Vernunft ist eine blutige Macht.
Michel Foucault (1926-1984), französischer Philosoph
1975: »Es gibt keinen Präzedenzfall für die Macht, die der Mensch in den letzten zweihundert Jahren über die Biosphäre erlangt hat. Unter diesen verwirrenden Umständen kann nur eine Voraussage mit Gewissheit gemacht werden: Der Mensch, das Kind der Mutter Erde, würde das Verbrechen des Muttermordes nicht überleben.«
Arnold Toynbee (1889-1975), letzter Universalhistoriker,
in seinem postum erschienenen Werk „Menschheit und Mutter Erde“[1]
Die Schrift war eine kalte Erfindung der Sumerer. Sie organisierten damit im 3. Jahrtausend vor Christus ihre komplexe Wirtschaft, ihre Existenz. Das war praktisch. Das war nützlich – und sehr materialistisch.
Die Geschichte nahm ihren Lauf. Immer mehr Worte und Symbole. Immer mehr Schriften. Immer mehr Wissen. Immer mehr Geschichte. Nun haben wir – wie der ungarische Schriftsteller György Konrád (1933-2013) zur Jahrtausendwende schrieb – den „wimmelnden Weltsalat“.
Es war die Neuzeit, die unserem Leben mit einer Fülle von Schriften eine völlig neue Richtung gab. Vor 250 Jahren. Diese Schriften schufen die Präfakten unserer Welt, prägten sie, programmierten sie. Sie sind unsere Vor-Schriften. Ohne Widerrede. Sie sichern unsere Existenz. Durch permanente Transformation und Instruktion. Sie sind uns Befehl. Jetzt und immerdar. Aber sie sagen uns nicht, wohin das führt. Fortschritt ohne Ziel.
Da war 1769 das Patent auf die Dampfmaschine. Nicht deren Erfindung, sondern deren Patentierung gilt als das Datum, mit der die industrielle Revolution losgetreten wurde. Die Kohle, gerade als neue Ressource entdeckt, lieferte die thermodynamische Energie, um alles in Bewegung zu bringen. Seitdem hämmert der technische Fortschritt auf uns herab. Schneller und schneller. Für immer. So glauben wir.
Dennoch sind Technik und Industrie längst nicht mehr alles. Bruno Sacco(*1933), legendärer Chefdesigner bei der Daimler–Benz AG, meinte 1989, wir leben „in einem Zeitalter des Übergangs zwischen einer industrie-orientierten oder technik-orientierten Gesellschaft,“ hin zu einer, „die beginnt all diese Dinge in Zweifel zu ziehen“.[1] Aus guten Gründen. Zu machtvoll wurden Technik und Wirtschaft, um uns als Mensch zu achten. Schon werden wir in Deutschland als Steuernummer geboren, als Steuernummer überleben wir sogar noch unseren eigenen Tod – als Erbfall, der auf seinen unerbittlichen Steuerbefehl wartet. Eine erbärmliche Existenz, eine erbärmliche Nummer. Wir sind nur noch Objekt, Transformationsobjekt ins nirgendwo.
Ein kleines Mädchen musste kommen, um uns zu sagen, dass wir nackt sind. Sie musste uns daran erinnern, dass wir ganz persönlich verantwortlich sind für das Ganze. Und zwar jetzt.
Eine Pandemie warf uns dann vollends auf uns selbst zurück. Jetzt sehen wir, dass alles, wozu wir fähig sind, ein Streit um Patente ist, um geistiges Eigentum, um Schriften. Und irgendeiner bricht sogar noch einen brutalen und völlig anachronistisch anmutenden Streit um Land und Leute vom Zaun. Ist das unsere Zukunft? Ein permanenter Kampf gegen Krankheit und Krisen, Krieg und Klimakatastrophen?
Das reicht nicht. Helfen uns da noch die Schriften weiter, die uns seit einem Vierteljahrtausend den Weg in die Zukunft wiesen?
Da war das Erscheinen des Werkes „The wealth of nations“ von Adam Smith am 9. März 1776. Er, der Schotte, der einen Lehrstuhl für Moralphilosophie besaß, bestimmte: Nicht auf Gold und Silber, sondern auf der Dynamik einer freien Wirtschaft basiert der Wohlstand. Nicht Herrschaft und Knechtschaft prägen unser Verhalten, sondern unsere ureigenen, individuellen Interessen. Es war „das erste umfassende theoretische System einer Wirtschaftswissenschaft“, bemerkte 1987 Wolfgang Zank, Historiker an der Universität von Aarlborg.[1] Für die Wochenzeitung 'Die Zeit' war es 1999 „die Bibel der Liberalen“, ein Buch, das „wie kein anderes Einfluss auf die Wirtschaftswissenschaft genommen“ hat. Aber nicht nur dort.[2]
Von unsichtbarer Hand gelenkt, so die Theorie, würde das persönliche Streben nach »eigenem Gewinn« dafür sorgen, dass sich, ohne dass dies beabsichtigt war, die Lebensverhältnisse aller verbesserten. 1773 hatte der Schotte diese Theorie entwickelt, als er auf dem Wochenmarkt seiner Heimatstadt Kirkcaldy das kleinliche Gefeilsche zwischen Bauern, Händlern und Handwerkern um die Waren und deren Preis beobachtete. So wurde Smith schließlich der »Adam der Volkswirtschaft«, wie ihn der deutsche Ökonom und Manager Wilhelm Hankel 1975 in seinem Buch »Helden der Wirtschaft« nannte.[3] Sein Credo durchseelt seitdem jede Wirtschaftskonferenz.
Doch beinahe wäre nichts daraus geworden, hört man. Denn drei Jahre lang hielt der Geistesriese Adam, der auch Theologie studiert hatte, sein Werk unter Verschluss. Erst als die Amerikaner im Umfeld des Jahres 1776 damit begannen, sich wirtschaftlich mehr und mehr von der englischen Krone zu befreien, publizierte er sein Werk.[4] Jetzt gab es endlich die Welt, in der am großen Ganzen das ausprobiert werden konnte, was da so effizient und effektiv auf dem Wochenmarkt von Kirkcaldy gewirkt hatte. Und die Amerikaner schufen sich damit ihre Neue Welt. Es entstand die Nation of Wealth, die größte Wirtschaftsmaschine in der Geschichte.
Der Kapitalismus hatte sein Evangelium. Für immer. So glauben wir. Zugleich wächst das Unbehagen: „Heute erleben wir nicht nur in Deutschland, dass ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung vom Wachstum profitiert“, fordert Pirmin Spiegel (*1957), Geschäftsführer des Hilfswerkes Misereor, eine andere „Wirtschaftslogik“.[5] Die „soziale Marktwirtschaft“ genüge da nicht. Sie bereitet allenfalls den Weg zu dem vor, was sich die Französische Revolution auf die Fahnen geschrieben hatte: „Brüderlichkeit“. Viel anfangen können wir damit nicht, fragen uns nur, ob es nicht politisch korrekt Geschwisterlichkeit heißen solle. Aber das ist eine andere Diskussion, die uns ablenkt von dem, was wirklich wichtig wäre.
Auf jeden Fall gestand uns Smith eine ordentliche Portion Empathie zu, als er meinte, dass der Mensch „einige Prinzipien in seiner Natur“ habe, die „ihn an dem Schicksal der anderen interessieren“ würde und an deren „Glück“ er teilhabe, allein aus dem „Vergnügen heraus, es zu sehen.“[6] Da war ein Hauch von Brüderlichkeit. Nicht vermittelt durch einen Markt, sondern einfach so. Unvermittelt.
Das Vergnügen ist verschwunden. Stattdessen kommen wir aus Neid und Missgunst nicht mehr heraus. Brüderlichkeit? Pustekuchen. Treibende Kraft bleibt der Egoismus.
Da war die Erklärung der Menschenrechte. In Virginia war sie am 12. Juni 1776 vom Konvent erstmals aufgenommen worden. Einen knappen Monat später, am 4. Juli 1776, fand sie ihren epochalen Widerhall in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die in gerade einmal 500 Exemplaren veröffentlicht wurde. Als eins davon im Jahr 2001 im Internet bei Sotheby's versteigert wurde, brachte dies 8,14 Millionen Dollar.[7] Alles bekommt im Netz ein Preisschild. Der Markt triumphiert über die Menschenrechte.
Am 17. September 1787 gaben sich die Amerikaner eine Verfassung, deren Präambel in der ersten Person Plural gehalten wurde – damit feststand, wer der Souverän war: „We the people. Wir, das Volk.“ So begann der Text. In einer deutschen Übersetzung von 1922 steht diese Formulierung am Ende des ersten Absatzes.[8] Weder das deutsche Grundgesetz, obwohl es im Parlamentarischen Rat vorgeschlagen wurde, noch die 2005 gescheiterte europäische Verfassung wählten in ihren Einstiegstexten die Wir-Form. Auch die Weimarer Verfassung von 1919 sieht „Das deutsche Volk“ nicht als wir, sondern unpersönlich, über sich selbst stehend, akademisch abstrakt. Verfügbar. Disponibel. So soll das Volk sein. Ja, in den Diskussionen und Verhandlungen um das Grundgesetz, hätte die SPD am liebsten darin ein reines „Verwaltungsstatut“ gesehen, schrieb 1974 die Wochenzeitung „Die Zeit“. [9] Es war der Erste Regierende Bürgermeister von Hamburg, Max Brauer, der den Begriff Grundgesetz prägte, auf den man sich dann schließlich einigte. Alles war Provisorium. Auch Bonn, die neue Bundeshauptstadt.
Man traute uns nicht. Man traute sich selbst nicht. Dafür sei stellvertretend der Radikalenerlass vom 28. Januar 1972 genannt. 3,5 Millionen Menschen, die in den öffentlichen Dienst aufgenommen werden wollten, wurden auf der Basis dieser Bestimmung überprüft. Mit Würde hatte das wenig zu tun, eher mit Schutz des Staates vor uns. Doch „uns“ gibt es nicht. Wir sind immer nur dritte Person. Der Mensch, ein Objekt, kein Subjekt.
Sagt uns letztlich auch und gerade in seiner vornehmer Distanziertheit der Artikel 1 des Grundgesetzes. Brüderlichkeit ist irgendwie nicht erwünscht. Sie wurde dem Sozialen geopfert. Das stärkt vor allem den Staat. Klingt bitter, klingt hart, was aber nichts daran ändert, dass das Grundgesetz das Beste ist, was uns passieren konnte. Wir müssen es uns nur zu eigen machen. Nicht durch wohlfeiles Lob, sondern durch die von ihr selbst erst ermöglichte Kritik. Jeden Tag auf Neue. Unter uns. Von Mensch zu Mensch.
Hinter allem, was Demokratie ist, steht die Erklärung der Menschenrechte, die „Bill of Rights“. Am 25 September 1789 waren sie vom amerikanischen Kongress beschlossen worden und der Verfassung beigefügt worden. Die Menschenrechte waren mit der „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“ am 26. August 1789 auch Teil der Französischen Revolution geworden, sechs Wochen nach dem Sturm auf die Bastille.
Als jedoch die Franzosen am 14. Juli 1989 in Paris den Jahrestag ihrer Revolution feierten, war alles abgesperrt. Für die Prominenz. Das Volk wurde „zum Zaungast seiner eigenen Geschichte“, schrieb die 'Süddeutsche Zeitung'.[10] Zudem war damals Jacques Chirac Bürgermeister von Paris, ein Rivale des Präsidenten Francois Mitterrand, der seinem Konkurrenten nicht die große Bühne gönnte.[11] Die wollte er für sich selbst beanspruchen – durch einen G7-Gipfel, der in Paris im Revolutionsmonat Juli stattfinden sollte.[12] Hier sollte es um die Zukunft gehen, nicht um die Vergangenheit. Die Mächtigen der Welt unter sich, das Volk nur Zuschauer.
Wir sind und bleiben dritte Person. Regierbar. Regulierbar.
Aber machen wir uns nicht selbst zu Zaungästen? Überlassen wir nicht allzu gerne die Politik sich selbst? „Wir, die wir für die kommenden Generationen wirken, wir, auf die die Welt blickt“, hatte am 1. August 1793 der Revolutionsführer George Danton auf dem Nationalkonvent posaunt. Doch der ganze Pathos ist längst verschwunden. Selbst die Generation „Friday for Future“ ist nichts anderes als eine Demonstration purer Zukunftsangst.[13]