Von Raimund Vollmer (2003)
Geld ohne Grenzen
Dafür sollte auch die Globalisierung
sorgen, die jetzt in die entferntesten Winkel unserer Welt vordrang. Der Anteil
der Exporte am inzwischen 32.000 Milliarden Dollar schweren Weltwirtschaftsprodukt
hatte sich zwischen 1960 und 2000 von 12,3 auf 23.0 Prozent nahezu verdoppelt.[1]
Der Protektionismus schien besiegt. Noch zu Beginn der achtziger Jahre hatten
sich die USA und die Europäische Gemeinschaft über Subventionen für die
Agrarexporte einen massiven Handelskrieg angedroht. Hinzu kam die japanische
Offensive, die mit ihren aggressiven Ausfuhren die amerikanische Wirtschaft
platt zu machen drohte und Abertausende von Arbeitsplätzen vernichtete. »Die
USA, einst Champion des Freihandels, kann sich ihn nicht mehr länger leisten«,
schrieb 1982 William L. Givens, Chef der Bostoner Beratungsfirma Twain Braxton
International Inc. in Business Week.[2]
Und in derselben Ausgabe meinte C. Fred Bergstein, ein hochangesehener
Wirtschaftswissenschaftler in den USA: »Selbst Adam Smith wäre heute ein
Protektionist.«[3]
Doch das schien nun alles vorbei. Die
Weltwirtschaft gedieh wie schon lange nicht mehr. Allein im Jahr 2000 hatte der
Welthandel um 12,4 Prozent zugelegt. Jetzt galt es die Ernte aus dem
erfolgreichen Abschluss der Uruguay-Runde einzufahren, die in der Gründung der Welthandelsorganisation WTO
gipfelte. Endlich hatten wir einen Welthandel, der so frei war wie seit hundert
Jahren nicht mehr. Und dafür gab es neue Zahlen, die belegten, wie gut alles
funktionierte, wie sehr alle davon profitierten.
In den USA hatten Töchter von
Auslandsgesellschaften nach Berechnungen der OECD seit 1985 ihren Anteil an der
Inlandsproduktion von 8,8 auf 15,8 Prozent (1996) erhöht. Sie waren hier auch für das Jobwunder maßgeblich
verantwortlich. Während die inländische Industrie pro Jahr nur 0,8 Prozent neue
Arbeitsplätze schuf, wuchs bei den Auslandsfirmen die Zahl der Jobs jährlich um
1,4 Prozent. Zugleich wurden sie auch besser bezahlt.[4]
Auf dem Gipfel
Alle waren glücklich. Voller Harmonie
agierten die Regierungschefs bei ihren Gipfeltreffen, in deren Glanz alle
selbstzufrieden zusammenwirkten. Was hatten sie noch Großartiges zu
vollbringen, nachdem die Globalisierung ihnen zunehmend die Hände band – und
dabei auch noch die Wirtschaft boomte wie nie zuvor?[5]
Sie waren praktisch an den Rand gedrängt. Sie hatten nur noch eine Chance: Sie
mussten mitmachen, und sie wollten mitmachen. Sie wollten Geschichte schreiben
– durch große, staatsmännische Entscheidungen das 21. Jahrhundert einläuten.
Auf dem EU-Gipfel in Nizza am 11.
Dezember 2000 beschlossen die 15 Regierungschefs, bis 2006 ein weiteres Dutzend
Ländern den Beitritt zum größten gemeinsamen Markt der Welt zu ermöglichen.[6]
Und dann stand da noch die Einführung des neuen gemeinsamen Geldes, des Euros.
Bald sollten die Bürger von Euroland das bislang nur virtuell vorhandene neue
Geld in den Händen halten.
Anything goes
Der Glaube an eine perfekte Welt, in der
jeder jederzeit über alles nach eigenem Gutdünken verfügen wird, war
allgegenwärtig. Alles fließt. Anything goes. Alles rast. Alles expandiert. Die
Aktienkurse, der Wohlstand, der technische Fortschritt, die Demokratie, die
globale Sicherheit. »Die USA stürzten sich raketengleich durch die neunziger
Jahre Das Tempo, das sie vorlegten, nannte man die Internet-Geschwindigkeit.
Der Treibstoff bestand aus einer Mischung von Informationstechnologien und
einsatzbereitem Kapital. Die Wirtschaft entzog sich dem Gravitationskräften
eines langsamen Wachstums und strebte zu den Sternen. Das Ergebnis war ein
Circulus virtuosus des Wohlstands, der tiefsitzende, soziale Krankheiten
lindert als wolle er den Gesetze der Physik trotzen – und denen der
Wirtschaft«, resümiert Business Week am 27. August 2001 die Boomjahre.[7]
Und das Magazin war weiterhin optimistisch, obwohl die Nasdaq-Börse zu diesem Zeitpunkt
bereits 60 Prozent unterhalb ihres Allzeithochs vom März 2000 lag. Ein
jährliches Wachstum von 3,5 statt 4,1 Prozent war zumindest für die USA auch
künftig machbar. Zwei Wochen später, am 11. September 2001, gab es indes kein
Vertun mehr: Die Welt stand am Abgrund.
[1] Newsweek, February 4, 2002, Stephen Roach: »Sand
in the Gears of Globalization«
[2] Business Week, November 22, 1982; William L. Givens
»The U.S.
can no longer afford free trade«
[3] Business Week, November 22, 1982; »Back from the
brink of a trade war«
[4] The Economist, January 8, 2000: »Globalisation –
Foreign friends«
[5] The Economist, September 20, 1997: »The visible
hand«
[6] The Economist, December 16, 2000 (Leaders); »A treat
from Nice«
[7] Business Week, August 27, 2001, Lee
Walczak: »America`s future - The mood now«