Die Anti-Politik
Aber dann sagte er etwas, was fortan mein Denken über
Politik nachhaltig prägte. Das sei ja nicht so schlimm, denn im Bundesrat
haben CDU/CSU die Mehrheit und nach
zwanzig Jahren der Kanzlerschaft von CDU und CSU seien alle entscheidenden Jobs
in der Verwaltung mit Mitgliedern des konservativen Teils besetzt. Zudem würden
CDU/CSU im Bundestag die größte Fraktion bilden. So begann damals die heißeste Phase
in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik. Sitzungen des Bundestages,
zumal dann, wenn Franz-Josef Strauß (CSU) sich mit einer Rede ankündigte und
die Debatte im Fernsehen live übertragen wurde, waren regelrechte Straßenfeger.
Tagsüber. Dann, wenn die Bundesrepublikaner und Bundesrepublikanerinnen zu
arbeiten hatten. Politik war wichtiger als alles andere – und man hatte das
Gefühl, keiner hatte zu viel Macht.
Damals lernte ich, dass es gut ist für eine Demokratie, wenn
die sie tragenden Institutionen nicht in einer Hand versammelt sind, sondern
auf durchaus verzwickte und komplexe Weise auf viele verteilt ist. Die Gefahr
einer „totalen Verwaltung“ (Max Horkheimer), sich in eine “totalitäre
Verwaltung“ zu verwandeln, bestand kaum. Und die Gewaltentrennung tat ihr
Übriges. Das Parlament war die höchste und vornehmste Institution.
Das Charisma der frühen Jahre ist längst verschwunden. Die
Leidenschaft, die uns damals über alle Parteigrenzen, alle Differenzen hinweg
in gegenseitiger Toleranz miteinander
verband, weicht mehr und mehr einem Gefühl des dumpfen, irrationalen Hasses
aufeinander.
In einem mich sehr nachdenklich machenden Essay des Londoner
„Economist“ wird diese Tendenz als „negative Parteinahme“ und „Antipolitik“
bezeichnet. Und mit dem heutigen Wahltag in den USA werden wir davon nun ein
Paradestück erleben und möglicherweise den Höhepunkt dieser Antipolitik – einer
Entwicklung, die mit den neunziger Jahren begann, mit dem Fall der Mauer und
dem Fehlen eines äußeren Feindes, der nach altbekannter Weise, den inneren Zusammenhalt stets fördert.
Mit dem Ende des Kalten Krieges verlegte sich stattdessen der
Konflikt ins Innere. Von diesen Konflikten haben wir so viele inzwischen, dass
der Anteil dessen, was wir gut finden, sich auf ein Minimum reduziert.
Die Wahlen in 50 Ländern zwischen 1961 und 2021 hat der
Economist gemeinsam mit Wahlforschern in einer 274 Wahlen umfassenden Studie untersucht
– und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass auf einer Skala von 0 bis 10 bis
etwa 1980 die Zustimmung für die eigene Partei gestiegen ist – auf fast acht
Punkte. Mit den neunziger Jahren sank sie auf knapp über sieben Punkte. Das
wirkt letztlich immer noch stabil. Doch rapide sank die Sympathie für
gegnerische Parteien von ehedem mehr als vier Punkten auf fast zwei, sie
halbierte sich praktisch. Der Argwohn: es ist fast schon zum Geschäftsmodell
der Politik geworden, die latent sicherlich in gewisser Weise stets vorhandene
emotionale Ablehnung des anderen zu schüren. Weltmeister darin ist natürlich
der Mann, der gerne wieder Präsident der Vereinigten Staaten werden will. Aber
wir spüren dies in unserem Land nicht nur in dem sich gegenseitig zersetzenden
Verhalten in der Koalition, sondern in den hiesigen Beurteilungen der kriegerischen
Auseinandersetzung in Israel und in der Ukraine. Da ist oftmals so viel
Scheinheiligkeit dabei, dass man schon gar nicht mehr anders kann, als zu dem
Eindruck zu kommen, dass es in Wahrheit nur noch um das Polarisieren geht.
Wer
sich einmal in eine mehr oder minder fragwürdige Position verrannt hat, ist
bereit, auch Lügen zu akzeptieren, wenn sie denn der eigenen Meinung dienen und
die „negative Parteinahme“ stärken. Ja, man sei sogar bereit, seinen eigenen Interessen zu schaden, wenn am Ende
der Gegner weitaus stärker belastet wird.
Es ist ein ungutes Klima, das auch Deutschland längst
erfasst hat. Und ein großer Teil der Politik und der Publizistik wirkt daran mit,
weil es die Aufmerksamkeit fördert. Dies ist mehr und mehr unverantwortlich. Und
um Verantwortung geht es denen, die da schüren, in der Tat schon gar nicht.
Letzten Endes ist dies aber eine Bankrotterklärung der
Politik, die nicht mehr in der Lage ist, eine positive Parteinahme in den
Vordergrund zu stellen. Zugegebenermaßen: sie hat auch auf den traditionellen
Feldern einer Erfolgsstrategie keine Unterstützung mehr. Wir sehen das
Missmanagement in der Wirtschaft, wir sehen den fehlenden Mut auf der Unternehmerseite,
wir spüren die Überwältigung aller Lebensverhältnisse durch administrative
Verfahren, wir ersticken in Anpassungsprozessen, die eigentlich nur sich selbst
zum Ziel haben: die Anpassung. Wir transformieren uns in absolute Sinnlosigkeit.
Es wäre an der Zeit, wieder zurück zu einer positiven
Einstellung zu Politik und Gesellschaft zu kommen. Sie wird aber bestimmt nicht
über die traditionellen Felder (z.B. Wohlstandspolitik) kommen. Denn wenn die
jetzige Periode irgendeinen Sinn hat, dann den, dass es nicht Wohlstand und
Technik sind, die Menschen einen und den Hass besiegen. Die Menschen wollen als
Menschen wahrgenommen werden – und nicht als Smartphone.
So habe ich vor 65 Jahren Politik erlebt - zwischenmenschlich und nicht medial gepusht. Uns haben vorrangig die Themen bewegt. Und es war auch im
Widerstreit der Institutionen ein tolles, intellektuelles Schauspiel, das uns geboten wurde.
Heute zanken sie nur noch ums Geld, das in erster Linie dazu dient, sich selbst
zu erhalten – und nicht die Aufgaben zu erfüllen, für die man sie dereinst
geschaffen hat. Vielleicht ist diese Art der Entfremdung das Grundübel. Wir haben
uns alle voneinander entfernt.
Ich weiß, dass ich damals mit meinem Vater gerne über
Politik diskutiert habe. Leidenschaftlich von meiner Seite, überlegen von der
Seite meines Vaters. Bitterbös wurde es nie, weil er mich verstand und ich ihn
mit der Zeit auch.
Raimund Vollmer