1958:
„Daneben soll das Elektronen-Gehirn 'Ramac' in zehn verschiedenen Sprachen
Fragen aus der Geschichte von heute bis zum Jahre 4 vor Christus beantworten.“
'Der
Spiegel' in einer Titelgeschichte über die Weltausstellung in Brüssel und den
Pavillon der USA
Das Prinzip Verantwortung
Von Raimund Vollmer
Was im 20. Jahrhundert bloße Science Fiction und reine
Vorstellungskraft war, könnte im 21. Jahrhundert Wirklichkeit werden: die Welt
als Vollautomat, in der wir – die Menschen – zu Big Data verkommen. Wird das
Individuum vollends unterjocht? Ist die Maschine der große Gegenspieler – egal,
ob mit oder ohne eigenes Bewusstsein?
Auf diese Frage wurden wir bereits 1949 hingewiesen. In den
USA hatte Edmund Berkeley sein Buch „Giant Brains, or Machines That Think“
veröffentlicht. Es machte ihn und das Thema berühmt. Übrigens formulierte er in
diesem Werk bereits die Idee des Heimcomputers, dessen Erscheinen dann
allerdings noch 25 Jahre auf sich warten ließ.
Verbreitete Berkeley noch die Faszination, die vom Computer
ausging, war Nobert Wiener, der Vater der Kybernetik, in seinem ebenfalls 1949
erschienenen Buch „Cybernetics and Society“ weitaus skeptischer: „Die Maschine
aber, die wie der Flaschengeist lernen kann und auf Grund ihres Lernens
Entscheidungen fällen kann, wird durchaus nicht gebunden sein, Entscheidungen
zu treffen, wie wir sie getroffen hätten oder wie sie für uns annehmbar wären.
Denn der Mensch, der das Problem seiner Verantwortung blindlings auf die
Maschine abwälzt, sei sie nun lernfähig oder nicht, streut seine Verantwortung
in alle Winde und wird sie auf den Schwingen des Sturmwindes zurückkommen
sehen.“
Drei Jahrzehnte später fragte sich Hans A. Pestalozzi, einst
Topmanager bei dem Schweizer Migros-Konzern und nun ein Aussteiger, ein „Dissident“
der Wirtschaft: „Was ist das Entscheidende am Computer: Die gehirnähnlichen
Funktionen oder der drohende Totalitarismus à la Huxley oder Orwell?“
Es ist das große Verdienst des Whistleblowers Edward
Snowden, dass er uns an unsere Verantwortung erinnerte und uns mit seinen
Enthüllungen Einblick in eine Welt gab, die im Namen der Kontrolle selbst außer
Kontrolle gerät, die nichts und niemandem verantwortlich zu sein scheint außer
sich selbst. Eine Welt, die lenkt, aber nicht denkt. Eine Welt, die weiß, aber
nichts fühlt. Eine Welt mit Verstand, aber ohne Sinn. Und das scheint in der
Tat die größte Gefahr zu sein – nichts anderes. Eine kalte, gefühllose Welt,
die alles an sich zieht. „Gebt uns unser Grundrecht auf Privatsphäre zurück“,
titelte 2013 die 'Frankfurter Allgemeine Zeitung' in ihrem Feuilleton. In dem
ganzseitigen Artikel formulieren der frühere 'Spiegel'–Chefredeakteur Georg
Mascolo und der Leiter der Stiftung Neue Verantwortung Ben Scott: „Kein Staat,
egal, wie mächtig, kann heute noch die Privatsphäre seiner Bürger schützen.“
Alles, was wir in den vergangenen 250 Jahren geschaffen
haben, um damit unser Leben zu steuern, hatte die Tendenz, sich am Ende selbst
zu steuern und sich nur noch um sich selbst zu drehen. Alles wurde
selbstbezüglich.
Das gilt in hohem Maße für Computersysteme. Ein Thema
übrigens, das 1979 der Informatiker Douglas R. Hofstadter in seinem Buch „Gödel,
Escher, Bach“ aufgriff und dafür 1980 den Pulitzer-Preis erhielt. Sein Buch war
in Deutschland sechs Monate auf Platz 1 der Bestseller-Liste und faszinierte
damals vor allem die junge Informatik–Szene.
Diese schickte sich derweil an, gewaltige, hochkomplexe
Software–Systeme zu schaffen, die versuchen sollten, alles, was in Staat und
Wirtschaft abläuft, an sich zu raffen und unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie
war auf dem Weg in die „quartären Aktivitäten“.
Das galt für Maschinen, die sich in den achtziger Jahren zu
Computer Integrated Manufacturing (CIM) vereinen und dann in einem weiteren
Versuch zu Industrie 4.0 organisiert werden sollten. Das galt für
Buchhaltungssysteme, die sich in den achtziger Jahren zu Enterprise Ressource
Planning (ERP) aufblähten und Milliarden Dollar an Aufwand verschlangen – nicht
nur bei Anbieter wie SAP, sondern vor allem bei den Kunden.
In der berühmten Studie von Simon Nora und Alain Minc aus
den siebziger Jahren über „Die Informatisierung der Gesellschaft“ heißt es: „Die
Hauptherausforderung der kommenden Jahrzehnte liegt für die fortgeschrittenen
Gesellschaften unserer Welt nicht mehr in der Fähigkeit, die Materie zu
beherrschen. Das ist bereits erreicht. Die wesentliche Herausforderung liegt in
der Schwierigkeit, ein Netz von Verbindungen zu errichten, in dem sich
gemeinsam Information und Organisation weiterentwickeln können.“ Es geht hier
nicht um den Menschen und dessen Selbstbestimmung, sondern um Sachverhalte, um
Information und Organisation. Es geht um Ordnung. Nicht umsonst nennen die
Franzosen ihren Computer treffend „l'ordinateur“.
Wenn die beiden Franzosen mit dem Netz so etwas wie das
Internet in dieser Weiterentwicklung sahen, dann können wir ihnen heute
mitteilen, dass dies nun realisiert ist. Schon stehen wir vor einer neuen „Hauptherausforderung“,
nämlich der, dass sich dieses System aus „Information und Organisation“
verselbständigt – im Namen einer sich alles unterwerfenden Ordnung.
„Der Mensch ist nun mal der Faktor, der nie aufgeht“, meinte
im Dezember 1990, wenige Tage vor seinem Tod, der Schweizer Schriftsteller
Friedrich Dürrenmatt in einem Gespräch mit der Wochenzeitung 'Die Zeit'. Der
Mensch stört. Genau darin liegt möglicherweise auch sein Sinn. „Über die
Menschen hinaus gibt es keinen Sinn. Der Kosmos ist sinnlos“, sagt Dürrenmatt. „Was
tun mit der Milchstraße?“ fragte 1996 Jochen Gerz, der deutsche
Konzeptkünstler, nachdem er festgestellt hatte, dass „das sinnlose Objekt par
excellence die Natur“ ist. Wir sind es, die damit etwas anfangen müssen. Vielleicht
sogar ein „Zurück zur Natur“, wie es Rousseau vorschwebte? Mikis
Theodorakis, der weltberühmte griechische Komponist, befand in einem Gespräch
mit der 'FAZ': „Unser aller Leben hatte einmal einen natürlichen Rhythmus, den
haben wir verloren. Wir versinken in ungeheuren Geldbewegungen und einem
Bombardement von Informationen, wir verlieren und vergessen unsere
Menschlichkeit, unser Menschsein. Dabei haben wir Hunger auf echte Harmonie –
nicht auf solche, die als Illusion daherkommt. Die Menschen sollten lernen, der
Disharmonie entgegenzutreten und falsche Harmonie zu erkennen. An die Politik
gerichtet: Es ist äußerst gefährlich, Situationen falscher Harmonie zu
erzeugen.“
Es ist eine Welt ohne uns. Es ist die Welt des Big Data. Es
ist die Rettungskapsel für Big Government und Big Business. Und wir stecken in
der Falle...
»Es
ist nicht zu erwarten, dass Recht vor Macht gehen werde. Es soll so sein, aber
es ist nicht so.«