Donnerstag, 26. Mai 2016

CLICK ZURÜCK NACH VORN: Das goldene Zeitalter - Ein Rückblick auf die 90er Jahre (3)



Von Raimund Vollmer (2003)
Geld ohne Grenzen
Dafür sollte auch die Globalisierung sorgen, die jetzt in die entferntesten Winkel unserer Welt vordrang. Der Anteil der Exporte am inzwischen 32.000 Milliarden Dollar schweren Weltwirtschaftsprodukt hatte sich zwischen 1960 und 2000 von 12,3 auf 23.0 Prozent nahezu verdoppelt.[1] Der Protektionismus schien besiegt. Noch zu Beginn der achtziger Jahre hatten sich die USA und die Europäische Gemeinschaft über Subventionen für die Agrarexporte einen massiven Handelskrieg angedroht. Hinzu kam die japanische Offensive, die mit ihren aggressiven Ausfuhren die amerikanische Wirtschaft platt zu machen drohte und Abertausende von Arbeitsplätzen vernichtete. »Die USA, einst Champion des Freihandels, kann sich ihn nicht mehr länger leisten«, schrieb 1982 William L. Givens, Chef der Bostoner Beratungsfirma Twain Braxton International Inc. in Business Week.[2] Und in derselben Ausgabe meinte C. Fred Bergstein, ein hochangesehener Wirtschaftswissenschaftler in den USA: »Selbst Adam Smith wäre heute ein Protektionist.«[3]
Doch das schien nun alles vorbei. Die Weltwirtschaft gedieh wie schon lange nicht mehr. Allein im Jahr 2000 hatte der Welthandel um 12,4 Prozent zugelegt. Jetzt galt es die Ernte aus dem erfolgreichen Abschluss der Uruguay-Runde einzufahren, die in der  Gründung der Welthandelsorganisation WTO gipfelte. Endlich hatten wir einen Welthandel, der so frei war wie seit hundert Jahren nicht mehr. Und dafür gab es neue Zahlen, die belegten, wie gut alles funktionierte, wie sehr alle davon profitierten.
In den USA hatten Töchter von Auslandsgesellschaften nach Berechnungen der OECD seit 1985 ihren Anteil an der Inlandsproduktion von 8,8 auf 15,8 Prozent (1996) erhöht. Sie waren  hier auch für das Jobwunder maßgeblich verantwortlich. Während die inländische Industrie pro Jahr nur 0,8 Prozent neue Arbeitsplätze schuf, wuchs bei den Auslandsfirmen die Zahl der Jobs jährlich um 1,4 Prozent. Zugleich wurden sie auch besser bezahlt.[4]
Auf dem Gipfel
Alle waren glücklich. Voller Harmonie agierten die Regierungschefs bei ihren Gipfeltreffen, in deren Glanz alle selbstzufrieden zusammenwirkten. Was hatten sie noch Großartiges zu vollbringen, nachdem die Globalisierung ihnen zunehmend die Hände band – und dabei auch noch die Wirtschaft boomte wie nie zuvor?[5] Sie waren praktisch an den Rand gedrängt. Sie hatten nur noch eine Chance: Sie mussten mitmachen, und sie wollten mitmachen. Sie wollten Geschichte schreiben – durch große, staatsmännische Entscheidungen das 21. Jahrhundert einläuten.
Auf dem EU-Gipfel in Nizza am 11. Dezember 2000 beschlossen die 15 Regierungschefs, bis 2006 ein weiteres Dutzend Ländern den Beitritt zum größten gemeinsamen Markt der Welt zu ermöglichen.[6] Und dann stand da noch die Einführung des neuen gemeinsamen Geldes, des Euros. Bald sollten die Bürger von Euroland das bislang nur virtuell vorhandene neue Geld in den Händen halten.
Anything goes
Der Glaube an eine perfekte Welt, in der jeder jederzeit über alles nach eigenem Gutdünken verfügen wird, war allgegenwärtig. Alles fließt. Anything goes. Alles rast. Alles expandiert. Die Aktienkurse, der Wohlstand, der technische Fortschritt, die Demokratie, die globale Sicherheit. »Die USA stürzten sich raketengleich durch die neunziger Jahre Das Tempo, das sie vorlegten, nannte man die Internet-Geschwindigkeit. Der Treibstoff bestand aus einer Mischung von Informationstechnologien und einsatzbereitem Kapital. Die Wirtschaft entzog sich dem Gravitationskräften eines langsamen Wachstums und strebte zu den Sternen. Das Ergebnis war ein Circulus virtuosus des Wohlstands, der tiefsitzende, soziale Krankheiten lindert als wolle er den Gesetze der Physik trotzen – und denen der Wirtschaft«, resümiert Business Week am 27. August 2001 die Boomjahre.[7] Und das Magazin war weiterhin optimistisch, obwohl die Nasdaq-Börse zu diesem Zeitpunkt bereits 60 Prozent unterhalb ihres Allzeithochs vom März 2000 lag. Ein jährliches Wachstum von 3,5 statt 4,1 Prozent war zumindest für die USA auch künftig machbar. Zwei Wochen später, am 11. September 2001, gab es indes kein Vertun mehr: Die Welt stand am Abgrund.




[1] Newsweek, February 4, 2002, Stephen Roach: »Sand in the Gears of Globalization«
[2] Business Week, November 22, 1982; William L. Givens »The U.S. can no longer afford free trade«
[3] Business Week, November 22, 1982; »Back from the brink of a trade war«
[4] The Economist, January 8, 2000: »Globalisation – Foreign friends«
[5] The Economist, September 20, 1997: »The visible hand«
[6] The Economist, December 16, 2000 (Leaders); »A treat from Nice«
[7] Business Week, August 27, 2001, Lee Walczak: »America`s future - The mood now«

Mittwoch, 25. Mai 2016

CLICK ZURÜCK NACH VORN: Das goldene Zeitalter - Ein Rückblick auf die 90er Jahre (2)



Von Raimund Vollmer (2003)

Der Billionen-Bulle
Einher mit dieser technologischen Aufrüstung ging eine kolossale Belebung der Kapitalmärkte. Die Inflation, das große Schreckgespenst der siebziger und achtziger Jahre, schien im New Age endgültig besiegt. Mit 2700 Punkten war der Dow Jones-Index in das letzte Jahrzehnt des zweiten Jahrtausends gestartet. Als dann das dritte Millennium problemlos seine rundum erneuerten Maschinen über die Datumsgrenze gebracht hatte, hatte der Index bereits die 11.000er Marke überschritten. Ein neues Rekordhoch, viermal höher als bei dem letzten Jahrzehntwechsel. Allein im letzten Jahr der goldenen Dekade war der Index um 25 Prozent gestiegen.[1]
Überall herrschte Zuversicht. Nach dem Crash vom 19. Oktober 1987, bei dem die Computer unter der Last der Panikverkäufe zusammengebrochen waren, hatte sich die Börsenlandschaft in ein hocheffizientes, weltumspannendes System gewandelt. Nie wieder sollten die Rechner ausfallen, erst recht nicht wegen des Y2K-Bugs.
Während die Börsen technologisch aufrüsteten, lieferten sich die Nachrichtenagenturen wie Reuters oder Bloomberg einen heißen Kampf um News und Kurse, Facts & Figures. In Sekundenschnelle boten sie ihren Kunden umfassende Analysen – mit einer Fülle und Präzision, wie sie noch zu Beginn der neunziger Jahre unvorstellbar gewesen waren. Noch im Februar 2000 hatte Reuters angekündigt, in den kommenden vier Jahren 800 Millionen Dollar in das Internet zu investieren. 65 Millionen neue Kunden wollte man damit gewinnen, die dem Großmeister der Wirtschaftsnachrichten im Jahr 2003 eine Milliarde an zusätzlichen Umsätzen bescheren sollten.[2] Schon jetzt kontrollierten die beiden Giganten 85 Prozent des 6,7 Milliarden Dollar schweren Geschäfts mit Finanzinformationen.[3] Und das Internet würde ihnen mehr und mehr Kunden zuführen.
Derart mit Details über jeden und alles versorgt, konzertierten sich die Börsen zu einer 24-Stunden-Sinfonie des permanenten Aufstiegs. Jeder konnte mitmachen, Anteile an Firmen erwerben, die zehn Jahre zuvor kaum jemand auf seinem Kurszettel hatte. Das Ergebnis: Newcomer wie der Internetzulieferer Cisco ereichte auf dem Höhepunkt der Hausse einen Börsenwert von 550 Milliarden Dollar. Und es gab nicht wenige, die in dem Shooting-Star bereits die erste Firma sahen, die eine Kapitalisierung von einer Billion Dollar, also 1000 Milliarden, erreichen würde.[4] Nahezu alle Amerikaner, die zwischen 20.000 Dollar und mehr im Jahr verdienten, besaßen nach einer Umfrage der Meinungsforschung Pew Research Center am Ende des vergangenen Jahrzehnts Wertpapiere.[5] In Deutschland, wo es 1998 so gut wie keine Onlinedepots gab, würden es nach Berechnungen Fox Pitt, Kelton in 2010 zwölf Millionen sein, die jährlich knapp 500 Millionen Transaktionen an den Börsen anstoßen würden.[6]
Im Rausch der Merger
Auch die Unternehmen, die Objekte der Begierde an den Börsen, hatten in den neunziger Jahren ihre Geschäftsprozesse auf den neuesten Stand der Technik gebracht. So erschlossen sich die Unternehmensführer mit Enterprise Resource Planning (ERP) den gesamten betrieblichen Wertefluss und den Zugriff auf bislang brachliegende Kosteneinsparungen. Sie meinten in ERP den Quell ewigen Gewinnwachstums gefunden zu haben. Wo z.B. amerikanische Wirtschaftsdaten historisch eindeutig belegten, dass mehr als sieben Prozent Profitsteigerung pro Jahr nicht drin sei, so glaubte man noch im August 2000 auf Dauer pro Jahr 18,7 Prozent herauszuholen. Dies ergab jedenfalls damals der Consensus unter den von der Marktforschung First Call befragten Analysten.[7]
Doch angesichts der immensen Skaleneffekte, die man aus dem Einsatz der Informations-Technologien erwartete,  galten historische Vergleiche längst als Makulatur. Stattdessen waren die Unternehmen nun untereinander vergleichbarer geworden. Dafür stand ERP, dafür stand aber auch die Angleichung der Buchhaltungsvorschriften. Man organisierte sich nach US-GAAP oder nach IAS. Und wo Transparenz herrscht, da wächst der Wunsch zusammen zu bringen, was zusammen gehört. Eine gigantische Fusionswelle schwappte über die Weltwirtschaft. So kombinierte sich im Lauf der Dekade die globale Geschäftswelt in einer 9.000 Milliarden Dollar schweren Übernahmewelle zu neuen Giganten, die sich aus ihrer Verschmelzung bislang ungeahnte Synergie-Effekte erhoffte.[8]
Eins griff ins andere. Vorstände, Analysten. Medien bestätigten sich auf ihren Konferenzen der gemeinsamen Zuversicht. Jeder sprach mit jedem. Jeder glaubte jedem. Jeder kaufte jeden. Auf dem Höhepunkt der Merger-Mania, im Jahr 2000, fand zum Beispiel alle 17 Minuten eine neue Fusion auf dem Globus statt.[9] Börsen, Banken, Märkte, Merger, Technologien, Strategien, Prozesse. Es war eine wohlgeschmierte Achse des Guten, um die sich ein Weltwirtschaftsvolumen von 31.400 Milliarden Dollar drehte.



[1] The Economist, January 8, 2001: »Goldilocks, pursued by a bear«
[2] Fortune, March 6, 2000,Richard Tomlinson: »Reuters $800 Million Web Bet«
[3] Financial Times, October 17, 2002, Carlos Grande: »How a media organisation famed for being first with the news ist struggling to keep pace with the market«
[4] Business Week, August 27, 2001, David Henry: »Wall Street Risks«
[5] Business Week, August 27, 2001, Lee Walczak: »America`s future - The mood now«
[6] The Economist, May 20, 2000, Simon Long: »The virtual threat – A survey of online finance«
[7] The Economist, October 5, 2002: »American corporate profits – Damned if you do«
[8] Newsweek, July 8, 2002, Karen Lowry Miller: »The giants stumble«
[9] Newsweek, July 8, 2002, Karen Lowry Miller: »The giants stumble«