1807: »Ich glaube, dass es wichtig ist, die Fesseln zu sprengen, wodurch die Bürokratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hindert: Man muss diesen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vorteils zerstören, die Anhänglichkeit an den Mechanismus, welchem die Regierungsform unterworfen ist. Die Nation muss daran gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus diesem Zustand der Kindheit heraustreten, worin eine immer unruhige, immer dienstfertige Regirrung die Menschen halten möchte.«
Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757-1831), preußischer Staatsmann und Reformer in einem Brief an Karl August von Hardenberg
Dickes Ding
Von Raimund Vollmer
„Querdenker“ – Wer ist das schon? Was sind das denn für Typen? Unterschiede wurden lange Zeit absichtlich nicht gemacht, Querdenker gelten in den Augen des technischen Staates ohnehin als dummgefährlich. Ihr Denken ist weit unter dem Niveau der neuen „Technokratien“ und deren eiskalter Vernunft. Ihr Sammelbecken ist mehr und mehr die AfD, flankiert vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Es wird populistisch,
Unangenehm – aber wir bekommen sie jetzt, in Phase 2, in den Griff.
In Phase 1 waren sie ein wunderbar schrecklicher Gegner, ideal geeignet, um die eigene Macht- und Moralentfaltung zu rechtfertigen. So bewirkten die sogenannten „Querdenker“ genau das Gegenteil von dem, was sie wollten, wenn sie es denn überhaupt wollten, sondern im Zeitalter der totalen Medien nur nach Aufmerksamkeit gierten.
Unsere mehrheitliche Zustimmung hatten sie eher nicht, brauchten sie auch nicht. „Minderheiten haben die Tendenz zu wachsen“, hat einmal Kardinal Richelieu gesagt. Und je mehr man versucht, dieses Wachstum zu verhindern, desto stärker werden sie. Es stellt das politische Establishment vor ein Dilemma, das sie nicht wirklich auflösen kann.
Wir, die Braven und Guten, wussten zwar in Zeiten der Pandemie genau, auf wessen Seite wir zu stehen hatten und bekannten uns dazu ununterbrochen, auch danach bei unseren Demonstrationen. Aber da glaubten wir schon nicht mehr, die AfD verhindern zu können. Die Phase 2 begann. Nun ist sie fest etabliert, gibt sich allen Höckereien zum Trotz selbst als Establishment. Die BSW gehört sogar aus dem Stand heraus dazu.
Und wir, wir sind dazu verurteilt, das auch noch anzuerkennen: diesen Blitz-Marsch durch die Institutionen in Rekordzeit. Ein Super-Klassiker der Anpassung. Es sind die Institutionen, die sich ziemlich wehrlos zeigen. Jetzt brauchen sie uns als Hilfe. Was wohl der Herr vom und zum Stein dazu sagen würde?
Alles hatten die etablierten Parteien versucht, um diese AfD, 2013 gegen den Euro gegründet, in den Griff zu bekommen. Doch der Vormarsch der „häufig wegen ihrer rechtsextremen Themen“ (Der Spiegel) angefeindeten Partei ließ sich kaum stoppen. „Ignorieren“, brachte nichts. „Verteufeln“, brachte nichts. „Verhöhnen“, brachte nichts.
Eigentlich würde nur zweierlei helfen: „nationale Institutionen stärken, um die Schwachen vor der Globalisierung zu schützen. Und: den Menschen beibringen, wie Politik funktioniert“, nannte 2016 der Journalist und AfD-Kenner Justus Bender (*1981), zwei Maßnahmen, die nicht fruchteten. Eine Stärkung der Institutionen war schon immer das Allheilmittel, das zwar keine Lösung bringt, aber die Institutionen am Leben erhält.
Bender nannte allerdings noch eine andere Strategie, die in den Parteien diskutiert werde und Maß nehme an der Zeit vor 30 Jahren. Damals besaßen die klassischen Medien weitestgehend die „Deutungshoheit“, das Internet hatte noch nicht seine eigene Öffentlichkeit hergestellt. Damit war klar: Wenn man die sich selbst gerne als Qualitätsmedien lobende Publizistik auf seine Seite ziehen könne, würde dies ebenfalls helfen. Doch wie sollte man den Meinungsturbo einschalten?
Nicht einfach. Aber dann kam Corona, und plötzlich waren die Medien staatstragend.
Die Maßnahmen gegen das Virus boten die Möglichkeit eines Zusammenschlusses derjenigen, die auf eine vereinbarte Vernunft setzten und für die verbindlichen Regeln warben. Denn unter dem Regelwerk der Pandemie konnte sich das entwickeln, was Bender 2016 als eine „Wiederherstellung des Gefühls, dass Ordnung und Rechtsstaatlichkeit herrschen“, bezeichnete. Diese Projektion gelang anfangs in der Tat vorzüglich, auch wenn damit eine Einschränkung der Grundrechte verbunden war. [2] Sogar das nahmen wir in Kauf.
Als es im November 2020 zu einem Eklat im Bundestag kam und von der AfD eingeladene Besucher Abgeordnete und Regierungsmitglieder bedrängten, war das ein Beispiel dafür, der Welt zu zeigen, wer denn hier gegen Gesetz und Ordnung verstieß. Aber löste die Moralkeule, die da besonders heftig geschwungen wurde, wirklich die Probleme? Fraglich. Denn das positive Bild, das der Staat von sich in die Welt unter den Bedingungen der Pandemie hinaustrug, konnte jederzeit wieder kippen, wie man wenige Wochen später spürte. Die Zustimmung sank. Und auch die Medien gingen auf Distanz.
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„Der Staat ist weder ein Hort der Sittlichkeit noch eine moralische Anstalt“, meinte 2007 der Soziologe Wolfgang Sofsky (*1952). „Er hütet kein Gemeinwohl und ist auch keine Quelle väterlicher Geborgenheit. Der Staat ist eine Einrichtung zur Beherrschung der Bürger.“ Eine knallharte Ansage, die der brave Bürger 2024 genauso ungern hört wie 2021. „Fern jedes moralischen Fortschritts kennt die Entwicklung des Staates nur eine Richtung: Vorwärts in der Entmündigung der Bürger!“[3]
Da mochte die Maske manchem als ein Symbol des Marsches in die Unfreiheit erscheinen. Ein kleines Stück Stoff schränkte uns in unserer Freiheit ein – und war es nur die Freiheit des Ausdrucks, des freundlichen Lächelns in das Gesicht des anderen. Dass sich der Begriff „Freiheit“ von dem altdeutschen Wort „frihals“ ableitet, von dem freien Hals, um den kein Sklavenring gespannt ist, stimmte nachdenklich. Denn nun war der Staat ein Stück höher gerutscht. Wir fühlten uns unfrei hinter unserer Maske oder dem Halstuch, die Mund und Nase bedeckten. Waren wir die neuen Leibeigenen eines Systems, das uns als Souverän nicht mehr anerkannte? Oder war das, was Sofsky, Schelsky & Gehlen äußerten, nicht doch vollkommener Quatsch?
Schön wär’s. Denn dieser Prozess der Entmündigung erscheint inzwischen unumkehrbar. Zu viel haben wir dem Staat übertragen, zu viel hat er an sich gerissen – so viel, dass eine Kritik daran bereits als eine Absage an die Vernunft angesehen wird. Wir haben uns eine ganz entscheidende Frage weder gestellt, geschweige denn beantwortet: Was ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen? Gerade der Soziologe Jacques Ellul stellte sie, allerdings im Zusammenhang mit dem technologischen Fortschritt, in den Mittelpunkt. Sein Beispiel war Nazideutschland, das für den Preis der Vollbeschäftigung und einer starken Währung versäumt hatte, nach den Gesamtkosten zu fragen. Vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen. Es könnte ja sein, dass wir dann handeln müssten.
Ja, wir waren anfangs der Pademie durchaus zu Opfern bereit, auf wirtschaftlichen Wohlstand zu verzichten, eine „90-Prozent-Wirtschaft“ (‚The Economist‘) zu akzeptieren. Ja, wir zeigten Mitleid mit allen, die ganz persönlich unter den Folgen der Pandemie zu leiden hatten, aber die gesamtgesellschaftlichen Verluste hatten wir kaum auf unserer Rechnung. Nach uns die Sintflut! Letztlich hatten wir noch nicht einmal mehr über die Frage nach den Kosten zu entscheiden.
440 Milliarden Euro soll der Bund in den drei Jahren der Pandemie ausgegeben haben. Okay. Aber was war der Preis der Wirtschaft oder der Menschen? Da gibt es Berechnungen, die die wirtschaftlichen Ausfälle auf 545 Milliarden Euro inklusive Konsum taxieren.
Da kann einem nur schwindelig werden – addiert wäre das ja eine Billion Euro! Oder müssen wir das eine, den Ausfall, vom anderen, dem Staatsaufwand, subtrahieren? Egal, wie man das rechnet, ein echtes Ergebnis kommt bestimmt nicht dabei heraus.
Es geht nur daum, dass der Staat eine gute Figur macht. Wir verharren im Zustand der Kindheit.
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Der Staat steuert sich selbst – mit einer Rationalität und einer Raffinesse, der wir nichts mehr entgegenzusetzen haben. Wir können gar nicht anders als zustimmen. Nicht umsonst war das Wort „alternativlos“, das einmal (2010) das Unwort des Jahres war, gerne in Regierungsmund.
Welch eine Wendung! „Eine zentrale Intelligenz, von der aus sich der politische, ökonomische, soziale Gesamtprozess steuern ließe, ist nicht mehr auszumachen“, schrieb noch 1990 der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und wünschte sich, dass „der Staat im Dorfe“ bliebe, also in Bonn. Aber es wurde Berlin. Und alles, was außerhalb der Maske war, hieß plötzlich Staat, egal, wie sanft er uns zu behandeln suchte, wie verständig er sich gab. Enzensberger hatte geahnt, dass aus Bonn Berlin wurde: „Denn der entzauberte Staat ist weit davon entfernt abzusterben. Zwar ist die Behauptung, irgendein Individuum könne die ‚Richtlinien der Politik bestimmen‘, zu reiner Fiktion geworden, aber zugleich bereitet sich die ‚Administration von Sachen‘ immer weiter aus.“ Die Maske degradierte uns endgültig zu einer Sache, die administriert werden kann.
Schon „Hobbes definiert ganz folgerichtig“, meinte der Philosoph Reinhard Löw (1949–1994), wenn er sagt, „wissen, was ein Ding ist, heißt: wissen, was man damit machen kann, wenn man es hat.“[4] Genauso wird mit uns verfahren. Man hat uns im Griff. Sogar mit unserer Zustimmung. Und inzwischen sogar ohne Maske. Sie ist gefallen. Und das ist gut so.
Hegel würde sagen: Wer vernünftig ist, der ist wirklich. Der wird im Ernstfall auch beatmet. Das ist der Hylozoismus des 21. Jahrhunderts. Die Apparate stehen bereit. Wir sind das Big Thing, die große Sache. Zusammen mit unseren Daten, die wir jeden Tag den Cookies großzügig in den Thermomixer werfen.
Die Daten stellen ja längst nichts anderes dar als einen Sachverhalt. Es sind Objekte, beliebig austauschbar und verhandelbar. Sie sind ein Rechtsgut, das umso wertvoller ist, je persönlicher die Daten sind. So heißt es. Die Wahrheit ist: Daten sind in dem Augenblick, in dem sie geäußert werden, nicht mehr persönlich. Daten sind eine gute Sache. Zur Manipulation freigegeben. Zwar von uns persönlich, aber ziemlich unbewusst. Die Apps stehen bereit. Natürlich in harmonischer Übereinstimmung mit dem Gesetz – und wenn nicht, ist das auch nicht so schlimm. Im Vergleich zu den Daten aller anderen, ist unser Beitrag so geringfügig, dass Daten ohnehin als Gemeinschaftsgut gesehen werden sollten. Sie gehören allen.
So ist alles wunderbar gewendet. Hobbes würde sagen: Die „Gewere“, wie der Schutz der Sachen im Mittelalter genannt wurde, triumphiert über die „Munt“, dem Schutz der Personen. Die Sache steht über der Person, das System über dem Menschen. Und alles ist Recht, sogar von uns persönlich tausendfach genehmigtes Cookie-Recht. Alles ist res publica, eine öffentliche Sache, eine Republik. Jeder von uns könnte sich sozusagen selbst als eine Republik ausrufen. Und schon wird daraus eine fatale Bewegung: die Reichsbürger.
Unsere Welt ist ziemlich marode. Sie hat zu sich selbst keine Alternative mehr.
Wer zum Beispiel auf die Straße geht und protestiert, steht sofort im Verdacht, irrational zu denken – und wird entsprechend gebrandmarkt. Er ist ein „Querdenker“, es sei denn er ist gegen rechts. Aber handelt der Staat, diese „personifizierte Abstraktion“ (Ralf Dahrendorf), selbst auch rational? Verfolgt er nicht insgeheim ganz andere Absichten, als er uns sagt?
Und hat er nicht allen Grund dazu? Wurde er nicht zu oft in den vergangenen dreißig Jahren gedemütigt? Wer aber war’s?
Nicht wir, auch nicht die sogenannten „Querdenker“ sind seine wahren Gegenspieler. Es ist die Wirtschaft, die zugleich der mächtigste Verbündete des Staates ist. Eine äußerst komplizierte, zum äußersten angespannte Situation, in der zwischen Freund und Feind nicht mehr unterschieden werden kann.
Unsere Welt ist ziemluich verworren. Manche würden sagen, sie ist komplex.
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Damit das klar ist: Das ist keine Schrift gegen den Staat. Wir wollen ihn, und wir brauchen ihn. Vor allem aber zum Schutze unserer Freiheit. Und das ist das Problem.
Es kann sein, dass genau dies den Staat stört. Er strebt einen Zustand an, inden wer uns nicht mehr braucht – schon gar nicht unsere Zustimmung. Das aber darf niemals unsere Zustimmung bekommen.
1961 schrieb der damalige Minsterpräsident von Nordrhein-Westfalen Franz Meyers: „Die parlamentarische Demokratie steht und fällt mit der freien Entscheidung des freien, nur seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten. Wenn gesellschaftliche oder technische Zwangsläufigkeiten diese freie Entscheidung verdrängen, dann ist dies das Ende der parlamentarischen Demokratie und der Beginn des totalen Verwaltungsstaates, in dem es keine politische Entscheidung, sondern nur noch Verwaltungsmaßnahmen gibt, die nach verwaltungstechnischen Gesetzmäßigkeiten und Zweckmäßigkeiten vollzogen werden.“
Am Vorabend genau dieser Entwicklung stehen wir. Und die Pandemie hat uns auch schon gezeigt, welche Rolle wir dann zu spielen haben. Die Corona-Forderung „Zuhause bleiben“, an die wir uns noch erinnern, bekäme dann den Charakter einer Bedrohung, die Verbannung ins Ultraprivate. „Zuhause bleiben“, hieße dann „zuhause leiden“.
Das wäre ziemlich schwerer Stoff. Bloch hätte Recht: „Sein Draußen ist allemal ohne uns da.“[5]
Die Welt der reinen Zweckmäßigkeiten wäre eine Welt ohne uns.
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So wird es nicht kommen. Denn uns bleibt etwas, das selbst den stärksten Bürokraten umhaut. „Wenn wir das Spiel des Lebens noch einmal spielen könnten“, meinte einmal Stephen Jay Gould, „wäre es völlig unvorhersehbar, welche Lebensformen am komplexesten wären; es wäre unwahrscheinlich, dass ein Geschöpf mit einem Bewusstsein (so wie wir) entstünde.“
Sein Kollege Ernst Mayr (1904–2005) glaubte noch nicht einmal, dass es außer uns sonst noch ein derart intelligentes Wesen im Universum gäbe. Er hielt entsprechende Bemühungen, diese Aliens aufzuspüren „für großen Quatsch und eine ungeheure Feldverschwendung. Die Chance, dass Intelligenz entsteht, ist verschwindend gering“, rechnete er uns vor. „Es hat in der Erdgeschichte zwischen einer und 50 Milliarden verschiedener Arten gegeben. Wie viele von ihnen sind so intelligent geworden, dass sie das Weltall nach anderen Zivilisationen durchsuchen können. Eine einzige. Das Leben ist vor 3800 Millionen Jahren entstanden, und es hat mindestens 3799,98 Millionen Jahre gedauert, bis der moderne Mensch da war.“ Und dann setzt er noch mit feiner Ironie nach: „Die Suche nach Intelligenz auf der Erde ist auch sehr schwierig, aber nicht so aussichtslos.“[6]
In der Tat – wir sind nun einmal unmöglich. Aber unsere Intelligenz reicht aus, dass kein Computer, kein System, kein Staat uns in den Griff bekommen kann. Wir sind weder untot, noch tot zu kriegen. Wetten?