1999: „Im
Zeitalter der Trance bewegen sich die Menschen mit den Dingen ausgeglichen.
Halb Chip, halb Tiefe, bleibt ihnen kein Zwischenraum, zu reflektieren. Die
Dinge sind ihnen eingegeben wie im ersten Zeitalter der Trance die Götter.“ Botho Strauß (*1944), deutscher Schriftsteller
Was den Deutschen abgeht
Von Raimund Vollmer
„Im XVIII.
Jahrhundert beginnt, und seit 1815 eilt in gewaltigen Vorwärtsschritten auf die
große Crisis zu: die moderne Cultur“, erkannte der große Schweizer Historiker
Jacob Burckhardt (1818–1897) eine Welt, in der alles auf Erwerb und Verkehr
ausgerichtet ist. Im Gefolge der Französischen Revolution, aber auch der
Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress und die Gründung des Deutschen
Bundes (beides 1815) wurde der Begriff Kultur für ihn zum Synonym für Kommerz. Die „moderne Cultur“ hat nur noch wenig mit
Feinsinnigkeit zu tun, mit Bildung, mit Erbauung.
Nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich, 1870/71,
befürchtete er, dass nun das Profane, das Professionelle über alles andere
triumphiert. Und er fragt sich, ob das Militärische, die „Staats- und
Verwaltungsmaschine“, Rettung verheißt. Der deutsche Philosoph Friedrich
Nietzsche (1844–1900) sah es 1888 ähnlich: „Die Cultur und der Staat – man
betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten: ‚Cultur–Staat‘ ist bloß eine
moderne Idee.“ Der Philosoph Theodor W. Adorno (1903–1969), Mitbegründer der
legendären Frankfurter Schule, schrieb: „Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung,
ob er will oder nicht.“
Die Bürokratie erhebt sich über alles, sie beansprucht für sich den Oberbefehl –
gerne auch gemeinsam mit der Wirtschaft, aber am allerliebsten noch darüber.
In einem Essay analysiert Nietzsche das, was er unter der
Überschrift „Was den Deutschen abgeht“ beobachtet hat: je stärker Staat und
Wirtschaft, desto niedriger die Kultur. Nach der Gründung des Deutschen Reiches
strotzt dieses Deutschland nur so vor Kraft. Die Konsequenz: „In dem
Augenblick, in dem Deutschland als Großmacht herauskommt, gewinnt Frankreich
als Culturmacht eine veränderte Wichtigkeit.“ Noch meint Nietzsche, dass die
Kultur, nicht Staat und Wirtschaft, „die Hauptsache“ sei, aber in dieser
Beziehung „kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht.“ Wir sind weg vom
Fenster. Kultur ist nichts. Wirtschaft und Staat sind alles. Gespart wird immer
zuerst an der Kultur. Sie wehrt sich ja auch kaum. Dabei ist sie – so meinen
Beobachter – wahrscheinlich der größte Wirtschaftsfaktor. Nur hat die Kultur
nichts zu sagen. Das haben andere, die auch anderes im Sinne haben, andere
Hauptsachen.
So denkt auch der mit Nietzsche offenbar seelenverwandte
Burckhardt. Die militärische Macht sei nun die Hauptsache: „Alles andere“ ist „als
beliebig, dilettantisch, launenhaft in einen zunehmend lächerlichen Contrast
gerathen zu der hohen und bis in alles Detail durchgebildeten Zweckmäßigkeit
des Militärwesen“, fürchtet Burckhardt sich 1872 – im Gefolge der
Reichsgründung – in einem Brief. Andererseits sorgt er sich um die
Arbeiterschaft, um „jene Menschenanhäufungen in den großen Werkstätten“, die
dem Markt, also der „Gier und der Noth“, ausgeliefert sind. „Der Militärstaat
muss Großfabrikant werden“, fordert er gleichsam den Überstaat. Man dürfe den
Markt nicht dem Markt überlassen. Sonst werde wohl alles „zum bloßen business“,
ahnt Burckhardt. Es wird alles „wie in America“. Dort übernahm die Wirtschaft,
also die neue, vollkommen auf Konsum gerichtete, millionenfach entfesselte
Kultur, mehr und mehr den Staat. Mit dieser Entwicklung rücke das Individuum in
den Vordergrund – aber nur in seiner erbärmlichsten Gestalt: als Konsument, als
Verbraucher.
„Glaube das Neue schon als fertiges zu schauen, nämlich als
eine verarmte, materiell sehr reduzierte Welt“, bemerkt Burckhardt. Es ist eine
Welt, in der alles transparent wird, nimmt der Historiker des 19. Jahrhunderts
fast schon das Big Data des 21. Jahrhunderts vorweg. „Vorhänge können plötzlich
weggezogen“ werden, zitiert ihn 1997 der Journalist und Schriftsteller Henning
Ritter und spürt in dessen Ausführungen eine Ahnung auf, die tatsächlich weit
in die Zukunft weist, in unsere Zeit. „Die Ausleuchtung aller Verhältnisse,
eine immer größere Sichtbarkeit und die schwindende Chance, unsichtbar bleiben
zu können, abgeschirmt zu sein von einer zudringlicher werdenden Öffentlichkeit“
war nach Meinung Ritters das, was Burckhardt als den „Zug der Zeit“ ansah.
Der Mensch ist nicht mehr Subjekt, nur noch Objekt. Ja, er
ist noch nicht einmal mehr Mensch, er ist Funktion. „Individuelle Leistung ist
in standardisierte Effizienz umgewandelt worden“, schrieb 1941 der deutsch-amerikanische
Philosoph Herbert Marcuse (1898–1979). Das Individuum, das ja – übersetzt – das
„Ungeteilte“ heißt, ist in 1000 Funktionen und Algorithmen zersplittert. Es war
die „empirische Sozialforschung“, die diese Welt im 20. Jahrhundert bestens
aufbereitet hat. Sie „verfährt so, als ob sie die Idee des sozialen Atoms
wörtlich nähme“, warnte 1952 Adorno. In ihren Statistiken sind die Menschen „keine
Menschen“, sie sind Sachen und so werden sie behandelt. Adorno meinte, dass die
Sozialforschung die Wirkung ihrer eigenen Fragen und deren Wortlaut nicht
hinterfragt, sondern das Erfragte „so zurichtet. dass es zum Atom wird“.
Ja, das Hinterfragen ist nicht erwünscht.
Wir sind nicht mehr wir selbst, wir sind atomisiert und
können damit leicht irgendwelchen Algorithmen unterworfen werden. Wir selbst sind
ohne Eigenwert, wir sind unserer Individualität beraubt, von vorne bis hinten berechenbar und
bewertbar: In Geld, das demnächst alles – jede Transaktion – in Blockchains
festhält.