Dienstag, 2. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 54) - Die Sicht vor dem Jahr 2000 (1)

 Um die Jahrtausendwende entstand die folgende Betrachtung. Damals stand ich noch voll unter dem Eindruck eines epochalen Wechsels in der Geschichte der Menschheit. (Darunter habe ich es in meinem erinnerten Überschwang ganz bestimmt nicht getan.) Heute - und vielleicht liegt es am Alter - bin ich weitaus skeptischer. Beim Überarbeiten dessen, was ich in mein Gesamtmanuskript einfach mal eingefügt hatte, fiel mir mein nüchterner Schreibstil auf. Wahrscheinlich suchte irgendetwas in mir bereits die Distanz zu einer von Euphorie gekennzeichneten Zeit. So habe ich sie jedenfalls empfunden. Und weil ich gemerkt habe, dass ich die Sache mit dem verbrauchten Verbraucher (Teil 53) in seiner Fortsetzung noch einmal überarbeiten sollte, was Zeit kostet und Muße verlangt, lasse ich mal diese Rückschau passieren. Ich hoffe, dass meine Freunde dennoch mir ihre Lesetreue erhalten. Ich bin ihnen jedenfalls sehr, sehr dankbar für die ebenso amüsanten wie nachdenklichen und von Bildung gekennzeichneten Kommentare. Sie erfreuen mein Herz, das diese Woche mal wieder zum Kardiologen darf (was mich in meinem Herzrhythmus immer etwas unruhig macht. Da ist es schon besser, wenn ich mich jetzt mal mit dem Gehirn beschäftige...). R.V. 

 

Das Gehirn wird neu programmiert

Von Raimund Vollmer

 

1. Die Erfindung des Alphabets

Die Anfänge des ersten Informationszeitalters begannen etwa um 750 vor Christus. Damals wurde das Alphabet erfunden, seine Verbreitung erlebte es in der Antike ab 450 v.Chr. Damit veränderten sich nach Meinung des italienischen Neu­ro­phy­sio­lo­gen Luciano Mecacci die Funktionen unseres Gehirns. Bislang allein auf das Gedächtnis, auf die orale Überlieferung angewiesen, konnte der Mensch nun erstmals durch Lesen und Schreiben sein Erinnern festhalten und sich auf das Denken konzentrieren. Kein Wunder, dass dies die Zeit der großen griechischen Philosophen wurde. Das zeigte sich auch in der Dichtung. Während hier durch metrischen Gleichklang die Assoziation der Wörter gefördert wurde, so konnten jetzt die Texte freier gestaltet werden. Die Dichtung veränderte sich strukturell.

2. Das Reich der Römer

Es waren dann die Römer, die vor zweitausend Jahren die Sprache nutzten, um Eu­ropa zu vereinheitlichen. Sie schufen aber auch ein gemeinsames Recht und eine gemeinsamen Währung. Sie bildeten Europa zu einer gemeinsamen Kul­tur­zo­ne aus. »Cives Romani sumus wir sind römische Bürger«, hät­ten da­mals die Menschen auf die Frage geant­wor­tet, wer sie sei­en. Die Römer schufen indes im Unterschied zu den Griechen keine neue große Li­te­ra­tur. Es war ein Imperium, das nach wie vor auf eine orale Gesellschaft ausgerichtet war. 

3. EliteChristen

Ge­stürzt wurde das Römische Reich letztlich durch das Christentum, einer neuen Wissens-Elite. Der frü­here Jesuit Jack Miles, der für sein 1995 erschienenes Buch »God   A bio­graphy« den Pu­li­tzerPreis gewann, meint, dass die Christen in den Codices ihr Wis­­sen und ihre Weltanschauung fest­hielten, um es unter sich wei­ter­zugeben. Die heidnischen Ge­lehr­­ten aber, die geistige Pro­mi­nenz, verachteten die neue Mo­bi­li­tät des Wis­sens, die rö­mi­schen Kaiser befahlen gar Bücher­ver­brennungen. Es nützte nichts. Die neue »Ideo­logie« setzte sich durch, obwohl das Kopieren der Werke ein äußerst mühsamer Pro­zess war. Die Mönche brauchten mitunter ein ganzes Jahr für eine einzige Seite. Dennoch erlebte jetzt das »erste In­formations­zeit­alter« seinen Höhepunkt, meint der Kulturwissenschaftlerr Martin Irvine an der Georgetown University. »Es war das erste Mal, dass eine ganze Zivilisation sich um eine Stan­dardTech­no­logie kon­fi­gu­rierte, um Informationen zu speichern und zu ver­tei­len.«

4. Karl der Große und Europa

Mit der Krönung von Karl dem Großen in Rom am 25. Dezember 800 durch Papst Leo III. war Europa dann zum zwei­ten Mal »ideologisch« vereint. Für den Erlangener Historiker Kurt Kluxen war dies »die eigentliche Geburtsstunde Europas«. Denn mit dem »Vater Europas«, wie Karl schon von seinenZeitgenossen genannt wurde, entwickelte sich eine »romanischgermanisch-slawische Le­bens­welt«. Für 700 Jahre war dieser Multikulturalismus ver­eint in dem Glauben an den einen Gott: Credimus in unum Deum. »Es waren schöne Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte. Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs«, schrieb 1799 der Dichter Novalis in seinem Aufsatz »Die Christenheit oder Europa«. Ein Mani­fest dieser Einigkeit waren die Bibliotheken der Kirche. Der Pater Bib­lio­the­carus, der über die Buch­be­stände wachte und als größter Ge­heimnis­träger galt, wurde nach dem Abt zum mächtigsten Mönch in den Klö­stern, die mit ihren Orden ein europaweites Netzwerk bil­deten.

Hin­ter dieser Eini­gung im Glauben stand indes noch nicht die Idee des National­staa­tes. Sie kam erst viel später, mit der Reformation und der Franzö­si­schen Revolution. »Die Religion war längst Teil der Kultur, als die Völker begannen, sich als Na­tio­nen zu begreifen und in Natio­nal­staaten das Ziel ih­rer poli­ti­schen Bestrebungen zu se­hen«, schreibt Manfred Spie­ker, Professor für Christliche Sozial­wis­sen­schaften an der Uni­versi­tät Osnabrück. Kurzum: Das einzige, was das Eu­ropa des Mittel­alters einte, war der Glaube. Um ihn herum baute sich eine mächtige Priesterherrschaft auf, die wiederum von ei­ner Wissens­elite gestürzt wurde mit der Erfindung einer neuen Tech­no­logie, nämlich des Buchdrucks, und mit dem Be­ginn der Re­for­mation. Beides hängt eng zusammen. Ein »Geschenk Gottes« nannte Martin Luther den Buchdruck. So sahen es wohl auch seine Widersacher.

5. Ablaßbriefe & Steuern

Johan­nes Gutenberg, der 1450 be­gonnen hatte, eine 1282 Seiten starke Bibel zu drucken, nutzte seine Er­findung, um im Jahr 1455 Ablassbriefe für den Erzbischof von Mainz herzustellen. Es wäre so, als wür­de man das Internet erfinden, um damit Steuern zu kassie­ren. Es ist indes nie gut, wenn man eine Neue Welt zuerst durch Steuern zu sichern sucht. Vielleicht hatte die damalige Clinton-Administration dieses Bei­spiel vor Augen gehabt, als sie den Cyberspace vor fis­ka­li­­schen Zu­griffen schützte und zu einer Freihandelszone ohne Steuern und Zölle zumindest bis 2004 erhalten wollte. Denn die Geschichte mit dem Ablassbrief ging übel für die alten Machthaber aus, ebenso die mit der Teesteuer, mit der das britische Parlament seine Kolo­nien in Neuengland konfrontierte. Mit der Boston Tea-Party am 16. Dezember 1773, bei der Bostoner Bürger in ihrem Protest gegen die Steuer drei Schiffe der Ostindischen Kompanie enterten und 342 Kisten mit Tee über Bord war­fen, begann das Ende der Ko­lo­nialherrschaft Englands. Man kann eine Neue Welt nicht durch Steuern an sich binden. Schon gar nicht durch eine Bitsteuer, die sich so mancher Finanzminister wünschte. Es wäre der erste Schritt zu einer neuen Unabhängigkeitsbewegung gewesen..

Stattdessen haben wir Bitcoin. Geld schürfen jetzt andere…


Montag, 1. Juli 2024

Zum Tage

 2005: »Die liberale Wirtschaftsordnung ist eine institutionelle Maschine, die es erlaubt, die Existenzangst in einer potentiell gefährlichen Welt in die Furcht vor konkreten Gefährdungen zu verwandeln und so zu bewältigen.«

Guy Kirsch (*1938), luxemburgischer Wirtschaftswissenschaftler

Sonntag, 30. Juni 2024

Vor dem Spiel

17:50 Uhr: Werden wir gegen Georgien im Viertelfinale gewinnen?

Wir sehen uns vor dem Bildschirm

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 53) (Der verbrauchte Verbraucher 1)

1926

 »Die Zukunft wird, wenn sie so weitergeht, eine Paradies-Hölle sein. Wir werden alles haben, nichts mehr sein.«

Horst Krüger (19191999), deutscher Schriftsteller und Kulturjournalist

 

Happy hour

Von Raimund Vollmer

Von der Instamatic zu Instagram - Geschrieben in der Zeit der großen Einsamkeit, während der Pandemie, dieser konsumfreudigen Zeit

Wir sind es, die uns retten müssen. Wir, die ganz normalen Menschen. Wir, die Konsumenten. Wir ergreifen die Macht. Wir müssen endlich das tun, was der Theologe und Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Bräuning, 1967 in dem Büchlein „Freiheit, die sie meinen“ forderte, als er „eine Revolte der Verbraucher gegen sich selbst“ formulierte. Nicht die Werbung sei die Bedrohung, sondern unsere Anpassung an die Meinung anderer. Anders formuliert: wir sind alles andere als souverän. Wir tun nur so. Und keiner weiß das besser als Facebook.

Wir werden schamlos ausgenutzt. Sollen wir uns das noch länger gefallen lassen? Wir, der wir stets als der „wichtigste Wirtschaftsfaktor“ umschmeichelt werden. So nannte uns bereits 1961 der frühere deutsche Postminister Siegfried Balke (1902–1984), der in den fünfziger Jahren über diese Superbehörde wachte.[1] Damals war die Post ein unerschütterlich staatlich verbrieftes Monopol – unvorstellbar, dass es sich einmal dem freien Wettbewerb um uns, den wichtigsten Wirtschaftsfaktor, stellen würde. Das Regiment dieses alten Monopols basierte auf relativ klaren Gesetzen und Vorschriften, die Herrschaft der neuen Monopole, der Digital–Giganten, auf verklausulierten und unverständlichen Geschäftsbedingungen, die sich oftmals auch noch unerbittlich auf fremdes Recht berufen. Wir haben gar nicht gemerkt, wie sie uns in ihre Fänge genommen haben.

Wir sind nicht mehr die Verbraucher, das traditionell gern geschmähte vierte Wirtschaftssubjekt – nach Staat, Banken und Unternehmen. Wir sind die, die verbraucht werden – von Staat, Banken und Unternehmen. Wir sind zur Ausbeutung freigegeben.

In den 50er Jahren war es Ludwig Erhard, unser Wirtschaftswunderlandminister, der vor allen anderen Politikern der Welt die Bedeutung des Verbrauchers erkannt hatte. Der Verbraucher: „Erhard hat ihn nicht erfunden. Aber er hat ihn in einer Weise mit ökonomischem Bewusstsein ausgestattet, wie es bis dahin vielleicht schon in den Vereinigten Staaten, sonst aber in keinem Industriestaat üblich gewesen war“, schrieb 1987 Rüdiger Altmann, dereinst Berater Erhards im Bundeskanzleramt. Er hatte für seinen Chef in den sechziger Jahren den Begriff der „formierten Gesellschaft“ geprägt. Altmann: „Die Verbraucher in der sozialen Marktwirtschaft sind in einer ähnlichen Lage wie das Proletariat in der Utopie von Karl Marx: sie sind mit der Gesellschaft als ganzer identisch.“[1] Ein wunderbarer Gedanke. Wir sind mit uns eins, weil wir doch alle Verbraucher sind.

Uns liegt die ganze Welt zu Füßen. Uns, den Verbrauchern, uns, den Menschen. Uns, der Gesellschaft. Uns, den Subjekten. Wir hatten ja auch diese Warenwelt geschaffen. Max Horkheimer (1895–1973), dieser Sozialphilosoph und Kopf der Frankfurter Schule, hatte es 1937 so formuliert: „Indem sie“, also gemeint sind wir, „die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit erkennen, als die Organisation, die sich die Menschen in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war, identifizieren sie sich selbst mit diesem Ganzen und begreifen es als Willen und Vernunft: es ist ihre eigene Welt.“ Alles, was wir schufen ist gut und gehört uns, will er uns sagen, ganz im Sinne von Altmann.  

Aber dem steht etwas entgegen, über das wir keine Macht haben, niemand von uns – trotz aller Anstrengungen. Schreibt Horkheimer: „Zugleich erfahren sie“, also wir, „dass die Gesellschaft außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist, weil die auf Kampf und Unterdrückung  beruhenden Kulturformen keine Zeugnisse eines einheitlichen Willens, selbstbewussten Willens sind.“ Der Markt, der seinen eigenen Gesetzen folgt, ist die Macht, die uns wegnimmt, was wir gerade noch meinten, dass wir es besitzen. Es ist eine Über-Macht. „Diese Welt ist nicht die ihre“, also unsere, „sondern die des Kapitals“.[2]

Die menschliche Leistung einerseits und das fremde Kapital andererseits stehen demnach in der Marktwirtschaft einander unversöhnlich gegenüber. „Der Kapitalismus hat mit einem Sozialvertrag nichts zu tun“, heißt es knallhart bei Rüdiger Dornbusch, einem Wirtschaftswissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology.

Wir sind die Macher des einen, die menschliche Leistung, und die Opfer des anderen, des Kapitals. Das eine schöpfen wir aus uns selbst, als Person, als Gesellschaft, das andere folgt außermenschlichen Prozessen, die wir nicht kontrollieren, die sich selbst steuern, nach Angebot und Nachfrage, nach Preis und Wettbewerb. Das ist nicht in unserer Hand. Nicht schön, zeitweilig sogar richtig hässlich, vor allem in der Welt der Arbeit, aber noch erträglich. Und als User fühlten wir uns sogar recht frei. Schrieb der Journalist Ludwig Siegele 1997: „Tatsächlich ist das Internet bisher eine riesige happy hour.“[1] Wir waren glücklich. Wir bauten uns unseren „Ego-Palast“, wie die amerikanische Schriftstellerin Emma Cline (*1989) im Sommer 2021 das Internet bezeichnete.[2]

Noch ahnten wir nicht, dass wir als User im neuen Jahrtausend zum größten Kapital der teuersten Unternehmen der Welt avancieren würden. „Der Verbraucher lässt sich nicht ohne weiteres organisieren“, meinte Altmann. Das Internet sollte genau dies ändern. Mit dessen Verbreitung konnten wir uns nicht nur lokal, sondern erstmals sogar weltweit, über alle Landesgrenzen und Zeitzonen hinweg, vereinen und austauschen. Nahezu kostenlos. Ein Paradies. Wir waren auf dem besten Weg, uns völlig zu befreien. Stattdessen kickten und klickten wir uns selbst aus diesem Paradies. Wir wurden jederzeit identifizierbar, wobei es völlig egal war, ob unter Klarnamen oder Pseudonym.

Denn wir wurden selbst das Kapital, ohne das Kapital zu besitzen. Wir leben – und wir werden gelebt. Wir nutzen das Netz – und werden genutzt. Wir sind binäre Gestalten. Wir sind User. Wir spuken durch unsere Welt, die uns zugleich entfremdet ist. Wir leben im Paradies der Verlorenen.

Auch in diesem Paradies muss gearbeitet werden. Nicht als Last, sondern nach Lust und Laune. Ohne Lohn, am besten bedingungslos grundversichert. Das war der Traum von Karl Marx, das war unser aller Traum. Gleichheit! So machen wir denn auch im Netz unsere Arbeit. Wir sind sogar bereit, unsere eigene Arbeit zu bezahlen. Brüderlichkeit! Wir plauschen und tauschen, wir kaufen und verkaufen, wann immer wir wollen, mit wem wir wollen und von wo aus wir wollen, wir sind immer präsent, immer „on“, immer startklar, immer auf Empfang. Freiheit!

Dennoch sind wir nicht wir selbst. Wir alle stehen auf der Rechnung von ganz anderen, unterliegen einem gnadenlosen, unausgesprochenen, auf Willkür basierendem Haftbefehl. Mit „Habeas Corpus“ können wir uns in der realen Welt jederzeit dagegen wehren, aber es gibt kein „Habeas Data“, mit dem wir uns vor den virtuellen Welten schützen können. Unsere Daten sind nicht unveräußerlich.

Das lohnt sich – vor allem für Amazon und Facebook, für Google und Microsoft  als deren größtes Kapital, wir, die User, in ihren Büchern stehen, nicht persönlich, sondern als große Zahl zwischen 500 Milliarden und zwei Billionen Dollar Börsenkapitalisierung. Wir sind das Kleinvieh, das nicht Mist, sondern „most“ macht, das „meiste“ für die Aktionäre.