1995: Welt im Brauseschritt
Vorbemerkung: Vor 30 Jahren eroberte der Netscape Navigator das Internet. Natürlich konnte auch ich nicht die Finger davon lassen und wollte unbedingt die Story dahinter schreiben. So entstand diese Geschichte, die ich unter folgendes Motto stellte:
Wer den Pfennig nicht ehrt,
ist der Milliarde nicht wert.
Für das Wirtschaftssystem, das sich dahinter aufbaute, hatte ich mir - selbstbewusst wie ich damals mit meinen 43 Jahren war - sogar einen Namen ausgedacht: "Techonomics" in Anlehnung an die "Reaganomics", mit der die Wirtschaftspolitik des US-Präsidenten Ronald Reagan bedacht worden war.
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Warum bewerteten Anleger im August 1995 eine 15 Monate junge Softwarefirma namens Netscape, die magere 16 Millionen Dollar umsetzt und keine Spur von Gewinn ausweist, bei der Börseneinführung mit sage & schreibe zwei Milliarden Dollar? Warum ließen die Anleger drei Wochen zuvor den Kurs der Softwarefirma Microsoft, die gerade einen neuen Quartalsgewinn von 368 Millionen Dollar ausgewiesen hatte, so stark fallen, dass der Gründer Bill Gates von einem Tag zum anderen um zwei Milliarden Dollar ärmer war?
Nun, da war Metcalfe's Law am Werk. (Demzufolge
„die von einem Netzwerk geschaffene Wertschöpfung
proportional zum Quadrat der Anzahl der verbundenen Benutzer“ beträgt. R.V.2024)
Gerade zwei Jahre ist es her (1993 R.V.) ‑ da katapultierte sich das Internet mitten hinein ins Multimedia‑Zeitalter. Ein bisschen Software hier, ein größeres Stück Software da, all das geschickt miteinander kombiniert ‑ und schon war das World Wide Web, die Multimediale des Internets, eröffnet. Seitdem wächst es Monat für Monat um 50 Prozent. Mehr als drei Millionen Pages wurden inzwischen auf 30.000 Servern kreiert und inszeniert. Die publizistische Seite ihres Angriffs auf die Lotus Development Corp. intonierte IBM im World Wide Web ‑ und eroberte damit schließlich die Herzen von Jim Manzi und seinen Mannen.
Das Web klingt. Das Web tönt. Das Web schönt die Botschaft durch Bilder und Video. Und wenn dieser raketenhafte Aufstieg, wenn die Metamorphose des textbasierenden Internets zur Picture Show irgendeinen Helden hat, dann ist es Marc Andreessen. Er ist Mitgründer von Netscape, die mit ihrem Navigator die Fensterpracht im Internet öffnete. Er schuf das echte Wunder‑Window 95.
Als »neuer elektronischer Messias« (The Economist) gefeiert, als Bill Gates der neunziger Jahre ausgerufen, gilt der 23jährige Wunderknabe schon als der heimliche Herrscher des Internets. Denn irgendjemand muss doch diese Rolle übernehmen. Ein Markt, der niemandem gehört, der als gesetzlos gilt, der alles aus sich selbst heraus kreiert, der völlig liberalisiert ist ‑ das kann es nicht geben, das darf es nicht geben, das wird es nicht geben.
Aber es gibt diesen Markt längst. Fernab von jeglichem bürokratischen Zugriff entstanden, hat sich das Internet einfach selbst geschaffen:
Es ist ein Parasit, der sich auf das multimilliardenschwere Fernmeldenetz der Welt draufgesetzt hat und sich nun mit Hilfe seines verwunderten Wirtes blitzschnell ausbreitet.
Die Marktforschungsfirma Forrester Research in Cambridge vermutet, dass das Investitionsvolumen an wirklich Internet‑spezifischer Hardware gerade mal weltweit 50 Millionen Dollar beträgt. Eine lächerliche Summe. Mit sparsamsten Mitteln wurde ein gigantisches System in Szene gesetzt, das heute mehr Computerbenutzer eint als die großen Informationssysteme der Geschäftswelt, die allein in den USA während der achtziger Jahre eine Billion Dollar dafür ausgab.
Und doch ist dieses Internet von unschätzbarem Wert, weil es letztlich die Investitionen aller ‑ der Wirtschaft ebenso wie der Privatleute ‑ in sich vereinen kann. Und es ist Andreessen, der der staunenden Welt zeigt, welche technomischen Kräfte dabei entfesselt werden.
Seine Geschichte ist schnell erzählt. Als Student der Universität von Illinois hatte er 1993 im Hypertext‑Verfahren ein Programm namens Mosaic geschaffen, mit dem die interaktiven Web‑User im Maus‑Klick‑Verfahren nun auch durch Multimedia‑Shows brausen konnten. Jeder durfte es benutzen. Kostenlos. Es war ein Geschenk der Universität an die gesamte Welt. Sie nahm es dankend an.
Auf diese winzige Schöpfung wurde ein Mann namens Jim Clark aufmerksam. Er war Chairman und Gründer von Silicon Graphics. Vergeblich hatte er versucht, seine Leute davon zu überzeugen, dass die Zukunft des Workstation‑Herstellers in der Herstellung von Niedrigpreisprodukten für den Information Highway läge. Doch er stieß auf taube Ohren. So räumte er im Februar 1994 seinen Sessel ‑ und wusste nicht, wohin mit sich selbst. Dann sah er Mosaic. Prompt fügte sich das Muster zusammen. Ein E‑Mail an Andreessen, zwei Monate später war die Firma Mocaic Communications im kalifornischen Mountain View gegründet. Startkapital: vier Millionen Dollar. Schon ging's ans Werk.
Denn ein neues Mosaic, einen besseren und sicheren Browser, wollte die junge Firma schaffen. Im November 1994 tauchte dieser Mosaic‑Killer erstmals im Netz auf. Sein Name: Netscape Navigator. Einen Monat später firmierte das Unternehmen um und benannte sich analog zu ihrem wichtigsten Produkt: Netscape Communications. Endlich hatte Andreessen etwas in der Hand, was ihm und seinen Partnern gehörte: eine richtige Ware. Es fehlte nur noch das Preisschild. Doch was tat der junge Bursche? Er verschenkte sein Netscape ans Netz. Dort gebärdete sich der Navigator als echter Mausfänger. Sieben Monate später, im Juli 1995, folgten zwei Drittel der insgesamt neun Millionen browser im Web auf die Kommandos des Navigators.
Womit aber will die Firma ihr Geld verdienen, wenn sie ihr Produkt verschenkt? Ganz einfach! Wer navigieren möchte, braucht einen Cyberspace. Das ist die Welt der Inhalte, durch die der Benutzer herumbrausen kann. Auch auf dem Informations‑Marktplatz gibt es Nachfrager und Anbieter. Letzteren, die ihre multimedialen Offerten fit machen wollen für das Web, verkauft Netscape zu Preisen zwischen 1.500 und 50.000 Dollar ihre Software. Rund 70 Prozent des Marktes für diese Art der Server‑Software hat Netscape auf sich vereint. Diesen hohen Anteil hätte sie nie bekommen, wenn sie ihren Browser nicht an jedermann verschenkt hätte. Auch auf die spektakulären zwei Milliarden Dollar Börsenkapitalisierung wäre Netscape niemals abgesaust.
Nach dem Netz‑Gesetz von Metcalfe ist die sieben Millionen mal verschenkte Software im Kleinen nichts wert. Gerade mal 0,7 Cents je Kopie. Ein Pfennig‑Wert, den einzutreiben sich einfach nicht lohnt. Doch dieser multipliziert sich zu einem Marktwert von 44.721 Dollar. Erhebt man allerdings die Zahl zum Quadrat, dann kommt man auf etwa zwei Milliarden Dollar. Das war der Börse die Firma wert.
Und sie überraschte mit dieser Summe jeden, sich selbst am meisten. Die Investmentbanker hatten den Wert von Netscape irgendwo zwischen 480 und 560 Millionen Dollar taxiert. Und eine Verdoppelung schien ihnen durchaus möglich. Aber nun hatten die Anleger den Betrag vervierfacht! Die Techonomics hatten zugeschlagen.
Nun lastet auf der jungen Firma ein enormer Druck, der Druck des Erfolges und der Erwartung. Kann sie dem standhalten? Ja, wenn sie die Techonomics des Internets auch weiterhin anwendet. Und Andreessen hat dabei keine Angst vor den großen Namen, vor dem Establishment. Die Geschäftswelt ist eher sein Freund. An sie verkauft er. Was ihn quält, ist, dass irgendwo auf der Welt wieder ein Pfennigwert entsteht...
(Raimund Vollmer)
11 Kommentare:
https://www.techonomics.news/about/
Die Revolution frisst ihre Kinder: Den Navigator gibt es nicht mehr – und auch der Internet Explorer ist längst in Rente...
Warum bewerteten Anleger im August 1995 eine 15 Monate junge Softwarefirma namens Netscape, die magere 16 Millionen Dollar umsetzt und keine Spur von Gewinn ausweist, bei der Börseneinführung mit sage & schreibe zwei Milliarden Dollar?
Weil sie gierig sind, diese Spekulanten????
Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Dollars nicht wert...
Volkmund
Börse ist Erwartung und Hoffnung.
Vergleichbar mit einer Verlobung.
...den Pfennig gibt's auch nicht mehr.
.....und wer von uns nicht auch?
Wie lange gibt's uns noch?
Gibt es dann ein Archv, das uns zur Ruhe gebettet hat?
Gibt es dann noch einen Archivar, der uns mit feinem Pinsel ans Licht bringt und dann auch ins Licht hält?
Oder sind wir nach vielen Softwarewechseln und verkorksten Updates, von der späteren Technik nicht mehr erkennbar?
Gibt es dann einen Archivar, der auf uns verweist, der uns erklären kann. Oder werden wir nur ausgestellt, aber nicht mehr verstanden? Werden von Historikern mit selbssicheren Gefasel unserer eigenen Geschichte beraubt? Oder sind die Sanddünen der Geschichte einfach über uns hinweggefegt und haben uns im Vergessen begraben?
So wie es aussieht, wird der jüngste Tag und unsere Auferstehung lange Zeit nicht kommen.
Es kann dann sein, das wir uns selbst nicht mehr erkennen, uns nicht mehr begreifen, uns und unsere Zeit vergessen haben - weil wir alten Ballast im Paradies nicht mehr brauchen.
Denn wer sagt, dass wir auf dem langen Weg dahin, nicht genauso vergesslich sind wie heute?
Gott? Oder der Teufel??
Zu: "Wie lange gibt's uns noch?"
Es ist ein Beitrag, der mich sehr berührt. Ich weiß nicht, wer Ihr, die Ihr schreibt, eigentlich seid. Aber ich spüre eine Sensibilität, die mir sehr vertraut ist. Ich bin perplex. Vielleicht sind wir alle doch nicht so einsam. Danke.
Mich auch!
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