Samstag, 2. Juli 2016

Zum Tode von Alvin Toffler



Ich war seit 1980, als sein Buch "Die Zukunftschance" erschien, ein großer Bewunderer dieses Zukunftsforschers, der zehn Jahre zuvor mit seinem Buch "Der Zukunftsschock" weltweit Aufsehen erregte. Alvin Toffler besaß das, was unseren hauseigenen Propheten und Prognostikern in der Regel fehlt: eine unglaubliche Vorstellungskraft. Wo wir meinen, mit Zahlen zu erwartende Entwicklungen belegen zu können, operierte Toffler mit Beispielen aus einem schier unerschöpflichen Schatz. Er schrieb für Menschen, nicht für Kollegen. Das machte ihn zum meistzitierten Zukunftsforscher der Welt. Aus seinen Werken kann man heute noch Ideen für die Zukunft in Hülle und Fülle entnehmen. Er war ein Gigant. 
Im vergangenen Jahr habe ich mich mal drangesetzt, die vergangenen 40 Jahre, in denen ich die Computerbranche als journalistischer Beobachter begleiten durfte, zu rekapitulieren und bin dabei immer wieder in Themen hineingerutscht, die eigentlich gar nichts mit der IT zu tun haben - und dennoch durch das Wort "Digitalisierung" längst eingebunden sind in die Megatrends unseres Jahrhunderts, unseres Jahrtausends. Vorbild beim Schreiben war dabei auch immer wieder Alvin Toffler. Ich war erstaunt, wieviel wir alles haben schon wissen können, wenn wir nur gewollt hätten. Das Manuskript, das längst die ersten 100 Seiten passiert hat, lässt mich nicht mehr los. Immer wieder entdecke ich (für mich) Neues oder Vergessenes, von dem ich glaube, dass es in diese Story hineingehört. Es ist eine riesige Baustelle. Ich kann mir vorstellen, dass Alvin Toffler ähnlich gearbeitet hat. Anlässlich seines Todes wage ich mich mit meinem Manuskript mal ein wenig heraus aus meiner eher trappistischen Arbeit. Ich bin 1975 in die Computerbranche hineingerutscht - als blutjunger Journalist. Zu einem Zeitpunkt, von dem ein anderer Visionär, Peter F. Drucker, meinte, dass bereits jetzt das 21. Jahrhundert begonnen hat. Dies nur zur Erklärung. Das Manuskript hat den folgenden Arbeits-Titel:


Kapitel 4: Der Zukunftsschock

Am 1. Januar 1975 erschien auf der Titelseite der amerikanischen Fachzeitschrift "Popular Electronics" ein Bild des ersten Heimcomputers der Welt. Sein Name: Altair. Wie der ferne Stern. Und die, die ihn als erste sahen und richtig deuteten, waren die beiden Amerikaner Paul Allen und Bill Gates. Inspiriert von dieser Titelgeschichte starteten sie am 4. April 1975 das bald mit seinen Befehlssätzen auf nahezu allen Computern präsente "Projekt Microsoft".
Eine neue Ära begann. Gerade rechtzeitig. Denn es herrschte Endzeitstimmung, wenngleich aus höchst unterschiedlichen Beweggründen. Der Journalist Alvin Toffler hatte 1970 seinen Weltbestseller "Der Zukunftsschock" veröffentlicht. Was sich momentan vor unseren Augen abspiele, sei "nichts weniger als die zweite große Trennungslinie der Menschheitsgeschichte", meinte der Amerikaner, der mit seinen Werken der meistzitierte Futurologe der Welt werden sollte. Mit dem Übergang vom "Natur- zum Kulturzustand" habe die Menschheit den "ersten großen Bruch" vollzogen. Nun aber befänden wir uns in einer Epoche, die "weit umfassender, tiefgreifender und bedeutsamer sei als eine industrielle Revolution". Alles verändere sich nicht nur viel zu schnell, sondern obendrein mit steigender Geschwindigkeit.[1]
Selbst der deutsche Zukunftsforscher Robert Jungk war beeindruckt von Tofflers Werk: "Noch nie ist mit einer solchen Überfülle von Fakten gezeigt worden, wie technischer Fortschritt, der über den Produkten die Produzenten vernachlässigte, zu einer kollektiven Erkrankung führte, für die der Autor den Terminus 'Zukunftsschock' fand", meinte Jungk in einer Buchbesprechung in der Zeitschrift  "Der Spiegel", die damals noch als Nachrichtenmagazin typisiert wurde.
Das Jahr 1975 wirkte wie eine Zäsur, eine Epoche war zu Ende, eine neue begann. In Rambouillet, 50 Kilometer von Paris entfernt, hatte am 15. November 1975 auf Initiative von Frankreichs Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt der erste Weltwirtschaftsgipfel stattgefunden, zu dem sich seitdem die mächtigsten Wirtschaftsnationen der freien Welt jährlich treffen. Die Politik wollte ein Zeichen setzen.
Nachdem durch Präsident Richard Nixon am 15. August 1971 das auf festen Wechselkursen basierende System von Bretton-Woods praktisch aufgekündigt worden war,  hatte die Politik vergeblich nach einer Lösung gesucht, nach einem Bretton-Woods 2.0.
1944 hatten sich die USA als einzige Nation der Welt verpflichtet, jederzeit Gold für einen festen Wert von - damals - 35 Dollar je Unze einzutauschen. Doch richtig funktioniert hatte nach Ansicht des Nobelpreisträgers Milton Friedman dieses System nur "von 1959 bis 1967".[2] Und auch da war längst klar, dass die Goldreserven der USA, die in Fort Knox versammelt waren, niemals ausgereicht hätten, um alle Ansprüche der Dollarkunden zu befriedigen. Ja, in den sechziger Jahren hatten die USA die Bundesrepublik mehrfach darum gebeten, auf einen solchen Tausch von Dollars in Gold zu verzichten, um diese Reserven zu schonen. Der französische Präsident Charles De Gaulle war da weitaus weniger zimperlich.[3] Ihn störte die Macht des Dollars ohnehin.
Auf jeden Fall ähnelte das System von Bretton Wods mehr und mehr einem Kartenhaus, das irgendwann einstürzen würde.
"Besonders kräftig schlugen die Wechselkurse zwischen 1973 und 1975 aus, als das Bretton Woods-System endgültig zusammenbrach, die Ölpreise stark erhöht wurden, die Inflationsraten kräftig stiegen und nicht zuletzt die Geldpolitik unstetig war", bemerkte 1988 der Konjunkturforscher Joachim Scheide vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel in der FAZ[4]
Je größer die Ausschläge, desto stärker wuchs in der Folge der Wunsch nach einem neuen Bretton Woods. Und Zahlen schienen die Richtigkeit dieses Begehrens zu bestätigen. Hatte in den G7-Ländern die Wachstumsrate vor der Aufkündigung der festen Wechselkurse im Schnitt bei fünf Prozent gelegen, so sollte sich die Quote in den nächsten zwanzig Jahre halbieren - einer der Gründe, warum sich viele immer wieder die Rückkehr zu dem alten System wünschten. Aber war das freie Floaten der Währungen wirklich die Ursache? [5] War es nicht vielmehr die Verschuldungspolitik der Staaten, dieses Erbe des 20. Jahrhunderts?
Auf jeden Fall schien der Primat der Politik, vor allem den der USA,  durchbrochen.[6] Die Märkte übernahmen die Macht. Es herrschte ein "Non-System", wie es Wilfried Guth, von 1976 bis 1985 Vorstandssprecher der Deutschen Bank, nannte.[7] Ein Gefühl von Anarchie breitete sich aus. Wie sollte es gebändigt werden?
Bretton Woods gehörte einer Zeit an, in der die internationalen Kapitalflüsse noch sehr limitiert waren. Doch nun zeigte der technologische Fortschritt, kombiniert mit Finanzinnovationen, mehr und mehr seine alles durchdringende Wirkung. Geld ließ sich jederzeit in Sekundenschnelle praktisch überall hin transferieren.[8] Und es sammelte sich immer mehr Geld an - mit dem Dollar als einer Art Weltwährungsersatz. Zum ersten Mal überschritten 1975 die in der US-Währung angelegten Geldbestände weltweit die Summe von fünf Billionen Dollar. [9] Dieser  Betrag wird heute täglich auf den weltweiten Kapitalmärkten bewegt - möglich durch die immensen Investitionen in schnelle Netze und noch schnellere Rechner.
Das Geld entzog sich seit den siebziger Jahren immer mehr der Kontrolle durch die Zentralbanken. Noch in den sechziger Jahren wurden sie wegen ihrer Macht bewundert - allen voran die Deutsche Bundesbank. Die Währungshüter konnten ohne eine einzige Signatur aus dem Stand heraus Milliardenbeträge hin und her schieben. Am Telefon. Doch mit dem Einzug der Computer gewannen die "Spekulanten" immer mehr die Oberhand. Gegen den Markt ging nichts mehr.
Die Dollars vagabundierte in alle Richtungen. Dabei waren die Handlungsweisen der Akteure keineswegs immer rational, wie der Nobelpreisträger James Tobin 1978 feststellte. Kurzfristige Gewinnmitnahmen durch Wechselkursschwankungen würden an den Finanzmärkten die Entscheidungen bestimmen und dabei langfristige Investitionsbetrachtungen verdrängen. Weil die beste aller Lösungen, die Vereinigung zu einer einzigen Weltwährung, seiner Meinung nach auf lange Sicht nicht durchsetzbar war, schlug er damals vor, auf jede Transaktion eine Steuer zu erheben. Weltweit. Für ihn die "zweitbeste Lösung". Sie würde eine Rückkehr zu mittel- und langfristigen Investitionen ermöglichen und den Staaten eine, wenn auch bescheidene Kontrolle über die Währungen zurückgeben. Eine faszinierende Alternative - zumal der technische Fortschritt dem überhaupt nicht entgegenstand. Eigentlich müsste die Politik darauf abfahren. Doch nichts geschah.[10]
Es kam die Zeit, in der die Chicagoer Schule mit ihren neoliberalen Ideen die Weltwirtschaftspolitik bestimmen sollte. "Die Verlagerung des Schwerpunktes nach Chicago war mir nach 1975 klar", bemerkte einer ihrer besten Vertreter, der Nobelpreisträger Gary S. Becker. Die Superstars dieser auf den freien Markt setzenden Bewegung waren Friedrich von Hayek, der 1974 den Nobelpreis erhalten hatte, und Milton Friedman, der 1976 geehrt wurde. Der Glaube an den Staat, der sich alles Wissen anmaßte, war gebrochen - aber auch der Glaube an die Wirtschaftswissenschaften erodierte. Mit ihrem durch Stabilitäts- und Beschäftigungsgesetze gestärkten Bekenntnis zu den Theorien des Briten John Maynard Keynes vermeinten sie alles, die Wirtschaft mit ihren Zyklen, im Griff zu haben. Lange Zeit schienen sie auch im Recht zu sein. 
Es war das Ende der Megalomanie, des Größenwahns, in der uns alles, was wir anpackten zu groß geraten war: der Staat und die Bürokratie, der heiße Krieg und der kalte Frieden, die Wirtschaft und die Unternehmen, die gesamte Maschinerie. Wissenschaft und Technik, Gesellschaft und Politik - sie alle hatten sich übernommen. Finanziell, aber auch geistig.
Der Zukunftsschock saß tief. Überall waren die Zeichen des Verfalls zu sehen