DER ZUKUNFTSSCHOCK
Von Raimund Vollmer
Am 2. Juni 2019 hatte ich das hier vorliegende Kapitel verlassen, jetzt habe ich es, bis auf wenige redaktionelle Korrekturen, eigentlich nur um ein einziges Wort ergänzt: ChatGPT. Irgendwie ist das der vorerst letzte Zukunftsschock, der uns im November 2022 ereilte. Das gesamte Manuskript, das längst die Marke von 1000 Seiten übersteigt und aus dem ich dieses Kapitel herausgegriffen habe, steht unter der Überschrift "Ohne uns - Gibt es ein Leben nach dem Jetzt?" Diese Frage hat so viele Aspekte in mir geweckt, dass ich mich in immer mehr Themen regelrecht hineinlas und hineinfraß. Ein Leben ohne die Gedanken, die mir bei meinen Ausflügen begegneten, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen. Es gibt so viele faszinierende Menschen mit so anregenden Gedanken und Phantasien, dass ich darüber mehr staune als über die gesamte Technik.
Im ersten Kapitel des Manuskripts, das ich in einen 20 minütigen Film verwandelt habe, stelle ich die These voran, dass jedes Jahrhundert immer schon 25 Jahre zuvor begann (Aussage von Peter F. Drucker/Tom Wolfe u.a.). Ja, dass man sogar sagen kann, dass dieses Jahrtausend in Wahrheit auch schon um 1750 (mit der Aufklärung, der französischen, der amerikanischen und der industriellen Revolution) begonnen hat. Deshalb ist vielleicht der 1. Januar 1975, mit dem ich heute beginne, besonders interessant...
Zu meiner Person: Mein Name ist Raimund Vollmer (Jahrgang 1952, geboren in Dortmund) Ich habe vor 50 Jahren, im Sommer 1973, als Volontär bei der Westdeutschen Zeitung/Düsseldorf Nachrichten begonnen. Zwei Jahre später wurde ich Redakteur bei der "Computer Zeitung" ohne auch nur die geringste Ahnung von diesem Titel-Gerät zu haben. Manchmal habe ich den Eindruck, dass dies noch heute stimmt, allerdings auf sehr viel höherem Niveau. Wahrscheinlich haben wir auch keine Ahnung von uns Menschen, was ich nach inzwischen 71 Jahren Lebenszeit bestätigen würde. Aber das macht es gerade so spannend. Ich bin - trotz aller Kritik - immer noch fasziniert von dieser Technik.
1978 wurde ich Chefredakteur des Computer Magazins (das ich ebenso überlebt habe wie die CZ). Seit 1981 lebe ich als freier Journalist in Reutlingen bei Stuttgart, verheiratet, drei Töchter, vier Enkelinnen, zwei Enkel. Ich bin seit mehr als vier Jahrzehnten Mitglied im Deutschen Journalisten-Verband, der mir aber zunehmend fremd wird. - Ich habe meine Texte nicht gegendert.
Am 1. Januar 1975 erschien auf der Titelseite der amerikanischen
Fachzeitschrift ‚Popular Electronics‘ ein Bild des ersten Heimcomputers der
Welt. Sein Name: Altair. Wie der ferne Stern. Und die, die ihn als erste sahen
und richtig deuteten, waren die beiden Amerikaner Paul Allen und Bill Gates.
Inspiriert von dieser Titelgeschichte starteten sie am 4. April 1975 das bald
mit seinen Befehlssätzen auf nahezu allen Computern präsente Projekt Microsoft.
Der Altair war gelandet. „Das Jahr 1975 markiert einen
Wendepunkt“, schrieb die kluge Soziologin Sherry Turkle (*1948) neun Jahre
später in ihrem Bestseller „Die Wunschmaschine“, in dem sie uns „Vom Entstehen
der Computerkultur“ berichtet. Und der Wendepunkt war diese kleine „Wunschmaschine“.
Das neue Jahrhundert hatte begonnen, der Start einer neuen
Ära. Gerade rechtzeitig. Denn es herrschte Endzeitstimmung, wenngleich aus
höchst unterschiedlichen Beweggründen. Der Journalist Alvin Toffler (1928–2016),
der bald der meistzitierte Zukunftsforscher der Welt wurde, hatte 1970 seinen
Weltbestseller „Der Zukunftsschock“ veröffentlicht. Darin meinte er: Was sich
momentan vor unseren Augen abspiele, sei „nichts weniger als die zweite große
Trennungslinie der Menschheitsgeschichte“. Mit dem Übergang vom „Natur- zum
Kulturzustand“ habe die Menschheit den „ersten großen Bruch“ vollzogen. Nun
aber befänden wir uns in einer Epoche, die „weit umfassender, tiefgreifender
und bedeutsamer sei als eine industrielle Revolution“. Alles verändere sich
nicht nur viel zu schnell, sondern obendrein mit steigender Geschwindigkeit.
Ein Gefühl, das uns bis heute immer wieder beschleicht, egal, ob es nun
objektiv stimmt oder nur subjektiv wahrgenommen wird.
Toffler griff mit seinem fast 400 Seiten starken, mit
Beispielen prall gefülltem Buch weit in die Zukunft. Selbst der deutsche
Zukunftsforscher Robert Jungk (1913–1994) war beeindruckt von diesem Werk: „Noch
nie ist mit einer solchen Überfülle von Fakten gezeigt worden, wie technischer
Fortschritt, der über den Produkten die Produzenten vernachlässigte, zu einer
kollektiven Erkrankung führte, für die der Autor den Terminus 'Zukunftsschock'
fand“, urteilte Jungk in einer Buchbesprechung im 'Spiegel', das noch
Nachrichtenmagazin genannt wurde.
Um uns zu zeigen, was mit uns passiert, reiste Toffler weit
zurück in die Vergangenheit und rechnete uns vor: Rund 800 Lebensspannen zu
jeweils 62 Jahren umfassen die letzten 50.000 Jahre der Menschheit. 650 Lebensspannen
haben wir in Höhlen verbracht, doch erst in den letzten 150 Lebensspannen haben
wir so richtig Fahrt aufgenommen – in einem Maße, dass wir uns fragen müssen,
ob wir intellektuell und konstitutionell überhaupt für eine solche
Beschleunigung geschaffen seien.
Sieben Jahre später sollte Paul Virilio (1932–2018),
französischer Philosoph, in seinem Essay „Vitesse et Politique“ davon sprechen,
dass der die Macht habe, der die Geschwindigkeit kontrolliere. „Lebendig sein
heißt Geschwindigkeit sein“, hatte er offenbar Tofflers Thesen weiter
getrieben.
Und 2002 meinte er, dass „Schnelligkeit keine Frage der Zeit zwischen zwei
Punkten“ sei, sondern eine eigene Form von Herrschaft darstelle. Sie sei „eine
Gewalt an sich“.
Aber sind wir dieser Gewalt überhaupt gewachsen? Das
Internet der rasenden Dinge sagt Nein. Und nur etwas ganz anderes sollte uns
viele Jahre später stoppen können: ein Virus namens Corona. Full stop.
2001:
»Wir sind Menschen, keine Maschinen«
Damals wie heute wird sichtbar: Der Mensch erscheint als
eine Fehlkonstruktion. Er ist viel zu schwach, um seine eigene Zukunft
überhaupt meistern zu können. Er kommt mit sich selbst nicht mehr mit. Ganz
anders die robusten Roboter, „die Funktionen ausüben, die normalerweise dem
Menschen zugesprochen werden oder als das erscheinen, was man fast schon als
menschliche Intelligenz bezeichnen könnte“, formulierte das populäre
englischsprachige Wörterbuch „Webster's“ in den siebziger Jahren.
Ist der schwache Mensch also dazu verurteilt, sein Schicksal
an ein künstliches Gehirn abzugeben? „Ein populäres Thema der Science–fiction
ist die Story von einem gigantischen Computer, der die ganze Welt übernimmt“,
meinte 1980 der Wissenschaftler Thomas B. Sheridan (*1929) in der vom
amerikanischen Massachusetts Institute of Technology (MIT) herausgegebenen
Zeitschrift „Technology Review“.
Von „modernen Digitalrechnern“ sprach bereits 1964 der IBM–Wissenschaftler
Arthur L. Samuel (1901–1990). Und er war sicher, dass im Jahr 1985 „fast jeder
seine eigene Rechenanlage besitzen wird“. So würde dies zumindest in der „kapitalistischen
Welt“ sein, die nun einmal dezentral organisiert sei. Im zentralistisch
geplanten Kommunismus hingegen würde „jedermann über einen eigenen Anschluss an
eine oder mehrere große, regierungseigene Rechenanlagen“ verfügen, so dass die
Regierung auf keinen Fall die Kontrolle über die Nutzung der Maschinen
verliere. Er sah auch schon das Handy voraus, das dem Menschen nicht nur zum
Telefonieren diene, sondern auch als Instrument, um auf diese Weise „mit seinem
Rechner Verbindung“ aufnehmen. zu können. Er träumte mit Blick auf das Jahr
1985 von automatischen Übersetzungsprogrammen, die als Synchrondolmetscher
selbst dem gesprochenem Wort gewachsen seien. „Bibliotheken mit richtigen
Büchern“ würde es nur noch in öffentlichen Bibliotheken geben – und er sah vor
sich das papierlose Büro.
Überschrift in der Frankfurter Allgemeine Zeitung am 20.
Juni 1992
Auch wenn die Prognosen 1985 noch längst nicht erfüllt waren
(und zum Teil auch heute noch nicht sind), war der Glaube an den technischen
Fortschritt nach wie vor ungebrochen – zumindest bei den technisch
interessierten Intellektuellen. Diese machten sogar unglaublichen Druck – wie
zum Beispiel 1983 die beiden Amerikaner Edward A. Feigenbaum (*1936) und Pamela
McCorduck (*1940) in ihrem Buch „Die fünfte Computer-Generation“. Hier bauten
sie das Thema Künstliche Intelligenz zu einem erbarmungslosen Wettlauf zwischen
den USA und Japan auf – so wie es heute zwischen China und dem Rest der Welt
diagnostiziert wird. Es ging damals wie heute um die „Wissenssysteme“, die –
mit artifizieller Intelligenz ausgestattet – das Merkmal einer „postindustriellen
Gesellschaft“ werden sollten, einem Begriff den 1973 der amerikanische
Journalist und Soziologe Daniel Bell (1919–2011) zwar nicht erfunden, aber
berühmt gemacht hatte.
1984: »Wir sind offenbar unfähig,
die Natur unserer
eigenen Denkvorgänge zu verstehen.«
„Nun sind wir auf dem Weg zur nächsten Stufe – dem Zeitalter
intelligenter Maschinen“, schrieben Feigenbaum und McCorduck mit der
Atemlosigkeit, die allen technisch getakteten Zukunftsforschern eigen zu sein
scheint. Im selben Jahr, 1983, prophezeite der deutsche Fernseh-Journalist
Dieter Balkhausen (1937–2018) mit ähnlichem Pathos, dass „der Großcomputer, der
das gesamte Wissen der Menschheit zu speichern in der Lage ist, keine Utopie“
mehr sei.
Ja, er sah eine Fülle von Novitäten mit Blick auf das Jahr 2000 auf uns
zurollen. So erwartete er das Aufkommen von Biochips, „die in den menschlichen
Körper eingepflanzt würden und deformierte und untüchtige Sinnesorgane ersetzen
sowie defekte Nervenbahnen überbrücken könnten.“
Taube, die wieder hören, Stumme, die wieder sprechen,
Blinde, die wieder sehen, Lahme, die wieder gehen, und Demente, die nichts mehr
vergessen – was für eine Zukunft! Der amerikanische Molekularbiologe Joshua
Lederberg (1925–2008), immerhin Nobelpreisträger, meinte in den siebziger
Jahren, dass wir die Gehirnhöhle des Menschen vergrößern müssten, damit unsere
grauen Zellen genügend Platz zum Wachsen hätten, um mit den neuen Anforderungen
an das Leben zurecht zu kommen.
Vielleicht werden wir aber größere Schädel aus einem ganz
anderen Grund benötigen. Der Wissenschaftsautor Johannes von Buttlar hatte
bereits 1979 in seinem Buch „Der Supermensch“ von Vorschlägen berichtet, unsere
Gehirnleistung durch Chips zu verstärken. „Der im Kopf implantierte Computer
wäre so natürlicher Teil des menschlichen Gehirns“, schrieb er.
Die meisten Erwartungen gingen noch nicht so weit, waren
dafür aber näher an der Lebenswelt von heute. Sheridan z.B. leitete damals das
Mensch-Maschine-Labor am MIT. Computer würden „unser alltägliches Leben
durchdringen und uns auf mannigfaltige Weise von ihnen abhängig machen.“ Heinz
Zemanek (1920–2014), österreichisches Computer–Genie, sprach – man staune –
1980 wortwörtlich von einer „Zukunft der verwobenen Netze der Netze“, bei dem
die „Dichte des Energie–und Fernsprechnetzes um Größenordnungen überholt werde“
und jeder „Zugriff zu gigantischen Datenbanken“ haben werde.
Er nannte sie „digitale Informationsader“, lange bevor die Lobbyisten der IT
und die Politiker uns mit dem Begriff „Digitalisierung“ zu
schockinstrumentalisieren versuchten. Zemanek erwartete bei dem, was auf uns
zukäme, „ein Bild von ungeheurer Tiefe und Vielfalt“.
Er sah wie Sheridan aber auch die Bedrohungen, von denen der
Amerikaner sieben auflistete, Bedrohungen, mit denen uns die Allgegenwart der
Computer konfrontieren werde. Die siebte dieser Bedrohungen sei auch die
größte, denn sie bestehe in der Angst davor, dass die Maschine intelligenter
werden könne als wir.
Es ist eine Angst, der dann 1973 der Harvard–Professor
Lawrence H. Tribe (*1941) die Krone aufsetzte, als er in einer 44seitigen
Schrift die drei Zukunftsschocks beschrieb, die die Menschen in den vergangenen
500 Jahren zu meistern hatten – und auf die nun mit der Künstlichen Intelligenz
eine vierte Disruption (Tribe nannte es „Diskontinuität“) lauerte.
·
Erst war es Nikolaus Kopernikus (1473–1543), der
mit seinen astronomischen Erkenntnissen unsere Erde aus dem Zentrum des
Universums katapultierte.
·
Dann war es Charles Darwin (1809–1882), der mit
seiner Evolutionstheorie unser nächstes Weltbild zerstörte.
·
Den dritten Zukunftsschock versetzte uns Sigmund
Freud (1856–1939) mit seiner Psychoanalyse, die unser Seelenleben in die
Abgründe unserer Triebwelten schmetterte.
·
Nun stünde die vierte Kränkung ins Haus – der
Sturz vom Thron der Erkenntnis.
Schon der Brite Alan Turing (1912–1954), der Mann, der für
die Entwicklung der Informatik bahnbrechend wirkte, hatte sich sehr intensiv
und sehr systematisch mit diesen Themen beschäftigt. Er gilt mit seiner Frage „Können
Computer denken?“ als einer der Begründer der Künstlichen Intelligenz. „Er
beantwortete seine Frage nicht, sondern entwarf eine Simulationssituation, in
der ein Computer die Aufgabe hat, einen Menschen über seine wahre Natur zu
täuschen“, erläutert der Informatikprofessor Bernd Radig (*1944), dessen
Spezialgebiet die Künstliche Intelligenz ist. Um
die Existenz künstlicher Intelligenz nachweisen zu können, erfand Turing einen nach
ihm benannten Test, bei dem die Maschine im Dialog so überzeugend wirkt, dass
Menschen die Antworten ihres künstliches Gegenüber für menschlich halten.
Bluffen gehört da momentan immer noch zum Geschäft.
Ob Turing selbst die immer wieder vorgestellten
Testergebnisse akzeptiert hätte, ist fraglich, ob die Maschinen vor ihm selbst
bestanden hätten, noch mehr. Er war umfassender interessiert. „Kann echte
Intelligenz in jeder Art von Substrat – sei es organisch, elektronisch oder
sonst wie beschaffen – enthalten sein?“, startete der amerikanische Informatik–Denker
Douglas R. Hofstadter (*1945) in seinem Buch „Metamagicum“ einen ganzen Strauß
von Fragen, mit denen sich das Superhirn Turing beschäftigt haben muss.
Im Internet der Dinge, wie es sich nun herausbildet, wird genau das gefordert
sein – und jeder Fortschritt gefeiert. Von uns Menschen.
»Bevor
wir es überhaupt wert sind Menschen genannt zu werden,
hat uns die Wissenschaft
bereits zu Göttern gemacht.«
Diese Themen lassen uns nicht mehr los, eigentlich begleiten
sie uns schon seit der Zeit René Descartes (1596–1659) – und je mehr wir uns
damit beschäftigen, desto verwirrter sind wir. Denn wir sind uns plötzlich
selbst nicht mehr unser sicher. „Ist unser Gehirn eine Illusion?“ fragte sich
1991 Daniel Dennett (*1942), ein amerikanischer Philosoph und Kognitionswissenschaftler,
und antwortete selbst mit einem klaren Ja. Der menschliche Verstand ist für ihn
eine „virtuelle Maschine“, die sich einer parallelen Hardware bedient, „die uns
die Evolution beschert hat.“ Sein britischer Kollege Gilbert Ryle (1900–1976)
hatte schon 1949 ein ähnliches funktionales Verständnis von unserem Verstand
entwickelt und den Ansatz von Descartes („Cogito ergo sum“) als ein „Gespenst
in der Maschine“ veralbert.
Aber damit waren wir dieses Gespenst noch lange nicht los.
Im Gegenteil: wir suchen geradezu den Geist in der Maschine,
ja, wir wollen es vielleicht sogar selbst sein. Das wäre dann sogar ein fünfter
Zukunftsschock – diesmal allerdings für die Maschine. Wir erobern sie zurück.
Jeremy Rifkin (*1945), amerikanischer Zukunftspapst
schlechthin, nahm 1983 ebenfalls Anleihen bei Nobelpreisträger Lederberg und
meinte, dass wir nun in das Zeitalter der „Algeny“ einträten – einem
Kunstbegriff in Analogie zur Alchemie, die beseelt war von der Vorstellung,
durch pyrotechnische Zauberkunst Materie wie Blei in Gold zu verwandeln. Nun
begänne die biotechnische Zauberkunst, das Spiel mit den Genen. Daraus würde
ein Biocomputer entstehen, über den wir erstmals unsere Vorstellungen direkt in
die Natur hineinprojizieren könnten. „Mit der Gen–Maschine ist es möglich,
lebendes Material in neue Designs und Produkte zu übertragen – und zwar in
ausreichender Stückzahl und mit genügend Geschwindigkeit, um einen
kostenwirksamen Startpunkt für die biotechnische Wirtschaft zu haben“, meinte
er 1983 in der Fachpublikation Datamation.
Natürlich würden wir damit auch den Menschen optimieren,
wobei es letztlich egal wäre, ob organisch oder anorganisch. Virilio sah eine
Zeit, in der wir unsere Existenz mehr und mehr an technische Prothesen heften
werden. Wir würden gleichsam unsere Lebensumstände an die der Behinderten
anpassen.
Einer dieser Behinderten, der 2018 verstorbene Physiker Steve Hawking, meinte
zwei Jahre vor seinem Tod: „Theoretisch ist es möglich, ein Gehirn auf einen
Computer hochzuladen und auf diese Weise ein Leben nach dem Tode zu
ermöglichen.“
Wir verlassen also unsere Biosphäre und materialisieren uns
in Silizium.
Dass dies oder eine andere Form des ewigen Lebens in
absehbarer Zeit möglich sei, davon sind vor allem mittelalte Milliardäre
überzeugt, Menschen, die wie Google-Gründer Sergey Brin oder Amazon–Schöpfer
Jeff Bezos mit ihren Imperien gigantische Organisationen geschaffen haben, die
immer mehr unserer Lebensbereiche beherrschen – durch Geschwindigkeit,
Allwissenheit und Allgegenwart. Warum sollten sie nicht auch die Ewigkeit
erreichen – nicht nur als System, sondern auch als Mensch? Sind wir nicht
geradezu dazu verurteilt, auf diese Art und Weise die Macht über das
Geschehen zurückzugewinnen, indem wir
selbst zur Maschine werden, ihr das geben, was ihr auf absehbare Zeit fehlen
wird: ein Bewusstsein?
Schon zuvor, in den Jahrzehnten nach der Industriellen
Revolution, haben wir uns mächtige Organisationen des Staates, der Wirtschaft
und der Wissenschaft geschaffen. Es sind Organisationen, Systeme, denen wir
mehr und mehr unsere Zukunft überlassen haben, denen wir zugleich eine
Ewigkeitsgarantie gegeben haben. Sie sind mehr als nur Prothesen. Sie bestimmen
heute fast alle unsere Bewegungen. Werden diese aufgeblähten und aufgeblasenen
Institutionen in der Lage sein, auch in den kommenden Jahrzehnten unser
Schicksal zu bestimmen, oder werden wir
selbst die Herrschaft wieder übernehmen?
Zweifel daran, dass wir die Macht über unser Schicksal
zurückgewinnen würden, waren schon 1970 angebracht, als Toffler uns den
'Zukunftsschock“ verpasste. Der Mensch selbst – so hatten Ärzte nachgewiesen –
sei in seiner Anpassungsfähigkeit begrenzt. Und zwar sowohl psychisch als auch
physisch. Schockstarre ist das Ergebnis. Die Folgen lassen sich dabei auf drei
Verhaltensmuster reduzieren:
·
Totale Verdrängung aller Ängste und Bedenken
durch zwangsprogessives Agieren.
·
Spezialisierung und Expertentum, indem wir immer
mehr über immer weniger wissen.
·
Rückzug ins Retro–Denken, also Flucht in die
gute alte Zeit, in der vermeintlich alles besser war.
Vielleicht läuft es aber auch ganz anders. 1986 hatte Kim Eric Drexler (*1955) unter dem Titel „Engines of Creation“ den
Begriff der Nanotechnologie ins Spiel gebracht und dabei die Vision entwickelt,
dass eines Tages programmierbare Molekular–Effektoren (PMEs) in unsere Umwelt
entlassen werden würden, um dann mehr oder minder systematisch das natürliche
Leben durch künstliches zu ersetzen. Eine bedrückende Vorstellung. Wir bereiten uns selbst den Garaus.
Lapidar ausgedrückt könnte man sagen: Entweder übernehmen wir die Maschine,
oder die Maschine übernimmt uns.
Im Grunde genommen stehen wir immer noch unter Zukunfts-Schock
mit der Tendenz zur
Zwangsprogressivität. Bis heute sind wir
nicht in der Lage, uns das Unvorstellbare vorzustellen – eine Welt, in der wir
uns endlich um uns selbst kümmern. Wir finden 1000 Ausreden, um genau dies
nicht zu tun. Die größte Ausrede ist dabei das Streben nach einem ewigem Leben,
das wir nicht mehr nur als Species in übermenschlichen Institutionen, sondern
als Individuum in technischen Systemen erlangen wollen. Werden wir uns wirklich
als Individuen erhalten können, oder werden uns nicht vielmehr die Maschinen
einverleiben, uns dabei das stehlen, was ihnen bis auf weiteres fehlt: ein
eigenes Bewusstsein. Werden sie es sich – so paradox das klingt – dieses
Bewusstsein unbewusst aneignen? Turings Geniestreich bestand darin, dass er die
Frage nach einem eigenen Bewusstsein als Voraussetzung für künstliche
Intelligenz ganz einfach ausklammerte. Und beim Blick auf unsere mächtigen, allzu
groß geratenen und anonymen Institutionen könnte man den Eindruck gewinnen,
dass diese auch reibungslos funktionieren, ohne ein eigenes Bewusstsein zu
haben. Ein gefährliches Spiel.
Toffler vermutete jedenfalls, dass wir bereits zu sehr die Organisationen
pampern, denen wir die Daseinsfür- und -vorsorge überantwortet haben. Sie
avancieren zu einem „Superindustrialismus“, ohne dass wir merken, dass dessen
ausschließliches Motiv nur noch die Selbsterhaltung ist. Es geht ihnen nicht um
uns, sondern nur noch um sich selbst. Es ist nicht so, dass sich diese
Superorganisationen dessen bewusst sind, sie folgen einem Gesetz, das aus sich
selbst existiert – wie die Natur. Aus eigener Kraft.
Der Philosoph Helmut Kuhn (1899–1991) forderte 1971: „Die
technologische Apparatur der modernen Massengesellschaft erzwingt eine
Verschiebung des Gewichts politischer Aktion auf die Wirtschafts- und
Sozialpolitik. Wie viel Staat wir brauchen? Jedenfalls viel mehr als vor
hundert Jahren, sehr viel mehr als in der Blütezeit des modernen
Nationalstaates.“ Und dann: „Die Komplexität der technologischen
Massengesellschaft fordert eine Verwaltung im Riesenmaßstab. Unter einem
solchen Zwang wurde der moderne Staat – Überstaat im Osten, Unterstaat im
Westen – zu einem Verwaltungsstaat sondergleichen.“ Natürlich missfällt dem
Bürger diese Entwicklung. „Allseitig vom Staat bedrängt, möchte er am liebsten
vom Staate nichts wissen“, diagnostiziert Kuhn die Ausbreitung von
Staatsverdrossenheit.
Zwischen all den Mächten, die uns wunderbar umsorgen, möchten wir doch für uns
selbst sein, zu uns selbst kommen.
1961: »Das Zeitalter der ‚denkenden Maschinen‘ und der
Automation hat begonnen.«
Im Prinzip wollen wir, dass dieser „Superindustrialismus“,
um diesen Tofflerschen Begriff zu benutzen, unsichtbar ist – so wie es Software
par excellence ist. Sie bildet eine eigene Sphäre, sie ist gleichsam ein
Zwischenreich, eine Bezugsebene, in der sie sich selbst spiegelt und damit mehr
und mehr die Wirklichkeit, über die sie wacht, zu der sie wird. Damit ist sie
wie geschaffen für Bürokratien. Beide sind unglaublich selbstbezüglich,
autoreferentiell. Sie beziehen alles auf sich und durch sich hindurch. Insofern
sind auch Facebook und Google nichts anderes als Bürokratien. Sie sind nicht
nur dabei, unser Leben in sich abzubilden, sie wollen es auch durchdringen. Sie
wollen uns leben, sie wollen unser Leben, indem sie unsere Wünsche noch vor uns
kennen. Und die Künstliche Intelligenz, die Krone aller Software–Entwicklung,
wird diesen Systemen ein menschliches Antlitz geben. ChatGPT.
Software frisst uns auf, zieht uns in ihren Schlund. Ganz
still. Ganz leise. Im Hintergrund allen Geschehens. Eigentlich erfüllt sich
damit ein „Klassiker des Marxismus“, wie es 1973 der Soziologe Helmut Schelsky (1912-1984)
formulierte: „Die Ablösung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch
'Verwaltung von Sachen'„.
Wir selbst sind auch nur noch Sache. Mit verheerenden Folgen: „Die Gesellschaft
ist dem Zufall überlassen worden“, zitiert Toffler den britischen Politiker
Raymond Fletcher.
Das war der Blick der siebziger Jahre auf die Zeit, in der
wir heute leben. Ein sehr scharfer Blick. Die siebziger Jahre wirkten wie eine
Zäsur, eine Epoche war zu Ende, eine neue begann. Ob sie unseren Beifall
verdient, ist die ganz, ganz große Frage...
Prost Neujahr