»Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein,
kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste.«
Friedrich Schelling (1775–1854), deutscher Philosoph
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Ist Big Data der neue Übermensch? Schaufenster in Zürich 2020 Quelle: R.V. |
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Dieser Artikel erschien in seiner Urform bereits am 31. März 2021 - während der Pandemie. Ich habe ihn überarbeitet und veröffentliche ihn nochmals, weil
sich meine Gedanken geändert haben und sich ein nachfolgender, bislang unveröffentlichtes Gedankenexperiment auf ihn bezieht und
auf ihm aufbaut. Vielleicht ist diese Revision auch nach drei Jahren noch einmal lesenswert
- zumal mit den Erfahrungen von heute.
Digital
sind wir überall
Von Raimund Vollmer
Unsere ganze Existenz hebt sich empor zu Big Data. Es ist
Big Time. Es herrscht Corona. In uns und durch uns. Wir, die wir doch von uns
behaupten eine „Sonderstellung“ in der Welt zu besitzen, nicht unbedingt ein
„Geschöpf Gottes“, aber auch kein „arrivierter Affe“ zu sein, sondern eher ein
„Mängelwesen“, wir, wir erheben uns zu einer virtuellen, einer
außermenschlichen Existenz, zu Big Data.
So möchte man mit Begriffen des deutschen Philosophen Arnold
Gehlen (1904–1976) spielen, um zu verstehen, was gerade mit uns geschieht. Mit
uns, den Menschen. Durch uns, durch unsere Daten. Ob mit Corona oder wegen
Corona.
Wir sind zuhause. Zwangsweise. „Zuhause bleiben“, heißt es.
Nicht nur wegen Corona. Denn wir sind überall zuhause. Global. Schon längst.
Der Mensch ist überall. „In Eis und Schnee nicht weniger als in Wüste und
Hitze“, meinte 1993 der deutsche Philosoph Henning Ottmann (*1944), sich auf
Gehlen beziehend.
Im Wasser und auf See. Im Weltall und auf dem Mond. Nun ist unsere
physische Existenz eingekerkert, während unsere Daten überall zuhause sind. Digital
sind wir überall. Unterwegs und zuhause.
Nur das „Mängelwesen“, unser Körper, bleibt also daheim. Was
in der Welt zählt, sind die Daten, unsere Daten, gehütet von mächtigen
Institutionen, „die Normierung und Gesetzlichkeit, Selbstbescheidung und
Verantwortlichkeit individuellen wie kollektiven Lebens steuern sollten“, wie
die 'Neue Zürcher Zeitung' 1976 anlässlich des Todes von Arnold Gehlen schrieb
und sich fragte, ob dessen Vorstellung vom „Staat nicht allzu sehr Hobbes'
'Leviathan' schmeichelt“.
Denn dieser Staat soll die Menschen auch vor den zersetzenden, den anarchischen
Ideen der Intellektuellen schützen.
Der Atem der totalen Vernunft weht über uns, lässt uns nicht
mehr auf dumme oder krumme Gedanken kommen.
„Von Tacitus gibt es das Wort ‚Alle Sklaven sind
sklavisch‘“, zitierte 2006 Quentin Skinner (*1940), britischer Historiker und
Politikwissenschaftler, den römischen Geschichtsschreiber (58-120). „Damit
wollte er“, Tacitus, „sagen: Wenn man immer nur aus den Augenwinkeln darauf
schauen muss, wie der Herr das findet, was man gerade macht, verändert das den
Charakter. Man landet bei der Selbstzensur.“
Die hat uns längst im Griff. Sie agiert im Namen der
Vernunft, zu deren „politischem Sklaventum“ (Skinner) wir verdammt sind. Schon
lange vor Corona, schon lange vor Skinner. Das Virus hat lediglich das Werk
vollendet. Bei Georg Büchner (1813-1837) heißt es bereits in dem 1835
verfassten Drama „Dantons Tod“: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am
Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst.“ In seinem 1931 erschienenen Roman
„Der Schlafwandler“, also ein Jahrhundert weiter, sieht der österreichische
Schriftsteller Hermann Broch (1886-1951) den Menschen, wie er sich „am Faden
irgendeiner kurzatmigen Logik durch eine Traumlandschaft“ tastet, „die er
Wirklichkeit nennt und die ihm doch nur Alpdruck ist.“ Was wieder ein
Jahrhundert später geschrieben sein wird, wissen wir nicht, aber wir kommen
dieser Zukunft sehr rasch näher. Es gibt keine Drähte mehr, keine Fäden – wir
funktionieren „wireless“ und virtuell. Wir müssen uns nicht einmal mehr bewegen. Wir können zuhause
bleiben. Wir werden verwaltet.
„Ich sitze hier und bin nichts“, heißt es 1910 bei Rainer
Maria Rilke (1875-1926), diesem großen österreichischen Lyriker. Dessen Romanfigur
Malte Laurids Brigge, dieses selbsterkannte Nichts, fragt sich: „Ist es
möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion
und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?“
Ja, es ist möglich. Schon aus purer Bequemlichkeit.
„Man ist sich in einer Sache unsicher und entscheidet sich
für den ungefährlichen Weg“, analysiert Skinner. Das ist exakt der Weg der
Vernunft, die „sklavische Vorsicht“, an die wir seit Kindheit eingewöhnt wurden.
Im Westen wie im Osten. Skinner sagt: „Irgendwann redet man sich Gefahren ein,
die gar nicht da sind, oder einen drohenden Herrn, den es gar nicht gibt, nur
um den gemütlichen sklavischen Weg weitergehen zu können.“
Vielleicht liegt in diesem einen Satz mehr Wahrheit über die
Erfolge der AfD und des BSW als in allen anderen Wahlanalysen. Denn beide
Parteien verkaufen uns einen gemütlichen sklavischen Weg, ebenso perfide wie
perfekt gestaltet als Protest, als einen
Protest gegen eine Herrschaft, die es gar nicht mehr gibt, sondern die uns nur
noch vorgegaukelt wird – als staatsmännisch und gutmenschlich artikulierte Empörung
über diesen populistischen Protest.
Es ist auch deswegen ungefährlich, weil sich am Ende alle
Seiten irgendwie miteinander arrangieren werden – eben deshalb, weil es es für
alle am Ungefährlichsten ist.
Wir nehmen uns gegenseitig gefangen. Wunderbar.
So lösen wir unsere Probleme, indem wir unsere Probleme
nicht lösen. Das hat bisher immer funktioniert. Wir sind unsere eigenen
Sklaven.
Darin sind wir uns doch einig, oder? Denn darauf kommt es
an. Wir befinden uns in einem völlig neuen „Schöpfungsprozess für
Kollektivität“, um einen Begriff des deutschen Soziologen Karl Otto Hondrich
(1937-2007) zu verwenden. Es
ist wie beim Fußball. Meint er. Es zählt der Mannschaftsgeist, der über uns schwebt und sich uns von ganz allein mitteilt. Hondrich: "Nach einem Spiel sagen alle dasselbe. Und sie sagen es immer wieder."
Nicht irgendwie,
nicht irgendwo, nicht irgendwann. Jetzt.
Denn alles ist jetzt. Alles ist Prozess, der kein Ende findet, von dem wir nie mehr erlöst werden. Wir sind permanent
dabei. Als Zuschauende. Als Teilnehmende. Als Mitarbeitende. Als Lesende.
Als Elende. (Der Kalauer
musste jetzt sein.)
Fortsetzendes folgt.