Wer sich zwischen den Sternen bewegt, kann nur noch lächeln über die kostbaren Fußböden der Reichen.
Seneca (0-65 nach Christus), römischer Philosoph
Wer sich zwischen den Sternen bewegt, kann nur noch lächeln über die kostbaren Fußböden der Reichen.
Seneca (0-65 nach Christus), römischer Philosoph
Die Seele jeder Ordnung ist ein großer Papierkorb.
Kurt Tucholsky (1890-1935), deutscher Schriftsteller
1975: »Freiheit erzeugt immer Ungleichheit. Und materielle Gleichheit
kann nur unter Verlust von Freiheit erreicht werden.«1984
Friedrich von Hayek (1899–1992), österreichischer Nobelpreisträger[1]
Nachdem der Ausbau der Eisenbahnen in den USA vollendet war
und mit der Dampfschifffahrt die Seetransportkosten um 75 Prozent gesunken
waren, luden die Amerikaner ihre überschüssigen Waren auf ihre schnellen
Frachter und machten sich auf den Weg nach Europa. Vor allem die deutsche
Landwirtschaft bekam nun die Getreide-Konkurrenz aus der Neuen Welt mächtig zu
spüren. Auch die Industrie geriet durch Stahl-Importe unter Druck. Beide,
»Rittergut & Hochofen«, verlangten energisch nach Schutzzöllen. Bismarck musste sich schließlich der massiven
Lobby aus Junkern und
Stahlbaronen beugen. Er sah ein, dass „wir unsere Tarife zu tief
heruntergesetzt“ hatten. Schutzzölle sollten den „Verblutungsprozess“
(Bismarck)
stoppen.[1]
So kam es.
Am 9. Juli 1878 verabschiedete der Reichstag einen neuen Zolltarif, mit dem der Einfuhr von Eisen zu Schleuderpreisen Einhalt geboten wurde. Das war das Ende einer bislang schrankenlosen Wirtschaftsfreiheit. Protektionismus machte sich breit. Staat und Wirtschaft rückten enger zusammen.
Hinzu kam, dass die Industriestaaten zwischen 1870 und 1895 infolge von Überproduktion eine Reihe von Krisen durchmachten. Der Freihandel wurde durch Schutzzölle mehr und mehr eingedämmt. Jedes Land versuchte, durch Zusammenschlüsse und Produktionsverflechtungen die Krisen in den Griff zu bekommen. In der Folge bildeten sich mit staatlichem Wohlwollen gewaltige Unternehmergesellschaften, die national und international die kleineren und mittleren Betriebe auszuschalten suchten. Die Gründerzeit war zu Ende. Die Unternehmer mussten mit ansehen, „dass viele staatliche Maßnahmen auf den Unternehmerbetrieb ganz anders wirken als auf den ausgereiften Betrieb“, der von Managern geführt wurde. „Was für den ersten schädlich sein kann, das kann dem zweiten nützen“, befindet der Ökonom John Kenneth Galbraith Galbraith. [2]
Es kam die Zeit der Old Economy.
In Deutschland gab es 1907 rund 3,2 Millionen Betriebe. Davon waren nur 0,9 Prozent Großunternehmen. Diese
- beschäftigten jedoch 39,4 Prozent aller Arbeiter,
- nutzten 75,3 Prozent der Dampfkraft und
- verbrauchten 77,2 Prozent der Elektrizität.
„Das Deutsche Reich war in seiner Wirklichkeit ein ungeheuer starker, konzentrierter, von dem Motor einer machtvollen Industrie vorwärtsgetriebener Nationalstaat“, schrieb Golo Mann in seiner „Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ über die Kaiserzeit.[3]
In den USA war der Unterschied zwischen Groß & Klein ebenfalls auffällig. 1909 galten dort lediglich 1,1 Prozent aller Unternehmen als Großbetriebe. Es waren Firmen, die mehr als eine Million Dollar umsetzten. Doch sie vereinten 32,8 Prozent der amerikanischen Produktion. Trusts, Konzerne und Kartelle bildeten bis in den Beginn des 20. Jahrhunderts hinein die alles überragende Wirtschaftsmacht, verstärkt durch Großbanken, die von Unternehmertypen gegründet worden waren. Darauf deuteten in den USA schon die Namen der Investmentbanken hin. Sie heißen J.P. Morgan, Goldman Sachs oder E.F. Hutton..
„Es ist das Zeitalter der Großbanken“, hatte für den Historiker Golo Mann die Macht der Geldhäuser in Deutschland eine noch höhere Bedeutung als in den USA. „Meist schon vor 1870 gegründet“, also vor der Bildung des Deutschen Reiches, „werden sie zu Großbanken erst jetzt; zu Organisationen mit Tausenden von Angestellten, mit Marmorpalästen in der Berliner Friedrichstadt, Tempeln des neuen Gottes: Deutsche Bank, Dresdner Bank, Darmstädter Bank, Disconto–Gesellschaft, Berliner Handelsgesellschaft. Sie wachsen an der Industrie, deren Wachstum sie fördern; finanzieren ihre Expansion, beteiligen sich an Neugründungen, gründen selber. Ihre Direktoren sitzen, mitkontrollierend, in den Aufsichtsräten der industriellen Unternehmungen. In keinem anderen Land, sagen uns die Fachleute, besitzen einige wenige Großbanken einen so entscheidenden Einfluss auf die Steuerung wie in Deutschland.“ [4]
Es gab noch einen weiteren Unterschied zu den USA. Hier stand hinter dieser Konzentration aus Konzernen und Kapital nicht nur ein gewaltiger Markt, sondern auch eine lebendige Demokratie. Die USA entdeckten das Individuum, den Konsumenten, als wichtigsten Abnehmer. In Deutschland aber war es der Staat, der als Großabnehmer alle in den Schatten stellte. Er erhebt Anspruch auf alle Rüstungsprodukte. Und er wird damit gefüttert, bis er platzt.
Über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges sang Bob Dylan in den sechziger Jahren: „The reason for fighting I never did get.“ Auf jeden Fall war dieser Krieg ein fürchterlicher Absturz. Vor allem für Deutschland.
Vor 60 Jahren in der Zeitschrift "Die Zeitung" |
„Computer sind die Dampfmaschinen der neuen Zeit, kein Betrieb kann sie entbehren“, schrieb 1970 Kurt Blauhorn, Edelfeder beim 'Spiegel', in seinem Buch „Europa – Erdteil zweiter Klasse?“.[1] Sein Thema war, wie schon zuvor bei seinem französischen Kollegen Jean-Jacques Servan-Schreiber „die technologische Lücke“ zwischen den USA und Europa. Mindestens fünf Jahre sei der Abstand, hieß es damals. Die OECD hatte die Lücke damals genau ermittelt, aber auf Geheiß der Amerikaner hielt sie das Ergebnis unter Verschluss. Das „technological gap“ war einfach zu groß.
Die Lücke muss so bedrohlich groß gewesen sein, dass die Nationalstaaten in den sechziger Jahren begannen, ihre Computerindustrie mit Milliardensummen an Subventionen aufzupäppeln. Die Abhängigkeit von den USA war ihnen unheimlich. Zwischen 1967 und 1979, als in Deutschland das mit 1,6 Milliarden Mark ausgestattete. DV–Förderungsprogramm auslief, hatte der Bund vor allem fünf Firmen gefördert. An sie flossen 80 Prozent der Mittel.[2] Später sollte der Bundesrechnungshof diesen Fördertöpfen absolute Nutzlosigkeit attestieren.
War es auch Wahnsinn, so hatte es doch internationale Methode. Man solle – bei gleichem Preis–/Leistungsverhältnis – den nationalen Hersteller wie Siemens in Deutschland, ICL in Großbritannien, CII in Frankreich, Philips in den Niederlanden oder Olivetti in Italien bevorzugen, hieß es mehr oder minder offiziell. „Die einzige Firma, die von der britischen Regierung Aufträge bekam, war das heimische Unternehmen ICL“, resümierte 1982 der 'Economist'.[3]
Da schwang mehr mit als nur ein subtiler Hauch von Protektionismus. Da formierte sich ein „Kartell der Angst“. Das sollte sogar unter dem Namen Unidata unternehmerische Gestalt bekommen. Siemens, Philips und CII sollten den Kern bilden. Doch am 19. Dezember 1975 war das europäische Projekt, als Äquivalent zum Airbus gedacht, bereits zu Ende. Was in der Flugzeugindustrie gelingen sollte, scheiterte in der europäischen Datenverarbeitung. „Das ruhmlose Ende der trinationalen Computer-Allianz Unidata offenbarte auf deprimierende Weise, wie schwer sich europäische Unternehmen selbst da mit grenzüberschreitenden Kooperationen tun, wo ein Zusammengehen der einzig erfolgversprechende Weg ist“, schreibt der Journalist Hans-Otto Eglau 1982 in seinem Buch „Kampf der Giganten“.[4]
Dabei hieß es immer wieder: „Die Computerindustrie ist eine Schlüsselindustrie.“ Bis in die achtziger Jahre wurde dies gebetsmühlenartig wiederholt, um Subventionen und staatliche Eingriffe zu rechtfertigen. Doch der Abstand zu den USA ließ sich einfach nicht verringern. Im Gegenteil: „Seit der dritten Computergeneration“, die in den sechziger Jahren geboren wurde, „verliert die Computerbranche in der Bundesrepublik und Europa technologisch an Boden“, formulierte noch 1987 der „Arbeitskreis Informationstechnik“ des VDE in einem Strategiepapier „Informationstechnik 2000“. Vor einem „strategischen Engpass“ stünde die europäische Computerindustrie – vor allem gegenüber den Amerikanern. Und dann wird die Studie sehr deutlich: „Aus dem Blickwinkel der staatlichen Forschungsförderung liegt die Bundesrepublik im Verhältnis zu den USA erheblich zurück.“[5] Aber an etwaigen Rückständen in der Forschung hatte es wirklich nie gelegen, sondern an etwas ganz anderem: Die Amerikaner denken ganz einfach weiter und vor allem großflächiger als die Europäer. Es geht ihnen nicht um die Technologie an sich, sondern um deren Nutzen und um deren Bereitstellung. Eine Tatsache, auf die wir uns eigentlich schon vor 150 Jahren hätten einstellen können.
Damals waren die Vereinigten Staaten von Amerika dabei, ihr weites Land von Osten nach Westen mit Eisenbahnlinien zu überziehen. Dahinter stand ein immenser Aufwand, der ohne die Hilfe der Regierung niemals hätte erbracht werden können. Aber im Wilden Westen war alles möglich. Washington erteilte ohne Rücksicht auf das Eigentum anderer an Grund und Boden die Wegerechte, gewährte Straffreiheit bei ziemlich allen Delikten, die im Zusammenhang mit dem Bau der Eisenbahn standen, und verzichtete auf jedweden Wegezoll.
1869 stand die erste transkontinentale Bahnlinie.[6] Bis 1883 errichteten Einwanderer aus Europa und unter härtesten Bedingungen chinesische Kulis »vier große Strecken quer über den Kontinent, oft in Kämpfen mit den indianischen Ureinwohnern. Die Nordstaaten gewannen den Bürgerkrieg auch deshalb, weil es zu jener Zeit schon 20.000 Meilen Eisenbahnstrecke gab, im Süden aber nur die Hälfte, und die Yankees daher den Nachschub schneller heranführen konnten«, erinnert sich 1979 'Der Spiegel'. Vor mehr als 100 Jahren, 1916, auf dem Höhepunkt des amerikanischen Eisenbahn-Wunders, verfügte das Land über 254.000 Meilen und beförderte über den Schienenweg 77 Prozent aller Frachten und 98 Prozent aller Passagiere.[7]
Die Amerikaner hatten mit ihren Eisenbahnen eine gewaltige Logistikmaschine errichtet, die in ihrer Wirkung ähnlich war wie die des Internets. Millionen von Einwanderern waren in die USA gekommen und hatten auf eigene Faust die weiten Agrarflächen des Westens erschlossen. Parallel dazu war mit den Eisenbahnen eine Infrastruktur entstanden, die den Amerikanern den Zugang zu neuen Absatzmärkten eröffneten. Was Nahrungsmittel anbelangte, avancierten die Vereinigten Staaten zur größten Exportmacht der Welt. Industriell überholen sie alle anderen Nationen.
Irgendwie war es nicht viel anders als bei der Ausgestaltung des Internets. Es hatte sich in den neunziger Jahren mehr und mehr selbst gebaut. Je mehr Menschen dazu kamen, desto stärker lockte die Kommerzialisierung. Diese immensen Auswirkungen hatte Bill Gates beim Blick auf das Internet anfangs unterschätzt. Als er aber die Bedeutung dieser Zukunftsmacht erkannte, beauftragte er in den neunziger Jahren Historiker damit, genau zu untersuchen, wie das damals war, als die Eisenbahnen gebaut wurden.
Wahrscheinlich haben die Forscher ihm erzählt, dass man dafür Typen braucht, die keineswegs zimperlich sind, vor nichts zurückschrecken und den Segen der Regierung genießen. Doch in Zeiten der Antitrustverfahren wäre das keine gute Einstellungspolitik für Microsoft gewesen.
Immense Kapitalien waren für den schnellen Ausbau der Eisenbahnstrecken notwendig gewesen. Es war Geld, das sich die Herren der Stahlrösser langfristig geliehen hatten. Die Northern Pacific Railways Corp. hatte zum Beispiel 1896 Schuldverschreibungen in Höhe von 320 Millionen Dollar aufgelegt – mit einer Laufzeit von 100 und 150 Jahren. Sie mussten dafür als Sicherheit 39 Millionen „Acres“ an Landbesitz hinterlegen.[8] (Ein Acre sind etwa 4000 Quadratmeter.) Aber das war kein Problem. Denn Geld wollten sie ja nicht mit Grund und Boden verdienen, sondern mit dem, was über die Schienenwege bewegt wurde. Mit dem Transport.
Zugleich aber schufen die Eisenbahnen, ohne übrigens für sich selbst je ihre wahre Wirtschaftlichkeit beweisen zu müssen, mit immensem Aufwand an Menschen, Material und Kapital einen gewaltigen Markt. Für die amerikanische Wirtschaft kam diese Logistikmaschine aus Stahl und Eisen, aus Dampf und Kohle gerade rechtzeitig. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten die USA „die am höchsten entwickelte Eisenbahn“ der Welt, meinte 1991 der britische 'Economist'. Deshalb war es auch kein Wunder, dass die Industrie des Landes so schnell wuchs.[9] „Ein explosiver, unerhörter Wirtschaftsaufschwung beanspruchte fast alle Energien der amerikanischen Bevölkerung“, schreibt 1964 der Historiker Klaus Schoenthal in seinem Buch „Amerikanische Außenpolitik“.[10]
Während der eine Teil des Landes der Überzeugung war, dass die USA sich selbst genügen sollten, standen andere, einflussreichere Kräfte unter dem Einfluss von Charles Darwin. Dessen Lehre vom „Survival of the Fittest“ belebte den „alten Glauben an die besondere Mission der Vereinigten Staaten“ (Schoenthal).[11] Es war die Zeit eines heute seltsam anmutenden Sozialdarwinismus. Die Amerikaner überwanden in imposanter Weise die große Kränkung, die durch Darwin erfolgte Abstufung des Menschen vom Ebenbild Gottes zu einem Derivat der Primaten.
Die USA befanden sich auf dem Weg in die Massenproduktion, die mit der Erfindung des Fließbandes Anfang des 20. Jahrhunderts ihren ganz großen Durchbruch erleben sollte. In der Folge bildeten sich immer mehr Trusts, deren Entwicklung die Eisenbahnbarone durch besondere Preisnachlässe auch noch förderten. Kurzum: Eine Hand wusch die andere.
Es war wie beim Internet. Nicht das Netz an sich brachte das große Geld, sondern das, was darauf transportiert wurde, avancierte zum wahren Renner und förderte eine Entwicklung, die keineswegs auf die USA beschränkt blieb. Es kam zum Überfall. Auf Europa.
2002: "Mit der Bildüberflutung, die das Ereignis des 20. Jahrhunderts ist, kann nach wie vor nicht umgegangen werden, sie ist ein perfektes Schatzkästlein religiös-autoritärer patriarchaler Strukturen geworden. In der Sprache wird das weggebügelt, dieSprache wird aufklärerisch gereinigt, und es bleibt den Bildern überlassen, die alten Mythen aufrechtzuerhalten.“
Marlene Steeruwitz (*1950), österreichische Schriftstellerin
"Den Weisungen und Zeichen der Polizeibeamten
und den Farbzeichen ist Folge zu leisten.“
1956: Straßenverkehrsordnung über die Einführung von Verkehrsampeln
„Der Wert der Lüge wächst mit der Entfernung von der Wahrheit.“
Zarko Petan (1929-2014), slowenischer Schriftsteller
"Click here for a great deal!“
1997: Financial Times
Herbert Grosch, Amerikaner und ein Grandseigneur der IT–Großsysteme, rügte 1972 die unglaubliche Selbstvergötterung seiner Zunft in der ihm eigenen, bildhaften Sprache. „Ja, ihr habt jetzt eure Yachten“, rief er auf einer Tagung den IT–Experten zu, „aber wo sind die Yachten unserer Kunden? Wo sind die Yachten der Gesellschaft? Wir bauen unsere Spielzeuge nur zu unserem eigenen Nutzen und Spaß. Wir gestalten sie sogar derart esoterisch, dass wir es eine Profession nennen können. In Fragen der Ethik aber besitzen wir keine eigentliche Qualifikation. Wir sind für gar nichts zertifiziert. Wir sind nur dazu qualifiziert, uns von niemandem etwas sagen zu lassen.“[2]
Das war hart, aber treffend. Die Arroganz der Leute, die damals die Herrn über das Computerwissen waren, wurde nur noch übertroffen von ihrer Ignoranz gegenüber den Gefühlen und Gedanken der anderen – und von der Wirkung des eigenen Tuns, das sie auf eine wissenschaftliche Basis zu heben suchten und ihr den Namen „Informatik“ oder „Computer Science“ gaben Aber kann eine Disziplin, die sich permanent selbst überholt, überhaupt wissenschaftliche Gültigkeit erlangen?
Es ist das Jahr 1975, in dem Helmut Schelsky, einer der prominentesten Soziologen der Nachkriegszeit, sich in seinem Bestseller „Die Arbeit tun die anderen“ mit diesem Paradoxon auseinandersetzt. Er schreibt: „Die Wissenschaft als Produktivkraft verändert die Zukunft schneller und umfassender, als die Wissenschaft als Erkenntnis der Zukunft selbst fassen kann.“[3] Und auch Hegel hielt in seiner dialektisch determinierten Welt durchaus auch das Gegenteil parat, den Zufall und die Willkür, die „Unruhe des Werdens“, wie ihn Friedrich Jonas in seiner berühmten „Geschichte der Soziologie“ zitiert. [4] Diese Unruhe schlägt in der IT mit unbarmherziger Härte immer wieder zu.
Es gibt in der IT praktisch nie fertige Lösungen, sie ist eigentlich gar nicht planbar oder berechenbar. Ihre Erfolge hatte sie in der Vergangenheit einer cleveren Verkaufsmethode zu verdanken. Anbieter wie SAP, die das bei IBM gelernt hatten, stiegen, legitimiert durch ihre „Fachqualifikation“, bei den Unternehmen „auf höchster Ebene“ ein und verkauften ihnen ihre Softwarewunder.
Warum hatten sie diesen immensen Erfolg? Ganz einfach, Adressaten ihrer Charming-Offensive waren die Finanzchefs, die graue Maus, der ewige Langweiler im Vorstand der großen Organisationen. Der Einsatz von Enterprise Ressource Planning (ERP), wie diese Art von Software bald genannt wurde, verhieß den Finanzchef vollkommene Kontrolle über alle Geldflüsse im Unternehmen. ERP war ihr Projekt, und das boxten sie gegen alle Widerstände durch. Wo sie in anderen Abteilungen wegen Budgetüberschreitungen längst die Notbremse gezogen hätten, boxen sie ihr ureigenes Projekt ohne Rücksicht auf Verluste und Verspätungen durch. Unmerklich veränderten sie damit das Selbstverständnis der Unternehmen. Die Firmen wurden mehr und mehr finanzgetrieben – sehr zur Freude der Aktionäre, sehr zum Leidwesen der Mitarbeiter. Diese sahen sich fortan einem stetig steigenden Kostendruck ausgesetzt. Die Finanzchefs hatten die Macht über alles – nicht nur über ihr eigenes Ressort, sondern über alle Prozesse. Software war auf dem Weg, den Sinn für alles, was wir taten, zu liefern.
Das Ergebnis: 43 Prozent der vom ZEW um Auftrag des Forschungsministeriums alljährlich untersuchten Unternehmen, zeigen keinerlei Innovationsaktivitäten. Tendenz: Fallend. Was steigt, seien „soziale Innovationen“, die aber mit dem Geschäftsmodell nur wenig zu tun haben.
Nebenbei bemerkt: Junge Bewerber, begehrt wie nie zuvor, würden ihre Zustimmung zu einem neuen Arbeitgeber nur dann abgeben, wenn ihnen versichert wird, dass die Untzernehmen auch einen Bienenstock auf dem Dach haben. So erzählte jüngst ein Wirtschaftsprüfer über ihm mehrfach beriochteten Erfahrungen aus seinem Mandantenkreis. Arbeiterbienen als Beispiel für „soziale Innovationen“? Da werden auf Dauer auch die Finanzchefs kapitulieren… Bee Ressouce Planning statt ERP. Unser neues „Zurück zur Natur“.
Schelsky hatte noch gemeint, dass es die „Meinungsherrscher“, die Medien und Pädagogen, sein würden, die unserem Leben mit ihrer Manipulationsmacht einen Sinn aufdrücken würden. Er glaubte, dass diese „neuen Herrschaftsgruppen daran Interesse haben, den Menschen immer mehr und leichter von einer Führung seines Lebens aus eigener Lebenserfahrung“ abzuschneiden. Er sah Herrschaft durch permanente Information und Belehrung von oben. Doch die weitaus mächtigeren „Meinungsherrscher“ waren die, die informiert wurden – durch Software, die ihrer Kontrolle unterworfen war, durch Enterprise REPORT Planning.
Herbert A. Simon, der 1978 den Nobelpreis für Wirtschaft erhielt, meinte schon damals, als sich diese Dominanz der Informatik in den siebziger Jahren abzeichnete, dass wir Gefahr laufen, von der Software nur noch als Maschinen gesehen zu werden – und schließlich uns selbst so sehen und verhalten würden.[5]
Nur das, was die Softwareleute für die Maschinen entwickelten, zählte. Und ihre Werke waren aus einem ganz besonderen, einem ganz anderen Stoff als dem, mit dem die Wirtschaft sonst umging. Dieser Stoff bestand aus reiner „Geistesmaterie“, wie es 1975 Frederik Brooks in dem bereits erwähnten Buch „The Mythical Man–Month nannte“.
Was die Programmierer leisteten, komme seiner Meinung nach „der Vorstellung von Gott gleich, der [ebenfalls] eine Freude daran hat, Dinge zu schaffen. Diese Freude zeigt sich in der Eigenart und Einzigartigkeit jedes Blattes und jeder Schneeflocke“ – oder in jedem Programm, das sich zwar beliebig und zu Null–Kosten vervielfältigen lässt, aber auch in sich einmalig sei.
In der Tat sind sie, die Programmierer, – was unsere Wirtschaft anbelangt – seit einem halben Jahrhundert dabei, eine Welt zu schaffen, die ohne Menschen existieren kann, ja existieren muss, um produktiv zu sein.
Eine Welt ohne Menschen zu errichten, war ohnehin in der Wirtschaft das Ziel von Anfang an. Die Industrielle Revolution hatte noch gar nicht richtig begonnen, da zeigte sie uns beispielhaft, wohin die Reise geht. In den Vereinigten Staaten baute 1784 der Erfinder und Unternehmer Oliver Evans die erste vollautomatische Getreidemühle der Welt. Auf der einen Seite füllten Arbeiter das Korn in der nur aus Holz gefertigten Anlage, auf der anderen Seite kam das Mehl heraus. Ohne irgendein menschliches Zutun. Und heute – im Zeitalter der Roboter – braucht man die Arbeiter auch nicht mehr. Sie wird sogar ohne Finanzchef auskommen.
Es ist eine programmierte, menschenleere Welt, in der – rein optisch – noch nicht einmal die Roboter an Menschen erinnern. Und aus dieser Welt wird letzten Endes auch die Species der Programmierer verschwinden. Denn ihre Produktivität ist alles andere als zufriedenstellend. Mitte der siebziger Jahre hatte das Fachblatt „Die Computer Zeitung“ die gerade erst erwachte Softwarebranche mit der Überschrift „Götterdämmerung für Programmierer“ schockiert. Die Programmierer gibt es noch, es wurden eher mehr als weniger. Die Zeitung allerdings existiert nicht mehr. Sie ist verschwunden wie so manche renommierte Fachpublikation, die mal glaubte, Sinn liefern zu müssen.
Der Engländer James Martin, ein Superstar unter den Lehrmeistern der Computerbranche der Nachkriegszeit, war der Meinung, dass sich auf Dauer die Maschinen selbst programmieren müssten. 1980 erklärte er kaltlächelnd in einem Interview mit dem Autor: „Die einzige Möglichkeit, die Programmier–Produktivität zu steigern, besteht darin, die Programmierer zu erschießen“.
Stattdessen hielten sich die Softwareentwickler ganz gut im Geschäft. Anstatt sich selbst zu eliminieren, beschlossen sie den Spieß umzudrehen. Alle zehn bis 15 Jahre beschließt die Branche, alles zu zerstören, was sie bisher geschaffen hat. Ein klarer Fall von Adamismus.
2007: »Wir betreten ein Zeitalter der Irrationalität und der Rückkehr in die Phantasie.«
François-Henri Pinault (*1962),
französischer Unternehmer von
Luxusgütern
Die Maske
Seit Corona wissen wir: Wir, das Volk, sind nur noch Person, was im Lateinischen das Wort für Maske ist: persona. 189 Millionen Antworten hat Google für uns parat, wenn wir die deutsche Vokabel „Maske“ in den Suchschlitz eingeben. Etwa doppelt so viele Antworten wie es Bürger gibt im deutschsprachigen Raum. „Mich nerven Masken auch“, sagte der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn (*1980). Auf einen Jahresverbrauch von acht bis zwölf Milliarden schätzte sein damaliger Kabinettskollege, Wirtschaftsminister Peter Altmaier (*1958), den Bedarf an Mundschutzmasken.
Die Maske war unsere erste Waffe gegen das Virus. Ein Stück Stoff, Gewebe. Mehr nicht. Nein, viel mehr. Es war der Philosoph Robert Spaemann (1927-2018), der den Begriff der Person von seiner ursprünglichen Bedeutung her aufgriff: als Maske. Durch sie sprach im antiken Theater der Schauspieler – fast schon ein doppeltes Spiel. Wir sind in der Lage, uns gleichsam hinter uns selbst zu stellen: „Wir bewerten nicht nur die Dinge entsprechend unseren Wünschen, sondern bewerten unsere Wünsche“ – eine Eigenschaft, die uns zu Menschen macht, die zudem nur schwer zu knacken ist.[1] Selbst von den schlauesten Algorithmen nicht. Sie errechnen zwar die Dinge, die wir uns wünschen, aber nicht unsere Wünsche. So nehmen nicht nur die Digitalkonzerne, sondern auch der Staat die Maske, also die Person, für das Ganze, das sie aber nicht ist. Was sie vorfinden, ist immer nur die Anpassung. Und auf die zielt alles.
Es ist der österreichische Psychoanalytiker Otto Rank (1884-1939), der uns hier einen wichtigen Hinweis geben kann. Er war einer der frühesten Schüler Sigmund Freuds, mit dem er sich aber später überwarf. Er „steht in der Geschichte der Psychoanalyse an herausragender Stelle“, meinte einmal das deutsche Ärzteblatt.[2] Rank sah den „Durchschnittsmenschen“ als jemanden, der in der trügerischen Einheit kollektiver Ordnungen lebt, die sich „im Grunde genommen längst als brüchig entpuppt hat, sondern er weigert sich, sich als Individuum anzunehmen und anzuerkennen. Die Notwendigkeit der Vereinzelung, die Rank wie Hegel als im geschichtlichen Ablauf begründet sieht, wird von dem ‚Durchschnittsmenschen` verdrängt“, schrieb der deutsche Psychiater Dieter Wyss (1923–1994), in einer Würdigung des Werkes von Otto Rank. Dieser Durchschnittsmensch lebt in einer Sphäre, die genau dem entspricht, was die Digitalkonzerne in ihre Algorithmen umrechnen können, die aber eigentlich nicht sein Leben sind. Wyss: „So kommt es, dass dieser nur Rollen spielt, in denen er glaubt, er selber zu sein, er will stets scheinen aber nicht sein. Er bewegt sich in einer Welt täuschender und verlogener Pseudoordnungen.“ [3] Es sind die Sphären von Social Media. Er ist letztlich seiner Individualität beraubt. Er ist reif für die Übernahme durch die Digitalkonzerne – und den Staat.
In der Folge wähnt sich besonders der Staat dort, wo er aus innerem Drang schon immer hin wollte. Ganz nah bei uns. So wird der Staat zum „Stoffdenker“, möchte man mit Ernst Bloch (1885–1977), dem großen Philosophen der Hoffnung, sagen.[4] Der Staat umhüllt uns mit Pseudoordnungen. Sie sind seine Maske, mit der er sich vor allem vor uns schützt. So trifft Maske auf Maske, Stoff auf Stoff. Und doch sind diese Masken eben nur das: Pseudoordnungen.
Bloch wollte mit dem Begriff des Stoffdenkers an den griechischen Hylozoismus erinnern, an die Annahme, dass alle Dinge belebt seien. Und weil der Staat, die Wirtschaft und all die anderen Institutionen und Systeme nicht an uns, die Menschen hinter der Maske, herankommen, erklären sie – trickreich wie sie sind – diese für belebt. Das genügt ihnen. Sie verpassen uns einen Maulkorb, nehmen uns allen Biss. Aber sie lassen uns wenigstens leben. Sie begnügen sich mit dem Äußeren.
Als Lohn für unsere Fügsamkeit erhielten wir, die wir das Untote, das Virus, in uns truagen, den Impf-Stoff, der uns die Rettung brachte. Weil doppelt genäht besser hält, wurde uns der kostbare Stoff gleich zweimal, dreimal verabreicht. Mehr noch: Der Staat, der Stoffdenker, gab uns sogar das Geld, die notwendigen ‚Lappen‘, damit wir überlebten. Abermilliarden von Euros pumpte er in unsere Taschen. Er ließ sich nicht lumpen. So lieferte er uns all den Stoff, den wir brauchten. Wir nahmen ihn dankend an – und merkten nicht, wie wir ganz langsam eingeschnürt wurden. Wir ließen uns in eine Zwangsjacke stecken, verloren unsere Individualität.
Der Staat und wir wurden eins. So möchte man frei nach William Shakespeare fabulieren: Wir sind nun der Stoff, aus dem die Systeme sind, und unser kurzes Leben ist eingebettet in einen langen Datenstrom, der an uns permanent Maß nimmt und Maß gibt. Aus uns kann man alles herausholen. Und doch lehrt uns diese Maske auch, wie wir uns vor diesem Zugriff schützen können. Denn: „Die Maske ist eben das, was sich nicht verwandelt, unverwechselbar und dauernd, ein Bleibendes im immer wechselnden Spiel der Verwandlung“, schreibt Elias Canetti (1905–1994), bulgarisch-britischer Literaturnobelpreisträger deutscher Sprache.[1] Während wir dem Staat immer dasselbe Antlitz zeigen, die Tat-Sachen, genießen wir die Freiheit der Verwandlung. Wir entschlüpfen ihm, ohne dass er dies merkt. Er hält nur eine Hülle in der Hand. Aber genau das – diese Verwandlung – müssen wir auch leisten. Das verlangt, dass wir letzten Endes alle Künstler werden, unsere Kreativität einbringen. Es ist der große Gegenentwurf: „In der künstlerischen Schöpfung steht das Ich in tiefstem Gegensatz zur Welt und ihren Gesetzen, will es doch diese Welt seinem künstlerischem Willen unterwerfen“, schreibt Dyss über Rank. Hinter der Maske sind wir alle ganz anders, wenn wir nur wollen. Da ist die Welt mit uns. Ohne Pseudoordnungen. Da sind wir bei uns selbst.
Der französische Soziologe Alain Touraine (*1925) hat es Ende des vergangenen Jahrhunderts geahnt: „Wir können nicht mehr von der Existenz einer um politische Institutionen organisierten Gesellschaft ausgehen“, schrieb er, der einst den Begriff der postindustriellen Gesellschaft ersann. „Macht ist überall und nirgends“, sagt er weiter. So aber sind auch wir. Wir sind überall und nirgends. Die Maske ist unsere Tarnkappe. Sie ist alles, was wir haben. Canetti: „Mit ihr beginnt und mit ihr steht und fällt das Drama“. Das gilt insbesondere für die Digitalisierung, die uns jeder Maske berauben möchte – und doch, je näher sie an uns heranrückt, desto undurchdringlicher werden unsere Masken. So erfüllt sich auf geradezu unheimlich Weise das, was Michel Foucalt bereits 1978 formulierte: „Die Menschen treten ständig in einen Prozess ein, der sie als Objekte konstituiert und sie dabei gleichzeitig verschiebt, verformt, verwandelt – und der sie als Subjekt umgestaltet“. [2] Und zwar derart umgestaltet, dass das Subjekt gar nicht mehr zum Vorschein kommt. Wir verschwinden hinter unserem Gesichtsvorhang. Wenn es gut läuft, sind wir Künstler. Wenn es schlecht läuft, sind wir nichts als leere Hüllen, gespenstische Gestalten.