Mittwoch, 11. September 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 67): Der ungefährliche Weg

»Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste.« 

 Friedrich Schelling (1775–1854), deutscher Philosoph 

 

Ist Big Data der neue Übermensch? Schaufenster in Zürich 2020 Quelle: R.V

 

 

 

 

 

D

Dieser Artikel erschien in seiner Urform bereits am 31. März 2021 - während der Pandemie. Ich habe ihn überarbeitet und veröffentliche ihn nochmals, weil sich meine Gedanken geändert haben und sich ein nachfolgender, bislang unveröffentlichtes Gedankenexperiment auf ihn bezieht und auf ihm aufbaut. Vielleicht ist diese Revision auch nach drei Jahren noch einmal lesenswert - zumal mit den Erfahrungen von heute. 

  

 Digital sind wir überall

  Von Raimund Vollmer 

Unsere ganze Existenz hebt sich empor zu Big Data. Es ist Big Time. Es herrscht Corona. In uns und durch uns. Wir, die wir doch von uns behaupten eine „Sonderstellung“ in der Welt zu besitzen, nicht unbedingt ein „Geschöpf Gottes“, aber auch kein „arrivierter Affe“ zu sein, sondern eher ein „Mängelwesen“, wir, wir erheben uns zu einer virtuellen, einer außermenschlichen Existenz, zu Big Data.

So möchte man mit Begriffen des deutschen Philosophen Arnold Gehlen (1904–1976) spielen, um zu verstehen, was gerade mit uns geschieht. Mit uns, den Menschen. Durch uns, durch unsere Daten. Ob mit Corona oder wegen Corona.

Wir sind zuhause. Zwangsweise. „Zuhause bleiben“, heißt es. Nicht nur wegen Corona. Denn wir sind überall zuhause. Global. Schon längst. Der Mensch ist überall. „In Eis und Schnee nicht weniger als in Wüste und Hitze“, meinte 1993 der deutsche Philosoph Henning Ottmann (*1944), sich auf Gehlen beziehend.[1] Im Wasser und auf See. Im Weltall und auf dem Mond. Nun ist unsere physische Existenz eingekerkert, während unsere Daten überall zuhause sind. Digital sind wir überall. Unterwegs und zuhause.

Nur das „Mängelwesen“, unser Körper, bleibt also daheim. Was in der Welt zählt, sind die Daten, unsere Daten, gehütet von mächtigen Institutionen, „die Normierung und Gesetzlichkeit, Selbstbescheidung und Verantwortlichkeit individuellen wie kollektiven Lebens steuern sollten“, wie die 'Neue Zürcher Zeitung' 1976 anlässlich des Todes von Arnold Gehlen schrieb und sich fragte, ob dessen Vorstellung vom „Staat nicht allzu sehr Hobbes' 'Leviathan' schmeichelt“.[2] Denn dieser Staat soll die Menschen auch vor den zersetzenden, den anarchischen Ideen der Intellektuellen schützen.

Der Atem der totalen Vernunft weht über uns, lässt uns nicht mehr auf dumme oder krumme Gedanken kommen.

„Von Tacitus gibt es das Wort ‚Alle Sklaven sind sklavisch‘“, zitierte 2006 Quentin Skinner (*1940), britischer Historiker und Politikwissenschaftler, den römischen Geschichtsschreiber (58-120). „Damit wollte er“, Tacitus, „sagen: Wenn man immer nur aus den Augenwinkeln darauf schauen muss, wie der Herr das findet, was man gerade macht, verändert das den Charakter. Man landet bei der Selbstzensur.“[3]

Die hat uns längst im Griff. Sie agiert im Namen der Vernunft, zu deren „politischem Sklaventum“ (Skinner) wir verdammt sind. Schon lange vor Corona, schon lange vor Skinner. Das Virus hat lediglich das Werk vollendet. Bei Georg Büchner (1813-1837) heißt es bereits in dem 1835 verfassten Drama „Dantons Tod“: „Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst.“ In seinem 1931 erschienenen Roman „Der Schlafwandler“, also ein Jahrhundert weiter, sieht der österreichische Schriftsteller Hermann Broch (1886-1951) den Menschen, wie er sich „am Faden irgendeiner kurzatmigen Logik durch eine Traumlandschaft“ tastet, „die er Wirklichkeit nennt und die ihm doch nur Alpdruck ist.“ Was wieder ein Jahrhundert später geschrieben sein wird, wissen wir nicht, aber wir kommen dieser Zukunft sehr rasch näher. Es gibt keine Drähte mehr, keine Fäden – wir funktionieren „wireless“ und virtuell. Wir müssen uns  nicht einmal mehr bewegen. Wir können zuhause bleiben. Wir werden verwaltet.

„Ich sitze hier und bin nichts“, heißt es 1910 bei Rainer Maria Rilke (1875-1926), diesem großen österreichischen Lyriker. Dessen Romanfigur Malte Laurids Brigge, dieses selbsterkannte Nichts, fragt sich: „Ist es möglich, dass man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist?“  

Ja, es ist möglich. Schon aus purer Bequemlichkeit.

„Man ist sich in einer Sache unsicher und entscheidet sich für den ungefährlichen Weg“, analysiert Skinner. Das ist exakt der Weg der Vernunft, die „sklavische Vorsicht“, an die wir seit Kindheit eingewöhnt wurden. Im Westen wie im Osten. Skinner sagt: „Irgendwann redet man sich Gefahren ein, die gar nicht da sind, oder einen drohenden Herrn, den es gar nicht gibt, nur um den gemütlichen sklavischen Weg weitergehen zu können.“

Vielleicht liegt in diesem einen Satz mehr Wahrheit über die Erfolge der AfD und des BSW als in allen anderen Wahlanalysen. Denn beide Parteien verkaufen uns einen gemütlichen sklavischen Weg, ebenso perfide wie perfekt gestaltet als  Protest, als einen Protest gegen eine Herrschaft, die es gar nicht mehr gibt, sondern die uns nur noch vorgegaukelt wird – als staatsmännisch und gutmenschlich artikulierte Empörung über diesen populistischen Protest.

Es ist auch deswegen ungefährlich, weil sich am Ende alle Seiten irgendwie miteinander arrangieren werden – eben deshalb, weil es es für alle am Ungefährlichsten ist.

Wir nehmen uns gegenseitig gefangen. Wunderbar.

So lösen wir unsere Probleme, indem wir unsere Probleme nicht lösen. Das hat bisher immer funktioniert. Wir sind unsere eigenen Sklaven.

Darin sind wir uns doch einig, oder? Denn darauf kommt es an. Wir befinden uns in einem völlig neuen „Schöpfungsprozess für Kollektivität“, um einen Begriff des deutschen Soziologen Karl Otto Hondrich (1937-2007) zu verwenden.[4] Es ist wie beim Fußball. Meint er. Es zählt der Mannschaftsgeist, der über uns schwebt und sich uns von ganz allein mitteilt. Hondrich: "Nach einem Spiel sagen alle dasselbe. Und sie sagen es immer wieder." 

Nicht irgendwie, nicht irgendwo, nicht irgendwann. Jetzt.

Denn alles ist jetzt. Alles ist Prozess, der kein Ende findet, von dem wir nie mehr erlöst werden. Wir sind permanent dabei. Als Zuschauende. Als Teilnehmende. Als Mitarbeitende. Als Lesende. 

Als Elende. (Der Kalauer musste jetzt sein.)

Fortsetzendes folgt. 

22 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Gefangen in der Matrix????

Anonym hat gesagt…

Irgendwie fängt irgendwann
Irgendwo die Zukunft an
Ich warte nicht mehr lang
Nena

Raimund Vollmer hat gesagt…

Gefangen in der der Matrix? Zuviel Ehre für die Matrix. Wir sind unsere eigenen Gefangene.

Anonym hat gesagt…

Mach deine Gedanken nicht zu deinem Gefängnis.
William Shakespeare

Analüst hat gesagt…

Seit Rad und Feuer erfunden wurden, gibt es keine einfachen Lösungen mehr.

Analüst hat gesagt…

Die Frage ist doch, ob wir uns auch als Gestaltende und Machende in diesen Prozess einbringen – oder ob wir Kafka das Feld überlassen und Erduldende werden...

Anonym hat gesagt…

Da liegen nun die Kartoffeln und schlafen ihrer Auferstehung entgegen.
G. C. Lichtenberg 1742 in Ober-Ramstadt als 17. Kind v
des Pfarrers und "sogleich wegen Schwachheit" getauft - 1799 und 'V. Classe' beerdigt.
Nachrichten vom kleinen L.
Satzeerk Verlag Göttingen

Anonym hat gesagt…

Jeder muss die Rolle finden, die zu ihm passt - und in der er hoffentlich zufrieden wird.
Der eine Mensch ist ein Dulder, der andere ein Streiter.

Anonym hat gesagt…

"Mehr Lichtenberg!"
Goethes letzte Worte

Anonym hat gesagt…

Die gesundesten und schönsten, regelmäßigst gebauten Leute sind die, die sich alles gefallen lassen. Sobald einer ein Gebrechen hat, so hat er seine eigne Meinung.
Georg Christoph Lichtenberg
---
Die Neigung des Menschen, kleine Dinge für wichtig zu halten, hat sehr viel Großes hervorgebracht.
Ders.
Nachrichten vom kleinen L

Anonym hat gesagt…

Es ist zu bedauern, dass Jesus Christus nicht länger gelebt hat, er wäre vielleicht der erste Renegat seiner Lehre geworden, vielleicht hätte er auch noch das Lachen gelernt und weniger oft geweint.
Friedrich Nietzsche
Stehlen ist oft seliger als nehmen
Reclam Stuttgart 2000

Anonym hat gesagt…

Goethe verließ am Freytag mit Paul und einem Weber den Keller im Eichendorff,
und schillerte auf dem Lichtenberg im Grass
bis er den Morgenstern sah.

Später ging er Heym mit einem Hauptmann, der einen Hochhuth trug,
als sie unterwegs einen Mann mit einem Zweig trafen,
der Frisch aussah, sich im Storm bewegte und der im Busch
gewachsen war.

Unter einer Fichte saß ein Raabe,
der Körner pickte,
und den sie mit einem Klopstock vertrieben.
Willy Meurer (1934 - 2018), deutsch-kanadischer Kaufmann und Publizist

Anonym hat gesagt…

Sinn, diese knappste aller Ressourcen, gibt es im Leben nicht - also feiern wir den Unsinn!
Am Anfang war der Unsinn!
Auch nach der Schöpfung ging es damit weiter.
Liegt im verbotenen Apfel Sinn, im Totschlag Kains?
Nur der Unsinn macht Leben, der Sinn lähmt uns!
Hugh!

Anonym hat gesagt…

„Das Tiefe, das der Geist von innen heraus, aber nur bis in sein vorstellendes Bewußtsein treibt und es in diesem stehen läßt, – und die Unwissenheit dieses Bewußtseins, was das ist, was es sagt, ist dieselbe Verknüpfung des Hohen und Niedrigen, welche an dem Lebendigen die Natur in der Verknüpfung des Organs seiner höchsten Vollendung, des Organs der Zeugung, – und des Organs des Pissens naiv ausdrückt. – Das unendliche Urteil als unendliches wäre die Vollendung des sich selbst erfassenden Lebens, das in der Vorstellung bleibende Bewußtsein desselben aber verhält sich als Pissen.“
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (in: Phänomenologie des Geistes, Kap. 5, Abschnitt A)

Anonym hat gesagt…

Ach! Immer sind ihrer nur wenige, deren Herz einen langen Mut und Übermut hat; und solchen bleibt auch der Geist geduldsam. Der Rest aber ist feige.
Friedrich Nietzsche
Von den Abtrünnigen

Anonym hat gesagt…

Als Gott den Menschen schuf, pflanzte er in ihn die Triebe und Neigungen. Zur gleichen Zeit aber setzte er den Verstand als ihrer aller heiligen Führer mitten unter den Sinnen auf den Thron und gab ihm ein Gesetz, dessen Befolgung ihm elne Königsherrschaft voll Mäßigung, Gerechtigkeit, Güte und Starkmut verhieß.
4. Makkabäer 2,21-23

Anonym hat gesagt…

Trösten kann kein Mensch, sondern nur die Zeit. Die Zeit, der schlaue Saturn, er heilt uns von jeder Wunde, um uns mit seiner Sense bald wieder eine neue Wunde ins Herz hineinzuschneiden.
Heinrich Heine

Anonym hat gesagt…

Wenn das Glück kommt, stell ihm einen Stuhl hin.
Jiddisches Sprichwort

Analüst hat gesagt…

Hunde pissen und Weiber kreischen, wann sie wollen.
Aus Köln

Anonym hat gesagt…

Glück und Glas, wie leicht bricht das?
Deutsche Sprichwort

Analüst hat gesagt…

Literatur ist gedruckter Unsinn.
August Strindberg

Besserwisser hat gesagt…

Praxis ohne Theorie leistet immer noch mehr als Theorie ohne Praxis.
Quintilian (um 30 - 96), römischer Rhetor, Schriftsteller, Lehrer der Beredsamkeit und Erzieher des Kaisers Domitian