Dienstag, 25. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 51) (Der Staat und wir)


 "Einigkeit und Recht und Vielfalt."

Sportschau-Titel eines Trailers zur Europameisterschaft 2024 in Deutschland

The Good,
the Bad and
The Ugly

 Von Raimund Vollmer

 

Ein Bürgerrat soll her. Corona muss aufgearbeitet werden. Da sind sich alle einig. Nur das Wie ist die große Frage. Da uns allmählich dämmert, dass es sich bei dem Bürgerrat um eine neue sozialpädagogische Inszenierung handelt, wundert es nicht, dass sich diese neue Form einer pseudodemokratischen Institution besonders bei SPD und Grünen zunehmender Beliebtheit erfreut. Eine Enquete-Kommission wünscht sich stattdessen die FDP. Das sei der Goldstandard, sagt sie. [1]  Eine solche Kommission bringt Fachleute und Politik zusammen, ohne einander wehzutun. Man gereicht sich gegenseitig zur Ehre.

Noch weicher gespült werden die Ergebnisse, die harten Fakten, in einem Bürgerrat. Denn der besteht auf einem reinen PR-Effekt. Demonstriert wird hier vor allem, wenn nicht gar ausschließlich, wie gut sich Bürger und Politik verstehen – als käme es allein darauf an. Überhaupt scheint es irgendwie so zu sein, dass Friede, Freude, Eierkuchen die Merkmale einer wahren Demokratie werden. Man könnte auch „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ anstimmen, wie es ein kitschiger Trailer der „Sportschau“ zur EM 2024 verheißt. Freiheit wird ersetzt durch Vielfalt. Ja, die Vielfalt ersetzt die Freiheit, sie ersetzt die Demokratie, der so viele äußerst sittsame Gremien gewährt werden, bis am Ende die im Grundgesetz angelegte Exekutiv-Demokratie ihre Vollendung findet in einer alles regulierenden Bürokratie.

The Good.

Und das Schlimme ist, wir haben gar keine andere Chance, als das gut zu finden. Denn nur dann gehören wir selbst zu den Guten. Gestritten wird bald nur noch um das Wie, nicht mehr um das Was. Alles wird Lebenshilfe. Für alles gibt es Regeln, die auf Studien basieren, die auf Studien basieren. Und Studien sind die primäre Vorstufe zu Verordnungen, denen sich sogar unsere guten Gesetze unterordnen müssen.

The Bad.

Die Demokratie entfremdet die Demokratie. Doch und wer das behauptet, steht im Verdacht, schon kein Demokrat mehr zu sein.

And the Ugly.

So werden sich die Ampel-Parteien um das Wie der Corona-Aufarbeitung solange streiten,  bis diese Legislaturperiode zu Ende ist, befürchetet die CDU/CSU. Das ist wohl das eigentliche Ziel des Streits. Das ist der Grund für den Ruf nach einem Bürgerrat.

Eine Pseudordnung waltet, reine „Stoffdenkerei“, um mit dem Philosophen Ernst Bloch zu reden. Man verpackt Kritik institutionell hinter der Ehre der Teilnahme, so dass man sich als Bürger oder als Experte gar nicht mehr traut, hart und kritisch zu sein und dies auch noch zu äußern. Der gezähmte Bürger, der domestizierte Experte wird uns vorgeführt.So kennen wir ihn ja schon aus den Talkrunden. Wir sind an dieses Muster der aufgeregten Belanglosigkeiten bereits geöhnt.

Eine echte Auseinandersetzung über die Pandemie wird es nicht geben. Denn wir  waren ja selbst für die massiven Eingriffe in die Bürgerrechte. Das war schon fast Staatsräson. Die Herrschaft hatte die Zustimmung durch die Beherrschten, um eine Demokratieformel von Hans Magnus Enzensberger zu verwenden. Der Autor dieser Zeilen gehörte dazu. 

Nur hat die Herrschaft nicht mitbekommen, wann ihr die Beherrschten die Herrschaft entzogen.

„Mit überwältigender Zustimmung von Bevölkerung und Medien wurde da in einer Weise in die Grundrechte eingegriffen, wie ich es mir vorher nicht hätte vorstellen können“, meinte jüngst in der NZZ der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier. Ja, wir, die Bürger, waren lange Zeit sehr einsichtig. Und wer es nicht war, der war als Querdenker diskreditiert. Aus dem positiv belegten Begriff des Querdenkers wurde nach und nach der Querulant. Und nachdem sich der neue Querdenker geschaffen hatte, war er auch nicht mehr wegzudenken – aus dem Kalkül der Herrschaft. Nur ging das schief.

Wir leiden unter der Herrschaft der falschen „Stoffdenker“. Sie meinen: Alles, was die Herrschaft ärgern könnte, muss sorgfältig eingepackt und isoliert werden. Divide et impera! Herrsche und teile! Die alte römische Forderung findet ihre moderne Entsprechnung, die nicht mehr im Widerstreit von Interessen ihren Vorteil für den Dritten sieht, sondern in der Aufsplitterung und Isolation vieler kleiner, so weit voneinander liegenden Problemfelder, dass sie sich nicht mehr unter einen Hut bringen lassen.

Das Problem hinter dieser Lösung: Da muss nur einer kommen und diese Protestpartikel völlig unsortiert aufsammeln – und schon hat man die Rechtsnationalen. Nicht nur in Deutschland, Italien und Frankreich…

***

Das ist es, was uns Corona lehrte, das ist es, was Corona brachte: Der „Stoffdenker“ ist der große Gegenspieler zum sogenannten „Querdenker“, der sich den Stoff vom Munde reißt und seine Grundrechte über die der Gemeinschaft stellt. Der „Querdenker“ ist der Antagonist. „Seinen Mund aufzumachen“, wie es noch 1999 der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Günter Grass (1927–2015) wiederholt von uns forderte, ist derweil vor dem Gesetz und seiner Überordnungen, den Verordnungen, unmöglich geworden. Alles ist, alles wird maskiert, unsere Sprache, unsere Stimme, diese uns von allen anderen Lebewesen unterscheidende  Eigenschaft, klingt nur noch dumpf und stumpf.[2] Klar ist nur noch das, was elektronisch vermittelt ist. Wenigstens das! Keimfrei. Zoom sei Dank!

Wir tun so, als würde die Digitalisierung die Welt wieder einigen. In Wirklichkeit ist sie eine Aufforderung zur Unmündigkeit. Uns gibt es nur noch als normierte Subjekte.

Was soll’s? Zu sagen hatten wir ohnehin wenig, schon gar nichts gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus. Nur ein paar Unentwegte, Unbelehrbare muckten noch auf. Um mit Bloch zu sprechen,  es standen „die Freiheitskräfte (facultas agendi) hier, den Ordnungsmächten (facultas norma) dort“ unversöhnlich gegenüber. Querdernker versus Stofflenker.

Und weil man weder rechtsnational sein möchte, noch als Querdenker klassifiziertsein möchte, haben wir uns ergeben. Alles, was wir tun, ist fortan umfangen von unserem Staat, der alles umhüllt.

Es ist ein Spiel mit dem Feuer.

29 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"Zerschlagen will ich die bestehende Ordnung der Dinge, welche die einige Menschheit in feindliche Völker, in Mächtige und Schwache, in Berechtigte und Rechtlose, in Reiche und Arme teilt, denn sie macht aus allen nur Unglückliche."
Kapellmeister Richard Wagner,
Teilnehmer des aussichtslosen Aufstands in Dresden 1849, wie auch der Anarchist Bakunin.
Als die ersten Musketenkugeln einschlugen, suchte Wagner das Weite, "so scheide ich mich von der Revolution."

Anonym hat gesagt…

Das Parlament der Paulskirche 1848 haben im Eigentlichen Handwerker, Arbeiter und Bürger erstritten. Der "Bürgerrat" sollte als Nationalversammlung eine Verfassung ausarbeiten und hat sich in monatelangen Debatten zerstritten und am Ende dem Preußenkönig die Kaiserkrone angeboten, der dankend ablehnte, weil an ihr "der Ludergeruch der Revolution" hafte.
Der geschichtsvergessene Steinmeier hat zum 175. Jahrestag die am Ende erfolglosen Revolutionäre als Vorbilder unserer heutigen Demokratie gewürdigt.
Und was sagt er heute zu den "Querdenkern"?

Analüst hat gesagt…

Sind wir nicht allesamt auch glorreiche Halunken?

Anonym hat gesagt…

Der Journalyst auf Kafkas Spuren – mit Parabeln über machtlose Individuen in einer übermächtigen Gesellschaft.

Besserwisser hat gesagt…

Kommentare zu den Querdenkern erübrigen sich - wir haben doch genügend Besserwisser 😎 und sind den toleranten Umgang mit denen gewohnt

Anonym hat gesagt…

Die Parabel - verhilft nur beim Blick zum eignen Nabel

Anonym hat gesagt…

Irrtum vom Amt: uns gibt es nicht mehr als normierte Subjekte, sondern nur noch als normierte Objekte der digitalen Machthaber

Anonym hat gesagt…

Querdenker, Nachdenker - ich kann es nicht mehr hören. Wir brauchen Vordenker und Mitdenker!

Raimund Vollmer hat gesagt…

Mit Euch würde ich gerne in einem Bürgerrat sitzen. Wir hätten viel zu lachen... die anderen nicht. DANKE.

Anonym hat gesagt…

....nummerierte Objekte .....

Anonym hat gesagt…

Das Paulskirchenparlamemt wird immer bejubelt, tatsächlich hat es total versagt, die Freiheit und mögliche Demokratie an den Preußenkönig verschenken wollen.
Außerdem war es kein Bürgerparlament, die alten unfähigen Eliten haben es vergeigt. Sie konnten ihre Eigeninteressen nicht überwinden.

Anonym hat gesagt…

.....und was ist mit Nachdenkern?
Ein Bürgerrat bräuchte welche davon.

Anonym hat gesagt…

Der Parlamentarismus mit seiner Journalistik usw. wollte authentisch sein u. hat doch nur eine Karikatur zustande gebracht.
Robert Musil. Aphorismen
1880 Klagenfurt - 1942 Genf

Anonym hat gesagt…

Noch ein Musil:
Politik packt die Affekte.
Kunst erzieht sie.
(Aus einem Rapial - Nachlass)

Anonym hat gesagt…

🤣

Anonym hat gesagt…

„Das Lebenserhaltende ist die Vielfalt.“
Richard von Weizsäcker (1920 - 2015), Jurist, CDU-Politiker, von 1984-1994 Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland

Anonym hat gesagt…

„Die Bürger – das sind die anderen.“
Jules Renard (1864 - 1910), französischer Roman- und Tagebuchautor, Quelle: „Ideen, in Tinte getaucht“ (aus den Tagebüchern 1887-1910), 1925

Anonym hat gesagt…

Diese sanften frommen Lieder
Lassen Unglück nicht heran;
Engel schweben hin und wieder
Und so ist es schon getan.
J.W.v.Goethe Novelle

Anonym hat gesagt…

Geld ist eine herrliche Mitgift. Am besten ohne Frau.
Epudicus

Anonym hat gesagt…

Der Stoffdenker Olearius hat die vom "Bürgergeld" in sein Privatvermögen umgebuchten Gelder dauerhaft in sein Privatvermögen eingestellt. Sein Verfahren ist eingestellt, die Vergesslichkeit von Scholz vergessen.
Die Verfahrenskosten trägt der Staat, d.h. der bestohlene Bürger zahlt zweifach.
Harald Schmidt hat auch hier recht:
Ich glaube, dass viele anständige Investmentbänkerund grundehrliche Makler an der Börse ihr Geld im Schweiße anderer Angesichter verdienen.

Anonym hat gesagt…

Sorry: Epidicus

Anonym hat gesagt…

Denkt einer quer,
steht er meinen Gedanken im Wege. Mir bleibt doch auszuweichen.
Wo ist der Grund für die Schreierei?
Wer mit seinem Denken völlig unbeweglich ist, muss sich nicht bei anderen beklagen.

Anonym hat gesagt…

Wer schreit hat unrecht
Volksmund

Anonym hat gesagt…

Wer in seinem Denken völlig unbeweglich ist, denkt nicht weiter. Denkt er/sie:es überhaupt?

Anonym hat gesagt…

Ich denke, dass die Rindsrouladen meiner Oma die allerbesten sind. Und von dieser Meinung will ich auch nicht abweichen.

Analüst hat gesagt…

Von dieser Meinung wird man auch nicht durch Nachdenken abrücken, sondern nur durch Vergleiche. Wenn überhaupt. Da scheint ja auch "vell Jeföhl" dabei zu sein, wie die Kölschen sagen würden...

Anonym hat gesagt…

....ich denke schon weiter!
An den nächsten Besuch bei der Oma. Da könnten Sie mich mitnehmen. Ich wäre da beweglich.

Analüst hat gesagt…

😂😂😂

Analüst hat gesagt…

Essen ohne dich
Ich habe mich hungrig gefühlt,
Doch fast nichts gegessen.
War alles lecker, das Bier so schön gekühlt –
Aber: Du hast nicht neben mir
Gegessen.

Verzeihe: Ich stellte mir vor,
Daß das ewig so bliebe,
Wenn du vor mir –
Ach was geht über Liebe?!!

Muß ich nun doch
Ein paar Tage noch
Fressen, ohne Lust; o das haß ich. –
Aber wenn du von der Reise
Heimkehrst, weiß ich, daß ich
Wieder richtig speise.

Joachim Ringelnatz (1883 - 1934) in: 103 Gedichte, 1933