Sonntag, 19. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 35) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (13)

1974: Mein Archiv
 „Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen.“

Sir Winston Churchill (1874-1965), englischer Staatsmann

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 Von Raimund Vollmer 

Macht & Gewalt

 

 

Dann schimmert durch die 21er Schrift ‚Schwarzrotgold‘ der Bundesregierung doch noch der kritische Möllers durch: „Viele Entscheidungen wurden in der Ministerpräsidentenkonferenz unter Ausschluss der Öffentlichkeit getroffen. Wenn das zum Dauerzustand geworden wäre, dann hätte ich größte Bedenken.“ Das klingt nach Distanz – aber nur nach der Distanz zu einer föderalen Einrichtung, deren Handlungsanweisungen „praktisch nicht gut funktioniert“ haben. Eine Stärkung des Parlamentes hat er  wohl nicht im Auge. „Außerdem hätte man mit der Planung für ein Bundesgesetz schon vor Monaten beginnen müssen“, sagt er. Recht hat er, aber wer ist „man“? Die Abgeordneten des Bundestages oder die Regierung und deren Beamten? Wohl letzteres.

Der Bundestag repräsentiert die erste Gewalt. Er repräsentiert uns. Wer aber sind wir in den Augen der Regierung? Die ‚Neue Zürcher Zeitung‘ schreibt im Pandemie-Herbst 2020: „Die Exekutive gefällt sich zunehmend darin, vom Souverän, dem Volk, nach Art eines unbotmäßigen Lümmels zu reden.“[1] Kurzum: The Bad.

Welche Rolle spielen bei alledem in der Bundesrepublik die Parteien? Sie befinden sich in einer seltsamen Situation. Keine von ihnen schien zu Anfang des Wahljahres 2021 auch nur annähernd in die Nähe einer Mehrheit zu kommen. Doch dann kam das kleine Sachsen-Anhalt und bescherte der CDU unerwartete 37 Prozent. Holten sich die Wähler ihre Macht zurück? Konzentrierten wir wieder unsere Macht? Keine der Parteien konnte indes darauf setzen, jenseits der Mauer von 40 Prozent Stimmen zu gewinnen – wie es jahrzehntelang zumindest für das Fraktionsbündnis CDU/CSU üblich war. Selbst die Grünen, die sich schon mächtig im Aufwind sahen, konnten nicht damit spekulieren. Auch wenn ihr aalglattes Wahlprogramm „alles drin“ hatte, was nach Mehrheiten schreit, war ihr Image doch immer noch das einer Special Interest Group.

Ähnlich gliederte sich die Wählerschaft auf. Sie entsprach „einer fragmentierten Öffentlichkeit, in der Wissen und Unwissen nicht mehr unterschieden werden, in der Desinformation und Ressentiment nicht mehr gefiltert werden“, wie Möllers in der Regierungsbroschüre erklärte. Jaspers hätte ihm nicht widersprochen. Was sich geändert hatte, war aber nicht das Verhältnis von Wissen und Unwissen, sondern nur, dass Unwissen und Wissen  nunmehr gleichermaßen eine mächtige, aktive Öffentlichkeit für sich herstellen konnten, eine Öffentlichkeit, bei der jeder mitmachen kann. In aller Vielfalt. Prima.

Wenn aber im Rahmen dieser Transformation das Unwissen nicht mehr so leicht identifiziert und eingefangen oder auch nur ignoriert werden kann, dann fordert das im Hintergrund die Bürokratie zur Herrschaft der Verfahren heraus, zur gemeinschaftlichen Regulierung. Die Alt-Parteien schauten derweil hilflos zu – sie, die sich jahrzehntelang als die heimlichen Herrscher über alle Meinungen betrachteten. Sie repräsentierten die Gesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt. Doch nun hat sich die Gesellschaft in Facebook und Twitter aufgelöst. Totalverlust.

Denn zwischen all die Zwistigkeiten, Unwissenheiten und Unfähigkeiten hatte sich eine Schmuddel-Partei geschmuggelt, die immer mehr Zulauf bekam, die AfD, die mit jedem Mehr an Empörung wuchs und wuchs. Plötzlich sahen sich die Alt-Parteien mit ihrer eigenen Ohnmacht konfrontiert, die sie mit noch mehr Empörung zu überdecken trachteten.

Und wenn sie einmal intensiv und kritisch über sich nachgedacht hätten, dann wäre ihnen aufgefallen, dass sie sich in den Jahren zuvor selbst überschätzt hatten, sie hatten ihr Konto überzogen und vergessen, dass Macht eine Energie ist, die sich wie jede andere Energie verbraucht und deshalb sehr zurückhaltend investiert werden sollte.  

„Parteien sind keine Verfassungsorgane“, hatte bereits im Jahr 2000 Altbundespräsident Richard von Weizsäcker (1920-2015) erklärt. „Und doch haben sie sich die Herrschaft über die Verfassungsorgane weitgehend angeeignet“.[2] Nicht das Parlament herrscht, sondern die Parteien. Im Hintergrund der Regierung und der Opposition, die ja stets eine Regierung in Warteposition ist.

Und nun sind sie it einer Frage konfrontiert, hinter der das genaue Gegenteil von dem steht, was die Parteien eigentlich wollen sollten. Es ist eine reichlich tabuisierte Frage: Wie wichtig sind noch die Parlamente?


4 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Die Amerikaner finden für jedes Problem die bestmögliche Lösung, nach dem sie alles Andere vorher ausprobiert haben.

Churchill

Raimund Vollmer hat gesagt…

Das ist sehr wahr, Sir Chirchill. Sie hatten auch keinen Plan, als sie in Deutschland eimnarschiert waren. (Der Morgenthau-Plan war kein Plan.) Aber sie lernten rasch, wähend die Russen einen Plan hatten, der dann in der Katastrophe endete. Auch das Silicon Valley ist nicht das Ergebis einer Planung, sondern nur einer Idee. Wir aber meinen, so etwas planen zu können. Die Erfolge sind eher bescheiden - und fressen Budgets auf.

Anonym hat gesagt…

......wir meinten f r ü h e r , so etwas zu können.
Seit aber Gruppen wie Agora Heizungswende im MinWi regiert, spätestens da hat das probieren auch bei uns System.

Anonym hat gesagt…

Das mit den Blitzkriegen hat ja ganz gut geplant geklappt. Vielleicht sollten wir uns auf unsere Stärken konzentrieren. Pistorius arbeitet ja daran.