Denken, unseren Erfindungsgeist. Und doch sehen wir uns am Ende   in einer „biologisch hoffnungslosen“ Lage (Gehlen). Denn wir sind bis in die Pandemie hinein nichts anderes als „Roboter der Kunst des Überlebens“.[3] Wir gehorchen den Institutionen, die wir uns zu unserem Schutz geschaffen haben - weniger zum Schutz vor der Natur als vielmehr als Schutz vor uns selbst. Eine perfekte Welt. Durchgestylt und organisiert bis ins Letzte.  Nur dann, wenn wir den Fortschritt an uns selbst anwenden wollen, bei der Organisation des Impfens, scheinen wir an unsere Grenzen zu kommen.

Erreichen wir damit - so fragte sich Gehlen in seinen späten Lebensjahren - nicht vielleicht „das Ende der Geschichte“? So der Name eines Essays, Jahrzehnte bevor Francis Fukuyama aus dieser Überschrift einen Beststeller machte. Leben wir nicht schon längst in einer „Posthistoire“, in einer Zeit, die gar nichts mehr mit uns zu tun hat? Waren wir nicht bereits als Gefangene eines unendlichen „Regelkreises von Verwaltung und Industrie“ ('NZZ') dem totalen Stillstand ausgesetzt? 


Kleine Pause von Corona - Ein Schulhof im September 2020 Quelle: RV

 

Gab uns Corona nicht ganz einfach den letzten Rest? Zuhause bleiben. Einsicht zeigen. Vernünftig sein. Der Shutdown des Menschen - ist dies nicht genau das, was wir gerade erleben?

Wir, die Mängelwesen, auf Abstand gehalten. Wir, die Mängelwesen, kontaktgesperrt. Wir sind zuhause und zurückgeblieben.  Wir machen den Weg frei für eine Welt, in der alles in perfekter Harmonie aufeinander abgestimmt werden kann. Ohne uns. Widerspruchsfrei. Widerspruchslos. Alle unsere Daten, unsere eigenen, bald völlig durchgetesteten Daten, haben woanders ihr Zuhause. In der Cloud. Sie gehören faktisch nicht mehr uns. Niemand verbietet das Sammeln und Speichern. Man tut nur so. In Wirklichkeit - so diagnostizierte schon 1999 das britische Wirtschaftsmagazin 'The Economist' - werden nur die Gesetze erlassen und angewandt, „um die zu belangen, die diese Daten missbrauchen.“ Das war zu einer Zeit, als Google nur Insidern ein Begriff war. Weiter schrieb das liberale Britenblatt: „Die Menschen müssen sich darauf einstellen, dass sie einfach keine Privatsphäre mehr haben. Dies wird den größten sozialen Wandel der Moderne konstituieren.“[4] Und wir machen fröhlich mit, geben jeden Tag mehrfach unser informationelles Selbstbestimmungsrecht preis. Wir sind einverstanden. Cookies für jedermann, bis dass die Speicher platzen.

Doch ein bisschen Privatsphäre lasst man uns vorerst: Zuhause bleiben. Für die Fütterung ist gesorgt. 

Ein beklemmendes Szenario. Wir leben in einem Zoo, in dem wir uns nach Herzenslust kreativ betätigen dürfen - solange wir zuhause bleiben und unseren Garten pflegen. Schon der Umwelt und unseren Nachkommen zuliebe. „Ökologisch“ wäre damit „mehr gewonnen, als tausend Umweltgipfel vom Schlage Rio de Janeiro es je vermöchten“, hatte, 25 Jahre bevor die Pandemie uns in den Garten verbannte und die EU am 28. November 2019 den „Umwelt- und Klimanotstand ausrief, der Grünen-Klimapolitiker Reinhard Loske in der 'Zeit' geschrieben. 

Man reist nicht mehr ohne Mundschutz

 

Unsere Verbannung in die Bedeutungslosigkeit hat sich schon lange, sehr lange vorher angedeutet. Nun wird sie endgültig vollstreckt, so vollkommen und mit so viel Vorlauf implementiert, dass wir unsere Gefangennahme gar nicht mehr spüren. Das ist nicht unser aller Wille, kein „volonté de tous“, um mit Rousseau zu sprechen. Es ist ein „volonté générale“, ein allgemeiner Wille, ein Gemeinwille, systemimmanent. Wir stehen unter Hausarrest. Aber unsere Daten sind frei, vogelfrei. Jeder kann sie verraten.

Hegels „Weltgeist“

-         übernimmt, während wir zuhause in unserem Garten die Umwelt retten.

-         schreibt die Geschichte, während wir Nachrichten schauen. 

-         inszeniert das Welttheater, während wir uns Netflix serienweise reinziehen.

Und der „Weltgeist“ macht das alles sehr souverän. Er hält uns auf Abstand. In unserem Home-Office. Okay, noch ist es nur ein Test. Aber wir werden ihn bestehen, vor allem wir Deutschen. Wie alles. Kein Trump wird uns daran hindern können. Hier gilt: Germany first.

„Im Zentrum steht die modellgestützte Seuchenchoreographie, bei der nationale Neuinfektionen, regionale Behandlungskapazitäten und altersbedingte Immunisierungsraten in ein stabiles Fließgleichgewicht gebracht werden sollen“, schreibt John Schellnhuber (*1950), Gründer des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, am 16. April 2020 in der 'FAZ'.[5] Alles nur eine Frage des Gleichgewichts, eine Frage der Formel und damit prädestiniert für einen Algorithmus des Regierens. Am Ende muss die Covid-Kurve stimmen. Sie dominiert alles. Sie ist der sich selbst programmierende Weltgeist. Und er sagt uns: Es ist ja alles nicht so schlimm. Denn „Freiheits- und Gewerbebeschränkungen verlieren definitiv einen Teil ihres Schreckens, wenn man per Facebook oder Zoom Kontakt, Ausbildung und Beruf weiter pflegen kann“, heißt es bei Schellnhuber. Wir wissen: die Pandemie kann „durch strategische Intervention mit mächtigen Instrumenten beherrscht werden“. Das grenzt an Wunder, entspringt aber tatsächlich nur „kühl kalkulierenden Strategien, die sich an Datensätzen und Modellrechnungen orientieren“. Heile Welt gibt‘s nur daheim.

Nicht wir orientieren uns, sondern die Strategien. Und dann kommt es noch dicker. Schnellnhuber: „In einem beispiellosen Massenkurs wird gerade die Öffentlichkeit mit der zentralen Kurvenschar der Infektionsentwicklung vertraut gemacht.“ Die Fütterung der Raubtiere hat begonnen. 

Wir bleiben zoohause. Abstand halten.