Samstag, 6. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 57) - (Der Staat sind wir)


1807: »Ich glaube, dass es wichtig ist, die Fesseln zu sprengen, wodurch die Bürokratie den Aufschwung der menschlichen Tätigkeit hindert: Man muss diesen Geist der Habsucht, des schmutzigen Vorteils zerstören, die Anhänglichkeit an den Mechanismus, welchem die Regierungsform unterworfen ist. Die Nation muss daran gewöhnt werden, ihre eigenen Geschäfte zu verwalten und aus diesem Zustand der Kindheit heraustreten, worin eine immer unruhige, immer dienstfertige Regirrung die Menschen halten möchte.«

Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757-1831), preußischer Staatsmann und Reformer in einem Brief an Karl August von Hardenberg

 

Dickes Ding

Von Raimund Vollmer

 

„Querdenker“ – Wer ist das schon? Was sind das denn für Typen? Unterschiede wurden lange Zeit absichtlich nicht gemacht,  Querdenker gelten in den Augen des technischen Staates ohnehin als dummgefährlich. Ihr Denken ist weit unter dem Niveau der neuen „Technokratien“ und deren eiskalter Vernunft. Ihr Sammelbecken ist mehr und mehr die AfD, flankiert vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Es wird populistisch,

Unangenehm – aber wir bekommen sie jetzt, in Phase 2, in den Griff.

In Phase 1 waren sie ein wunderbar schrecklicher Gegner, ideal geeignet, um die eigene Macht- und Moralentfaltung zu rechtfertigen. So bewirkten die sogenannten „Querdenker“ genau das Gegenteil von dem, was sie wollten, wenn sie es denn überhaupt wollten, sondern im Zeitalter der totalen Medien nur nach Aufmerksamkeit gierten.

Unsere mehrheitliche Zustimmung hatten sie eher nicht, brauchten sie auch nicht. „Minderheiten haben die Tendenz zu wachsen“, hat einmal Kardinal Richelieu gesagt. Und je mehr man versucht, dieses Wachstum zu verhindern, desto stärker werden sie. Es stellt das politische Establishment vor ein Dilemma, das sie nicht wirklich auflösen kann.

Wir, die Braven und Guten, wussten zwar in Zeiten der Pandemie genau, auf wessen Seite wir zu stehen hatten und bekannten uns dazu ununterbrochen, auch danach bei unseren Demonstrationen. Aber da glaubten wir schon nicht mehr,  die AfD verhindern zu können. Die Phase 2 begann. Nun ist sie fest etabliert, gibt sich allen Höckereien zum Trotz selbst als Establishment. Die BSW gehört sogar aus dem Stand heraus dazu.

Und wir, wir sind dazu verurteilt,  das auch noch anzuerkennen: diesen Blitz-Marsch durch die Institutionen in Rekordzeit. Ein Super-Klassiker der Anpassung. Es sind die Institutionen, die sich ziemlich wehrlos zeigen. Jetzt brauchen sie uns als Hilfe. Was wohl der Herr vom und zum Stein dazu sagen würde?

Alles hatten die etablierten Parteien versucht, um diese AfD, 2013 gegen den Euro gegründet, in den Griff zu bekommen. Doch der Vormarsch der „häufig wegen ihrer rechtsextremen Themen“ (Der Spiegel) angefeindeten Partei ließ sich kaum stoppen. „Ignorieren“, brachte nichts. „Verteufeln“, brachte nichts. „Verhöhnen“, brachte nichts.

Eigentlich würde nur zweierlei helfen: „nationale Institutionen stärken, um die Schwachen vor der Globalisierung zu schützen. Und: den Menschen beibringen, wie Politik funktioniert“, nannte 2016 der Journalist und AfD-Kenner Justus Bender (*1981), zwei Maßnahmen, die nicht fruchteten. Eine Stärkung der Institutionen war schon immer das Allheilmittel, das zwar keine Lösung bringt, aber die Institutionen am Leben erhält.

Bender nannte allerdings noch eine andere Strategie, die in den Parteien diskutiert werde und Maß nehme an der Zeit vor 30 Jahren. Damals besaßen die klassischen Medien weitestgehend die „Deutungshoheit“, das Internet hatte noch nicht seine eigene Öffentlichkeit hergestellt. Damit war klar: Wenn man die sich selbst gerne als Qualitätsmedien lobende Publizistik auf seine Seite ziehen könne, würde dies ebenfalls helfen. Doch wie sollte man den Meinungsturbo einschalten?

Nicht einfach. Aber dann kam Corona, und plötzlich waren die Medien staatstragend.

Die Maßnahmen gegen das Virus boten die Möglichkeit eines Zusammenschlusses derjenigen, die auf eine vereinbarte Vernunft setzten und für die verbindlichen Regeln warben. Denn unter dem Regelwerk der Pandemie konnte sich das entwickeln, was Bender 2016 als eine „Wiederherstellung des Gefühls, dass Ordnung und Rechtsstaatlichkeit herrschen“, bezeichnete. Diese Projektion gelang anfangs in der Tat vorzüglich, auch wenn damit eine Einschränkung der Grundrechte verbunden war. [2] Sogar das nahmen wir in Kauf.

Als es im November 2020 zu einem Eklat im Bundestag kam und von der AfD eingeladene Besucher Abgeordnete und Regierungsmitglieder bedrängten, war das ein Beispiel dafür, der Welt zu zeigen, wer denn hier gegen Gesetz und Ordnung verstieß. Aber löste die Moralkeule, die da besonders heftig geschwungen wurde, wirklich die Probleme? Fraglich. Denn das positive Bild, das der Staat von sich in die Welt unter den Bedingungen der Pandemie hinaustrug, konnte jederzeit wieder kippen, wie man wenige Wochen später spürte. Die Zustimmung sank. Und auch die Medien gingen auf Distanz.

***

„Der Staat ist weder ein Hort der Sittlichkeit noch eine moralische Anstalt“, meinte 2007 der Soziologe Wolfgang Sofsky (*1952). „Er hütet kein Gemeinwohl und ist auch keine Quelle väterlicher Geborgenheit. Der Staat ist eine Einrichtung zur Beherrschung der Bürger.“ Eine knallharte Ansage, die der brave Bürger 2024 genauso ungern hört wie 2021. „Fern jedes moralischen Fortschritts kennt die Entwicklung des Staates nur eine Richtung: Vorwärts in der Entmündigung der Bürger!“[3]

Da mochte die Maske manchem als ein Symbol des Marsches in die Unfreiheit erscheinen. Ein kleines Stück Stoff schränkte uns in unserer Freiheit ein – und war es nur die Freiheit des Ausdrucks, des freundlichen Lächelns in das Gesicht des anderen. Dass sich der Begriff „Freiheit“ von dem altdeutschen Wort „frihals“ ableitet, von dem freien Hals, um den kein Sklavenring gespannt ist, stimmte  nachdenklich. Denn nun war der Staat ein Stück höher gerutscht. Wir fühlten uns unfrei hinter unserer Maske oder dem Halstuch, die Mund und Nase bedeckten. Waren wir die neuen Leibeigenen eines Systems, das uns als Souverän nicht mehr anerkannte? Oder war das, was Sofsky, Schelsky & Gehlen äußerten, nicht doch vollkommener Quatsch?

Schön wär’s. Denn dieser Prozess der Entmündigung erscheint inzwischen unumkehrbar. Zu viel haben wir dem Staat übertragen, zu viel hat er an sich gerissen – so viel, dass eine Kritik daran bereits als eine Absage an die Vernunft angesehen wird. Wir haben uns eine ganz entscheidende Frage weder gestellt, geschweige denn beantwortet: Was ist der Preis, den wir dafür bezahlen müssen? Gerade der Soziologe Jacques Ellul stellte sie, allerdings im Zusammenhang mit dem technologischen Fortschritt, in den Mittelpunkt. Sein Beispiel war Nazideutschland, das für den Preis der Vollbeschäftigung und einer starken Währung versäumt hatte, nach den Gesamtkosten zu fragen. Vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen. Es könnte ja sein, dass wir dann handeln müssten.

Ja, wir waren anfangs der Pademie durchaus zu Opfern bereit, auf wirtschaftlichen Wohlstand zu verzichten, eine „90-Prozent-Wirtschaft“ (‚The Economist‘) zu akzeptieren. Ja, wir zeigten Mitleid mit allen, die ganz persönlich unter den Folgen der Pandemie zu leiden hatten, aber die gesamtgesellschaftlichen Verluste hatten wir kaum auf unserer Rechnung. Nach uns die Sintflut! Letztlich hatten wir noch nicht einmal mehr über die Frage nach den Kosten zu entscheiden.

440 Milliarden Euro soll der Bund in den drei Jahren der Pandemie ausgegeben haben. Okay. Aber was war der Preis der Wirtschaft oder der Menschen? Da gibt es Berechnungen, die die wirtschaftlichen Ausfälle auf 545 Milliarden Euro inklusive Konsum taxieren.

Da kann einem nur schwindelig werden – addiert wäre das ja eine Billion Euro! Oder müssen wir das eine, den Ausfall, vom anderen, dem Staatsaufwand,  subtrahieren? Egal, wie man das rechnet, ein echtes Ergebnis kommt bestimmt nicht dabei heraus.

Es geht nur daum, dass der Staat eine gute Figur macht. Wir verharren im Zustand der Kindheit.

***

Der Staat steuert sich selbst – mit einer Rationalität und einer Raffinesse, der wir nichts mehr entgegenzusetzen haben. Wir können gar nicht anders als zustimmen. Nicht umsonst war das Wort „alternativlos“, das einmal (2010) das Unwort des Jahres war, gerne in Regierungsmund.

Welch eine Wendung! „Eine zentrale Intelligenz, von der aus sich der politische, ökonomische, soziale Gesamtprozess steuern ließe, ist nicht mehr auszumachen“, schrieb noch 1990 der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger und wünschte sich, dass „der Staat im Dorfe“ bliebe, also in Bonn. Aber es wurde Berlin. Und alles, was außerhalb der Maske war, hieß plötzlich Staat, egal, wie sanft er uns zu behandeln suchte, wie verständig er sich gab. Enzensberger hatte geahnt, dass aus Bonn Berlin wurde: „Denn der entzauberte Staat ist weit davon entfernt abzusterben. Zwar ist die Behauptung, irgendein Individuum könne die ‚Richtlinien der Politik bestimmen‘, zu reiner Fiktion geworden, aber zugleich bereitet sich die ‚Administration von Sachen‘ immer weiter aus.“ Die Maske degradierte uns endgültig zu einer Sache, die administriert werden kann.

Schon „Hobbes definiert ganz folgerichtig“, meinte der Philosoph Reinhard Löw (1949–1994), wenn er sagt, „wissen, was ein Ding ist, heißt: wissen, was man damit machen kann, wenn man es hat.“[4] Genauso wird mit uns verfahren. Man hat uns im Griff. Sogar mit unserer Zustimmung. Und inzwischen sogar ohne Maske. Sie ist gefallen. Und das ist gut so.

Hegel würde sagen: Wer vernünftig ist, der ist wirklich. Der wird im Ernstfall auch beatmet. Das ist der Hylozoismus des 21. Jahrhunderts. Die Apparate stehen bereit. Wir sind das Big Thing, die große Sache. Zusammen mit unseren Daten, die wir jeden Tag den Cookies großzügig in den Thermomixer werfen.

Die Daten stellen ja längst nichts anderes dar als einen Sachverhalt. Es sind Objekte, beliebig austauschbar und verhandelbar. Sie sind ein Rechtsgut, das umso wertvoller ist, je persönlicher die Daten sind. So heißt es. Die Wahrheit ist: Daten sind in dem Augenblick, in dem sie geäußert werden, nicht mehr persönlich. Daten sind eine gute Sache. Zur Manipulation freigegeben. Zwar von uns persönlich, aber ziemlich unbewusst. Die Apps stehen bereit. Natürlich in harmonischer Übereinstimmung mit dem Gesetz – und wenn nicht, ist das auch nicht so schlimm. Im Vergleich zu den Daten aller anderen, ist unser Beitrag so geringfügig, dass Daten ohnehin als Gemeinschaftsgut gesehen werden sollten. Sie gehören allen.

So ist alles wunderbar gewendet. Hobbes würde sagen: Die „Gewere“, wie der  Schutz der Sachen im Mittelalter genannt wurde, triumphiert über die „Munt“, dem Schutz der Personen. Die Sache steht über der Person, das System über dem Menschen. Und alles ist Recht, sogar von uns persönlich tausendfach genehmigtes Cookie-Recht. Alles ist res publica, eine öffentliche Sache, eine Republik. Jeder von uns könnte sich sozusagen selbst als eine Republik ausrufen. Und schon wird daraus eine fatale Bewegung: die Reichsbürger.

Unsere Welt ist ziemlich marode. Sie hat zu sich selbst keine Alternative mehr.

Wer zum Beispiel auf die Straße geht und protestiert, steht sofort im Verdacht, irrational zu denken – und wird entsprechend gebrandmarkt. Er ist ein „Querdenker“, es sei denn er ist gegen rechts. Aber handelt der Staat, diese „personifizierte Abstraktion“ (Ralf Dahrendorf), selbst auch rational? Verfolgt er nicht insgeheim ganz andere Absichten, als er uns sagt?

Und hat er nicht allen Grund dazu? Wurde er nicht zu oft in den vergangenen dreißig Jahren gedemütigt? Wer aber war’s?

Nicht wir, auch nicht die sogenannten „Querdenker“ sind seine wahren Gegenspieler. Es ist die Wirtschaft, die zugleich der mächtigste Verbündete des Staates ist. Eine äußerst komplizierte, zum äußersten angespannte Situation, in der zwischen Freund und Feind nicht mehr unterschieden werden kann.

Unsere Welt ist ziemluich verworren. Manche würden sagen, sie ist komplex.

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Damit das klar ist: Das ist keine Schrift gegen den Staat. Wir wollen ihn, und wir brauchen ihn. Vor allem aber zum Schutze unserer Freiheit. Und das ist das Problem.

Es kann sein, dass genau dies den Staat stört. Er strebt einen Zustand an, inden wer uns nicht mehr braucht – schon gar nicht unsere Zustimmung. Das aber darf niemals unsere Zustimmung bekommen.

1961 schrieb der damalige Minsterpräsident von Nordrhein-Westfalen Franz Meyers: „Die parlamentarische Demokratie steht und fällt mit der freien Entscheidung des freien, nur seinem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten. Wenn gesellschaftliche oder technische Zwangsläufigkeiten diese freie Entscheidung verdrängen, dann ist dies das Ende der parlamentarischen Demokratie und der Beginn des totalen Verwaltungsstaates, in dem es keine politische Entscheidung, sondern nur noch Verwaltungsmaßnahmen gibt, die nach verwaltungstechnischen Gesetzmäßigkeiten und Zweckmäßigkeiten vollzogen werden.“

Am Vorabend genau dieser Entwicklung stehen wir. Und die Pandemie hat uns auch schon gezeigt, welche Rolle wir dann zu spielen haben. Die Corona-Forderung „Zuhause bleiben“, an die wir uns noch erinnern, bekäme dann den Charakter einer Bedrohung, die Verbannung ins Ultraprivate. „Zuhause bleiben“, hieße dann „zuhause leiden“.

Das wäre ziemlich schwerer Stoff. Bloch hätte Recht: „Sein Draußen ist allemal ohne uns da.“[5]

Die Welt der reinen Zweckmäßigkeiten wäre eine Welt ohne uns.

***

So wird es nicht kommen. Denn uns bleibt etwas, das selbst den stärksten Bürokraten umhaut. „Wenn wir das Spiel des Lebens noch einmal spielen könnten“, meinte einmal Stephen Jay Gould, „wäre es völlig unvorhersehbar, welche Lebensformen am komplexesten wären; es wäre unwahrscheinlich, dass ein Geschöpf mit einem Bewusstsein (so wie wir) entstünde.“

Sein Kollege Ernst Mayr (1904–2005) glaubte noch nicht einmal, dass es außer uns sonst noch ein derart intelligentes Wesen im Universum gäbe. Er hielt entsprechende Bemühungen, diese Aliens aufzuspüren „für großen Quatsch und eine ungeheure Feldverschwendung. Die Chance, dass Intelligenz entsteht, ist verschwindend gering“, rechnete er uns vor. „Es hat in der Erdgeschichte zwischen einer und 50 Milliarden verschiedener Arten gegeben. Wie viele von ihnen sind so intelligent geworden, dass sie das Weltall nach anderen Zivilisationen durchsuchen können. Eine einzige. Das Leben ist vor 3800 Millionen Jahren entstanden, und es hat mindestens 3799,98 Millionen Jahre gedauert, bis der moderne Mensch da war.“ Und dann setzt er noch mit feiner Ironie nach: „Die Suche nach Intelligenz auf der Erde ist auch sehr schwierig, aber nicht so aussichtslos.“[6]

In der Tat – wir sind nun einmal unmöglich. Aber unsere Intelligenz reicht aus, dass kein Computer, kein System, kein Staat uns in den Griff bekommen kann. Wir sind weder untot, noch tot zu kriegen. Wetten?


Donnerstag, 4. Juli 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 56) - (Der Staat sind wir)

1972 - Die große Verführung

 2014: »Die individuelle Freiheit ist bedroht von einem schleichenden staatlichen Interventionismus, Paternalismus und Bevormundung.«

Wolf Schäfer (19412020), Vorsitzender der Hayek Gesellschaft

Landnahme nach innen

Von Raimund Vollmer

 

 

 

Wir werden unserem Staat viel verzeihen müssen.

Sein Dank wird uns gewiss sein – und weitermachen. Immer mehr Entscheidungen werden uns abgenommen von einem System, das sich komplett selbst steuern würde, wenn nicht ein paar Politiker ständig dazwischenfunken würden. Querlenker in den eigenen Reihen, sozusagen.

Ja, wer sind wir überhaupt noch hinter unserer Maske? Selbst jetzt, nachdem wir sie wieder abnehmen durften, interessiert dies niemanden. Wichtig ist allein, was wir als Nutzer gemeinschaftlich erbrachter Leistungen verbrauchen.

So kommt aus den USA eine Denkrichtung, die sagt, dass in unserem Tun, in unserer Arbeit so viel an gemeinschaftlicher Vorarbeit stecke, dass der persönlich erbrachte Anteil gar nicht mehr bestimmbar sei. Was uns der Staat nach Abzug aller Steuern und Abgaben lässt, das sei etwa das, was wir auch tatsächlich verdient hätten. Nicht wir sind also die wahren Leistungsträger, sondern die Gemeinschaft, und das ist der Staat.[1] Vor diesem Hintergrund sind natürlich die Digitalkonzerne mit ihrer notorischen Neigung, sich den Steuersystemen zu entziehen, besonders anrüchig. Denn sie profitieren vor allem von bereits erbrachten Gemeinschaftsleistungen. Das Internet hat sich selbst gebaut. So heißt es. Es ist eine kollektive Anstrengung. Aber es gehört eigentlich weder dem Staat noch der Wirtschaft. Es gehört uns. Es ist unser Verdienst. Nun aber wird es mit Eigentumsansprüchen regelrecht überschüttet. Jeder will ein Stück vom Kuchen. Am wenigsten bekommen die, die am meisten zu seinem Erfolg beigetragen haben.

Diese Leistungen, „die vermeintlich dem Pool gesellschaftlicher Güter angehören, sind nichts weiter als positive Nebenwirkungen (Externalitäten)“, meint der deutsche Wirtschaftsphilosoph Hardy Bouillon (*1960). Den Wert dieser Externalitäten für sich zu beanspruchen, ist eine große Verlockung für jeden Staat. Als Hüter dieser Güter. Umgekehrt wird allerdings auch ein Schuh daraus: „Das Hochzeitspaar vor der Kirche, der Posaunist in der Fußgängerzone: sie alle erzeugen ohne Aufforderung solche Externalitäten, die Auge und Ohr erfreuen, durch gemeinsam oder einzeln vollzogene Handlungen“, schreibt er 2002 in der ‚FAZ‘. „Doch die Bereitstellung eines solchen Gutes begründet kein Recht, von anderen Entlohnung zu verlangen.“ Für den einzelnen mag das stimmen, aber für den Staat? Für ihn muss die Idee dahinter verführerisch sein. Wer für alles und alle sorgt, dem gehört auch alles. Eine Perspektive, die uns im Angesicht des Lockdowns und der Milliardenprogramme hätte schaudern lassen sollen. Der Staat finanziert das alles mit unserem Geld, das längst ihm gehört und nach Belieben beliehen werden kann. Was für eine böse Verschwörung! Denken wir lieber nicht daran! Halten wir Abstand! Weg mit der Schuldenbremse. Sie stört. Sie ist ohnehin absurd. Wenn nämlich dem Staat alles gehört, dann ist er so reich, dass sein Vermögen alles deckt. Der Staat besitzt das publizistische Obereigentum über alles und jeden. Der Sozialismus manifestiert sich auf einer für uns unerreichbaren Meta-Ebene. Und da wir bis ins Steuersystem hinein ohnehin nur noch Verbraucher sind, werden wir auch politisch entmündigt.

Am Ende dieser Totalversorgung, die mit dem Erlass des bedingungslosen Grundeinkommens ihre Vollendung erleben könnte, bliebe eine seltsame Erkenntnis: Unser Leben wird irgendwie sinnlos. Das Individuelle ist gebannt,  Regelwerke über alles gespannt: „Diese Entlastung wirkt sich positiv aus, wenn der Einzelne innen und außen von einem Regelgefüge getragen wird, macht geistige Energien nach oben frei“, schrieb der Philosoph Arnold  Gehlen 1970 tröstend. Meint er das wirklich? Das Problem ist nämlich: Da oben ist nichts mehr, nur noch ein „gewaltiger Leerraum“ (Gehlen).[2]

So leer ist er nicht. Denn über allem schwebt die Cloud, eine vor allem privat geführte Gemeinschaftsleistung, eine mächtige Versorgungsmaschinerie, die sich über unsere Gemeinschaftsleistung, dem guten alten Internet,  erheben wird. Das Netz wird ausgehebelt, fast möchte man sagen: ausgehegelt. Dass kein Staat ein solches, über allem, auch über ihn schwebendes, sich selbst regulierendes, privatwirtschaftlich geführtes Supersystem tolerieren kann, ist doch ziemlich klar. So wird er es sich schnappen – wie er dereinst die Post für sich reklamierte und die Bahn, die ohnehin schon längst wieder zu ihm zurückstrebt.

Was bleibt, ist ein jämmerlicher, uralter Konflikt. Norberto Bobbio (1909–2004), Italiens großer Philosoph, brachte es in den letzten Tages des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: „Der Wert, der gegenüber dem Staat, der alles sein will, hervortritt, ist das Individuum.“[3] Aber das Individuum hat keine Chance. Wir erleben eine Landnahme nach innen. Durch den Staat. Nachdem für ihn – durch die Wirtschaft, die Globalisierung – die Grenzen nach außen weitgehend aufgehoben sind, wendet er sich an den Einzelnen, an jeden von uns. Nur bei uns hat er noch etwas zu gewinnen, denn er selbst ist durch Verlagerung von Kompetenzen an supranationale Organisationen wie die EU in seiner Souveränität nach außen und nach innen reduziert. Nun knöpft er sich uns vor. Dass wir auf eine solche Welt zusteuern, ist selbstverständlich eine absurde Verschwörungstheorie.

Wer will das schon glauben? Und weil es keiner glaubt, wird es wahr. Tag für Tag.

Putin mit seiner Landnahme ist da völlig antiquiert. Nur starrsinnige Historiker können noch meinen, dass es in der Welt um Geopolitik geht. In der Beziehung ist die Geschichte längst zu Ende. Nur wollen das einige nicht einsehen. Und so führen sie Gefechte, die zu nichts führen. Absolut sinnlos. Leider müssen darunter Millionen von Menschen leiden.

Der Politikwissenschaftler Ernst–Otto Czempiel (1927–2017) meinte 1997: „Die Weltgeschichte spielt nicht mehr, wie es noch Leopold von Ranke formulierte, zwischen den Staaten ab, sondern in ihnen.“[4] Dabei sind wir, die Bürger, Einwohner, das neue Territorium, nicht die Ukraine, nicht Israel, nicht Taiwan. Wir, die Bürger, sind der weiche Stoff, den man in alle Richtungen ziehen und kneten kann. So kann es bald heißen: Ziel erreicht! Wahrscheinlich werden wir es noch nicht einmal merken.

Meinte schon der Meister des Prinzips Hoffnung, Ernst Bloch: „Wer derart herumgeworfen wird, gilt nur als Ding und so als äußerlich.“[5] Das Ding, das Individuum, ist selbst nur noch eine Externalität, eine Gemeinschaftsleistung, die beliebig zerteilbar ist, gibt uns die Genforschung obendrein den Rest und setzt ihre Gen-Schere an.

Der „Denkmeister der Konservativen“, wie Gehlen in einem Nachruf genannt wurde, sah den Menschen „bestimmt durch die künstliche Welt der Kultur“ (‚Die Welt‘) und fürchtete nichts mehr als den Zerfall der Institutionen, die diese Kultur tragen.[6] Von einem solchen Zerfall ist weit und breit nichts zu sehen. Im Gegenteil, da baut und braut sich etwas Neues zusammen. Und das wird eine Techno-Kultur sein, die unendlich komplexer sein wird als die, die wir kennen. Doch zuvor muss die alte Kultur zerstört werden.

Dereinst lebten wir als Jäger und Sammler in einer „Organisation der menschlichen Gesellschaft“, die „nicht viel komplizierter als die eines Wolfsrudels“ gewesen sei, meinte einmal der Nobelpreisträger und Verhaltensforscher Konrad Lorenz (1903–1989). Nun gut. Wie konnte es aber bei einer derart primitiven Ausstattung dazu kommen, dass wir „seit nunmehr 5000 Jahren erfolgreich in staatlich organisierten Gesellschaften leben“, wunderte sich bereits 1988 der deutsche Wissenschaftspublizist Jost Herbig (1938–1994) in der Wochenzeitung ‚Die Zeit‘. Seine Antwort: Es war unser Glaube, unsere Religion. Sie zeigte sich bereits in den Höhlenzeichnungen der Jungsteinzeit, auf die zu erstellen kein Wolfsrudel gekommen wäre.

Diese Kunstwerke haben auf jeden Fall einen kultischen, wenn nicht gar einen religiösen Hintergrund. Herbig: „Ungezählte Menschengenerationen, auf deren Denken und Handeln unsere Zivilisation aufbaut, glaubten an eine göttergeschaffene Ordnung der Welt. Der Glaube an imaginäre Götter, in denen sich die obersten Zwecke menschlicher Gesellschaften verkörperten, befähigte sie, die menschengemachten Probleme ihrer Welt zu lösen.“ [7] Doch da oben ist nichts mehr außer der Cloud, die sich anschickt, all unsere Probleme in sich aufzunehmen.

Sind wir doch nur „Wolfsrudel“, die ihren angeborenen Instinkten und  Verhaltensweisen folgen? Die erfolgreichste Spezies auf der Erde sind Bakterien und Viren. Je einfacher etwas aufgebaut ist, desto erfolgreicher ist es. Wir, die Menschen, aber stehen ganz am Ende der Evolution. Um diesen Platz überhaupt zu erobern, blieb uns gar nichts anderes übrig als Komplexität. Das ist der Ort, der uns am Ende der Evolution  zugewiesen wurde. Dies sagte 1998 der amerikanische Paläontologe Stephen Jay Gould (1941–2002) in seinem Buch „Illusion Fortschritt“

So errichteten wir mächtige Institutionen, die über uns wachen und uns schützen, aber auch begrenzen und lenken – mit dem Staat als der Krönung. Gehlen würde mit großer Verwunderung sehen, dass wir während der Pandemie diese fürsorglichen Institutionen sogar direkt vor unserer Nase hatten. Sein Kommentar wäre: „Das ist, könnte man sagen, unser Lebensgesetz: Verengung der Möglichkeit, gemeinsamer Halt und gemeinsame Abstützung.“ Ein enges Verhältnis von Staat und Person. Aber hinter der Maske waren die Gedanken noch frei, nicht nur steuerfrei, sie waren wirklich frei. Der Kopf war unser Rest-Posten. Versiegelt. Mit FFP2–gebremsten „Verdampfungsniederschlag“. Doch mit dem Smartphone haben wir etwas ganz anderes vor unserer Nase. Es will an unser Gehirn ran. Als eine der persönlichsten Gemeinschaftsleistungen, die je der Mensch geschaffen hat.

Bei alledem werden die „postdemokratischen Zustände“ deutlicher, wie sie sich schon lange abgezeichnet haben: die Herrschaft des Apparats ersetzt lautlos die alten Herrschenden, die Parlamentarier, die Politiker, die von uns gewählten Repräsentanten. „Die alten ‚Herrschenden können ruhig bleiben, wo sie sind, und werden durch keine neue herrschende Klasse ersetzt“, schrieb der Soziologe Schelsky. 1961, nicht 2021 oder 2024. Lange vor unserer Zeit. Driften wir aber nun in eine Zeit, in der die Technik uns derart übermannt, dass wir gar keine Chance mehr haben, unsere über 30.000 Jahre hin entwickelte Kultur in neue, erfrischende und belebende Kosmologien umzusetzen? Ist das die neue Kultur, die jene ersetzt, an der schon der große Sigmund Freud (1856–1935) sein Unbehagen hatte?

Was geschieht dann mit unserem Parlament – eine leere Hülle? Ja, sagt nicht Schelsky selbst, sondern sein Vorbild. Dies ist sein französischer Kollege Jacques Ellul (1912–1994): „Les décisions techniques paraissent inattaquables par un Parlament“. („Die technischen Entscheidungen erscheinen unangreifbar durch ein Parlament.“) Das war 1954, Nicht 2021 oder 2024![8] Gegen die allmächtigen Naturwissenschaften kommt keine parlamentarische Abstimmung an.

Die Technik hat ihre eigenen Gesetze. Man kann sie durch keinen Parlamentsbeschluss außer Kraft setzen. Gegen die Naturgesetze, auf deren Anwendung die Technik basiert, helfen keine Parlamentsbeschlüsse. Und gegen die Errungenschaften der Wissenschaften auch nicht. Wir sind sozusagen Opfer unseres eigenen Erfolges.

Wenn das keine spektakuläre Verschwörungstheorie ist!

Vorgeführt von alten „Querdenkern“, längst und zwar nicht an und mit Corona verstorben. Die alten Götter, die Politiker, können getrost bleiben! Sie haben ohnehin nichts mehr zu sagen.

Ihre Haushaltsstreitereien langweilen uns.

Wir wählen 2025 ein neues Parlament. Allen Versprechen zum Trotz: Mit noch mehr Abgeordneten – und noch weniger Macht. „Der Epochenzwitter ‚demokratischer Totalitarismus‘ droht“, schrieb fast vierzig Jahre nach Schelsky der scharfsinnige Soziologe Ulrich Beck (1944–2015), der uns sicherlich – würde er noch leben – ordentlich die Leviten lesen würde. Er ahnte bereits: „Die allseits geforderte Effizienz der staatlichen Gewalt- und Kontrollmittel schnürt schon heute Grundrechte ein.“ Das war 1999. Nicht 2021 oder 2024. Alles nichts Neues. Nur darf man dies nicht mehr behaupten, ohne böse, argwöhnische Blicke zu ernten. Sie signalisieren: Ende der Diskussion. Lockdown aller weiteren Gedanken über alle Pandemien hinweg.

Das, was wir im Zeichen der Pandemie an Eingriffen und Sanktionen erlebten, hatte – unbestritten, nochmals: unbestritten, und noch einmal: unbestritten – seine Berechtigung, aber es passte sich fast schon zu harmonisch ein in jene Strömung, die sich seit Jahrzehnten subkutan heranschleicht. „Machtentfaltung nach innen“, nannte es Beck damals. Genau das passiert doch![9] Inzwischen scheint diese systemische Machtentfaltung fast perfekt zu sein. Und wir haben nicht ein einziges, vernünftiges Argument dagegen. Ein Grund, warum die Mächtigen ein leichtes Spiel mit den sogenannten „Querdenkern“ zu haben scheinen. Sie gibt es nicht mehr. Der Liberalismus ist zu Ende, wenn ein früherer Intendant des Südwestfunks in der ‚FAZ‘ den öffentlich-rechtlichen Rundfunk lobt, weil er den Parteitag der AfD in seiner „Tagesschau“ als ganz normal abfeiert. Da werden schon die neuen Machtverhältnisse eingeübt.

Die nächste Phase, die Phase 2, wird vorbereitet. Man könnte sie Appeasement nennen. 

Morgen spielt Deutschland gegen Spanien. 


Zum Tage: Rück-Click ins Jahr 2000: Die Welt der Manager

2000: »Viele Manager nennen sich selbst Unternehmer, obwohl sie angestellt sind und mit fremdem Geld arbeiten. Beides merkt man ihnen an: Weder Rolf E. Breuer noch Bernhard Walter, der eine Vorstandssprecher a.A. (auf Abruf), der andere Vorstandsspreche a.D., hätten als Eigentümer ihrer Bank so gehandelt, wie sie gehandelt haben, nämlich mit einer Leichtfertigkeit, die man besser nicht einmal im Kasino an den Tag legt.«
Roger de Weck, in der Wochenzeitung Die Zeit, 13.4. 2000, nachdem die Großfusion von Deutsche Bank und Dresdner Bank geplatzt war

Zum Tage

 "In der Politik werden Verdienste in der Weise belohnt, dass man ihre Träger erhöht wie eine Zielscheibe, auf die gefeuert werden soll.“

Christian Nestell Bovee (1820-1904), amerikanischer Autor

Mittwoch, 3. Juli 2024

Zum Tage

"Dummheit ist nicht, wenn jemand etwas Dummes begeht, sondern wenn er seine Dummheit nachher nicht zu bedecken versteht."

Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658), spanischer Philosoph

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 55) - Die Sicht vor dem Jahr 2000 (2)

 


1993: »Der Bürger Europas ist ein Schritt zum Weltbürger, zu jenem ursprünglich mutigen Wort Kosmopolit, das sich die besten Moralisten der Menschheit gaben.«

Daniil Granin (12919-2017), russischer Schriftsteller und Politiker

Der Glaube wird neu programmiert

1. Gutenberg & Luther

Die Erlöse aus der Erlösung von den Sünden sollten vor 500 Jahren helfen, die Pe­ters­kirche in Rom zu errichten. Doch vor allem war es ein pro­spe­rierendes Ge­schäft für die Verkäufer der Titel. Markt­schreie­risch wurden sie in der Kirchenprovinz Mag­deburg von dem Dominikaner Johannes Tet­zel feil­ge­boten. Das er­boste schließlich den Augustinereremitenmönch Martin Luther (14831546), der gegen die korrupte Kommerzialisierung des Glaubens antrat. Sein Protest gipfelte in dem Thesenanschlag am 31. Oktober 1517 an der Schloßkirche in Wittenberg, mit dem er über das Geschäft mit den Ablassbriefen aufklärte. Ein Jahr später er­scheint sei­ne in Deutsch verfaßte Streitschrift »Sermon von Ablaß und Gnade«, die in wenigen Monaten eine Auflage von 20.000 Exem­pla­ren erreichte. Und 1522 kommt das Neue Testament in deutscher Spra­che »auf den Markt«.

Nachdem Gutenberg 1445 den Buchdruck erfunden hatte, stieg die Buchproduktion dramatisch an. In Europa gab es vor 1450 insgesamt 30.000 Bücher. Ein halbes Jahrhundert später waren 27.000 Werke mit einer Gesamtauflage von zehn Millionen Exemplaren hergestellt worden. »Auf keine Erfindung oder Geistesfrucht können wir Deutsche so stolz sein wie auf die des Bücherdrucks, die uns zu neuen geistigen Trägern der Lehren des Christentums, aller göttlichen und irdischen Wissenschaft und dadurch zu Wohltätern der ganzenMenschheit erhoben hat. Welch ein anderes Leben regt sich jetzt in allen Klassen des Volkes, und wer sollte nicht dankbar der ersten Begründer und Förderer dieser Kunst gedenken, auch wenn er sie nicht, wie bei uns und unseren Lehrern der Fall, persönlich gekannt und mit ihnen verkehrt hat«, lobpreiste der 1528 verstorbene Jakob Wimpheling in seinem Buch «De arte impressoria« die GutenbergSchöpfung.

Das »zweite In­for­mationsZeit­al­ter« hatte be­gonnen. Mit ihr zerfiel der Corpus Christianum, zersplitterten sich der Glaube, die Wissen­schaften teilten sich auf in immer mehr Seg­men­te und der geistige Zusammenhalt in Europa zer­barst. Luther galt als der »Zer­störer des gro­ßen Kirchenbaus«, wie ihn der Publizist Joseph Görres nannte.

2. Bibel & Nation

Buchdruck 1642
Aber es entstanden auch neue Gemeinsamkeiten. Die Philosophen der Aufklä­rung, die ganz Europa erfasste, nannten ihn ihren Vater, weil er das Prinzip der freien Rede durchgesetzt hat­te. Er wurde »zum Zeugen einer nur der Wahrheit verpflichteten Forschung aufgeboten«, schrieb 1996 Gerhard Besier, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Heidelberg. Für Karl Marx war der Theologe ein theoretischer Re­volutionär. So sehr Lu­ther zwar ungewollt mit seinen For­de­rungen nach der Reform der ka­tholischen Kirche den Glauben spal­tete, so sehr legte das »Sprachgenie« (Besier) auch die kulturelle Grund­lage für eine ge­mein­same deutsche Nation. Die Bibel war das meist­ge­le­sene Buch und zum ersten Mal konnten die Deutschen ihre Sprache in all ihren Dialek­ten mit einem einheit­li­chen Text ver­glei­chen. Luther schuf zwischen 1522 und 1534 mit seiner kom­plet­ten Bibelübersetzung die moderne deutsche Sprache. Und sie wurde ak­zep­tiert, weil er »dem Volk aufs Maul« schaute. Er verlangte zudem, dass in den Schulen nicht mehr La­tein, sondern Deutsch die Lehr­spra­che sein sollte. Außerdem sponserte er das erste deutsche Gesang­buch, das eine Menge von ihm komponierte Choräle und Lieder enthielt. »Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschenWesens, war außerordentlich musikalisch«, charakterisierte ihn 1945 der deutsche Schriftstelle und Nobelpreisträger Thomas Mann.

3. Neue Spiritualität

Indem er Gott nicht mehr als einen zornigen Rich­ter, sondern als einen vergebenden Vater definierte, sorgte er da­für, dass die Menschen »ein Gespür für Freiheit und Si­cher­heit« be­kamen, war er nach Meinung von Martin Marty, Historiker an der Universität von Chi­cago, so etwas wie ein Weg­be­reiter der Men­schen­rechte und des Individualismus. Religion wurde eine Sache des Gewissens. Mit Luther vollzog sich eine Trennung zwi­schen privater und öffentlicher Existenz.

War vor ihm die Wirk­lichkeit nur eine Funktion der Glaubenswelt, die alle menschlichen Aktivitäten be­stimmte, so entstand nun die säkularisierte Kultur, wie wir sie heute kennen. Die Folge: Wir leben in einer »Kultur des Unglaubens«, wie es Stephen Carter, Professor an der amerikanischen Yale University, nennt. In ihr haben religiös fundierte Argumente keinen Platz. So haben nach Aussage von Carter in der Abtreibungsdebatte ethische, praktische oder soziologische Argumente ihre Berechtigung. Wer allerdings religiöse Beweggründe ins Spiel bringt, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, dass er mit seiner Argumentation zugleich sein gesamtes Glaubensgebäude anderen aufzwingen will. Nicht wenige meinen derweil, dass diese Verweltlichung nun umschlägt in eine neue »globale Spiritualität«, wie es 1994 der Schriftsteller und Präsident der Tschechischen Republik, Vac­lav Havel, nannte. In einem Vortrag an der Stanford University, dem Techno-Tempel des Silicon Valleys, beeindruckte er seine Zuhörer mit der Aussage, dass demokratische Werte auf einer »geistigen Dimension grün­den, die alle Kulturen und besonders alle Menschen einigt«. Und er erinnerte daran, dass nahezu alle Welt­re­li­gionen auf der uralten Vorstellung basieren, daß »die gesamte Ge­schichte des Kosmos und besonders des Lebens auf geheimnisvolle Weise gespeichert ist im Innern aller Menschen.«

Daraus leitet Havel das Entstehen eine »pla­ne­taren Demo­kra­tie« ab. Es könnte sein, dass das Internet genau der Ort wird, in dem diese »planetarische Demokratie« Wirklichkeit wird. Pater Ri­chard John Neuhaus, Direktor des Forschungsinstituts Re­li­gion and Public Life in New York, urteilte 1995 im Pflichtblatt des Ka­pi­talismus, im ‚Wall Street Journal‘: »Die Allian­zen, die der Kalte Krieg schuf, zer­streuen sich. Nur wenige sehen in den Vereinten Nationen den Weg­bereiter einer neuen Weltregie­rung. Es gibt natür­lich die glo­ba­len Märkte und Technologien. Obwohl sie sehr be­deutend sind, können sie doch nicht den morali­schen Zusammenhalt erzeugen, den die Mensch­heit braucht.«

Das kann allein »mangels eines besseren Wor­tes die Spiritualität« leisten. Und dann zitiert Neuhaus den fran­zö­sischen Schriftsteller und Kulturpo­litiker André Malraux: »Das nächste Jahrhundert wird reli­giös sein oder überhaupt nicht.«Als sich im August 1997 das katholische Frankreich für die Weltjugendtage rüstete, befürchteten die Veranstalter, dass sie einen Riesenflop gestartet hatten. Nur 70.000 Franzosen hatten sich angemeldet, um gemeinsam zu feiern und den Papst zu sehen. Doch dann kam es ganz anders. 750.000 Menschen reisten an, ein Drittel aus dem Ausland. Die konservative Tageszeitung ‚Le Figaro‘ sprach von einem »spirituellen Erdbeben«.

Das Streben der Menschen nach Gemeinschaft war ungebrochen.

4. Peterskirche & Internet

Wird nun das Internet die neue Peterskirche des dritten Jahr­tau­sends?

Dann wäre es erneut ein Produkt der Mächtigen. 1506 hatte der Kunstmäzen Papst Julius II., der den Maler Raf­fael sponserte und dessen Grabmal Michelangelo schuf, den Grundstein für den Neubau des Doms gelegt. Mit dem Entstehen dieses Prachtbaus wurde die Zer­rüttung der Kir­che vollends deutlich. Als Nachfolger des berüchtig­ten und skrupel­losen Papstes Alexander VI. war der Kirchenfürst, übrigens Vater dreier Töchter, 1503 selbst durch Bestechung ins Amt gekommen. Il Terrible (Der Schreckliche), wie er genannt wurde, wusste seine per­sönlichen In­ter­­essenzu wahren. Aber sie warennoch deckungs­gleich mit denen der Kirche.Vollends auf dem Weg der Verwelt­lichung befand sich dann nach seinem Tod 1513 die katholische Kir­che. Der Medici–Papst Leo X. kam an die Macht, und er war nun mit den überbordenden Finanzierungskosten der Ba­si­lika konfrontiert. 1514 erließ er ein Ablaßdekret, das sich der Markgraf von Brandenburg Albrecht II., Erzbischof von Magde­burg, für seine ehrgeizigen politischen Ziele zunutze zu machen such­te. Er wollte zusätzlich noch den Posten als Erzbischof von Mainz, um sozugleich Kurfürst zu werden. Ein höchst lukratives Amt, denn als Kurfürst hatte er Sitz und Stimme bei der Wahl des nächsten Kai­sers. Dieses Stimmrecht ließ sich in bare Münzen oder neue Pri­vi­legien verwandeln. Für 24.000 Goldgulden, das ent­sprach den Jah­res­einnahmen des Kaisers, übergab ihm Papst Leo die Pfrün­de. Natürlich hatte der Markgraf das Geld nicht zur Hand. Er lieh es sich bei den Fuggern, den Augsburger Frühkapitalisten. Zurückzahlen wollte er es durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Ablaßbrief, die andere Hälf­te ging nach Rom zur Finanzierung der Peterskirche. Bis zu 25 Gold­gul­den kostete ein Ablaß. Die Kirche war ein einziges korrup­tes Geschäft, ein »Königreich der Sünde«, wie es Luther nannte.

Droht dem Inter­net nun ein ähnliches Schicksal, wenn dieser globale Dom des Wis­sens im Namen des e.busi­ness säku­lari­siert wird? Spüren wir nicht schon den mächtigen Arm des unfehl­baren Bill Gates, der als neuer Papst des Cyber­spa­ces nach der Alleinherrschaft greift? Sind seine Windows-Releases  eine neue Form des Ablassbriefes? Brauchen wir einen neuen Martin Luther?

5. Sponsoren des Sozialen

Was wir brauchen, ist offenen Wettbewerb auf allen Ebenen. Und der beste Garant dieser Entwicklung ist das intellektuelle Kapital der Welt, das schneller wächst als jede Großmacht. Bereits 1995 ent­sprach das Da­ten­volumen, das täg­lich über das Internet transportiert wurde, der Menge von 500.000 Büchern mit jeweils 200 Seiten. Inzwischen  (und das war kurz vor dem Jahrtausendwechsel) sind es mehr als 40 Millionen Bücher. Und irgendwann wird dieses Volumen sich nicht nur aus Geschäftsdaten und EMails bilden, son­dern tatsächlich auch aus »Bü­chern«, aus gespeichertem Wissen. (So ist es ja auch gekommen und darüber hinaus. R.V., 2.7.2024)

Luther verhalf dem Wissen zum Durchbruch, das schließlich über alle feudalen Herr­schaf­ten siegte. Das Internet wird genauso wenig allein kom­mer­ziel­len Interessen dienen wie die Wirklichkeit. Zwischen 1970 und 1991 stieg allein in den USA die Summen an Spen­den, Stiftungen und Zuwendungen für philantropische Zwecke von 20 auf 124 Milliarden Dollar. 1996 waren es bereits 150 Milliarden Dollar. Tendenz stei­gend mit der Börse. (Aber an der Verteilung zwischen Arm & Reich hat es nicht viel geändert, eher das Delta vergrößert. R.V. 2.7.2024)

In Deutschland gab es zur Jahrtausendwende rund 8000 Stiftungen, die ein Milliardenvermögen verwalten. 98 Prozent von ihnen sind gemeinnützig. Doch im Vergleich zu den USA ist das Stiftungswesen noch sehr unterentwickelt. Hier boomen die sogenannten Community Foundations, die städtische Leistungen (Theater, Bibliotheken etc.) ergänzen und dabei ein Vermägen von zehn Milliarden Dollar  aufgebaut haben. In Deutschland haben die ersten Städte wie Ulm oder Gütersloh das Modell gerade erst entdeckt. Natürlich spielt auch das Sponsoring eine zunehmende Rolle. Eine Untersuchung der Agentur für Sponsor Partners bei 800 Unternehmen ergab, dass 1997 rund 13 Milliarden Mark für Sponsoring ausgegeben wurden das sind acht bis neun Milliarden mehr als bislang angenommen. Derzeit fallen zwar 45 Prozent der Ausgaben auf den Sport, 26 Prozent auf Kunst, doch deutliche Zuwächse werden in den nächsten Jahren im sozialen Bereich erwartet wie überhaupt das Sponsoring nach Einschätzung der 800 befragten Unternehmen steigen wird. 

Gingen 1991 noch 54 Prozent der Spendengelder an Religionsgemein­schaften, so waren es 1996 nur noch 46 Prozent. Nutznießer der Um­verteilung war unter anderem das Erziehungswesen, das seinen Anteil von elf auf 13 Prozent aufstockte.Selbst der Staat wird nicht vergessen. In den USA beschlossen 1998 ein paar Super­reiche, freiwillig Extrasteuern zu zahlen, weil sie der Meinung sind, dass ihnen das Finanzamt zuviel Geld läßt.

6. Die Vision von Leibniz

All dies vollzieht sich vor ei­nem epochalen Änderungsprozesses. Waren vor dem Fall der Mauer nur ein Drittel der Regierungen demokratisch ge­wählt, so sind es heute fast zwei Drittel. Und die Hoffnung ist da, dass im Jahr 2020 alle Länder dieser Erde freiheitlich struktu­riert sind. Ideelle und kommerzielle Zie­le schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander mehr denn je. Und mit de­ren Ausbreitung entsteht die neue Weltgemeinschaft. (Welch ein Irrtum!!! R.V. 2.7.2024)

Eine solche Idee hatte bereits 300 Jahren zuvor der deutsche Philosoph Gott­fried Wil­helm Leib­niz, das letzte Uni­ver­­salgenie der Welt, dem die Com­pu­ter­bran­che neben den ersten Re­chen­maschinen vor allem das Binär­sy­stem zu verdanken hat. Er ent­wickelte 1676 eine faszinierende Vision. Er träumte von ei­nem Reich, das weit mehr umfasste als nur Deutsch­land, von einem fö­de­ralistisch struk­tu­rierten Viel­völkerbund Eu­ro­pas: »Wenn unser Reich zu einem realen Bund gelanget, dann wer­den auch viele andere zur Wohlfahrt nötigen Dinge gehoben: die Strei­­tigkeiten der Stän­de, das unor­dent­liche Justizwesen, der Han­del und die Polizei, und man wird zu un­ge­­zwun­­ge­ner Eintracht, Mä­ßigung und Duldung in Reli­gions­sachen gelan­gen.« Weiter heißt es: »Wer sein Gemüt höher schwingt und den Zustand Europas durch­geht, der wird mir Bei­fall geben, dass dieser Bund ei­nes der nützlichsten Vor­haben ist. [...] Der effectus wird sich als oper consequens auf die Ruhe Europas erstrecken.« 

Leider hörte dieses Europa nicht auf seinen genialen Erst­in­for­ma­tiker, der wie kaum ein an­derer sei­ner Zeit an die gei­stigen Kräfte glaubte, die im Innern des zerrütteten Europas schlum­merten. Dafür wurde dann sein uto­pisch anmutendes Mo­dell hundert Jahre später in einer anderen Welt rea­lisiert: in den USA.

Aber die Kraft seiner Vision ist noch heute spürbar. Denn mit dem von ihm ma­the­ma­tisch begründeten Bit, dem binary di­git, soll nun im Cyberspace die gesamte Welt digital ver­eint wer­den. Leibniz hatte am Anfang seiner wissenschaftlichen Karriere von einer Uni­ver­salsprache geträumt. Mit seinem Binärsystem hat er sie prak­tisch geschaffen. Auf der untersten Ebene. Mehr noch: Die Bits siegen über die Atome, sowie der Cyberspace über die materielle Wirklich­keit triumphiert. Eins ist dabei sicher: dieser Zusam­men­schluß wird be­stimmt nicht über eine globale Bit-Steuer erfol­gen. Zuerst ein­mal ist dazu eine gemeinsame Weltanschauung notwendig. Es muß eine Ideo­­lo­gie sein, die nicht engstirnigem Fanatismus ent­springt, sondern einer pluralen Phan­ta­sie.

Zuletzt glückte solch ein ideologischer Zusam­men­halt mit der Grün­dung der Vereinigten Staaten von Amerika. 

Aus der Not einer Wirt­schaftskrise ge­bo­ren, 

-         bei der die Steuer­ein­nahmen ver­siegten,

-         die Zölle zwischen den Staaten immer höher stiegen

-         und das Getreide auf den Felder ver­faulte,

war es in Massachu­setts zu einer Steu­er­re­bel­lion gekommen. Sie zeigte der damaligen Kon­fö­deration aus 13 Staatener­kannt, wie zer­brechlich ihr Gebilde war. Noch immer behaupteten die Briten wi­der­rechtlich eine Kette von Forts in­ner­halb des amerikanischenTer­ri­toriums. Spanien kon­trol­lierte die Schif­fahrt an der Missis­sip­pi-Mündung in New Or­leans, und Bodenspekulanten drängten mit anar­chi­stischer Gewalt in den Nord­westen des Landes. Das Land war ver­schuldet. Es herrschte In­fla­tion. Der Wert der Währung sank.

7. Von Athen nach Amerika

Da trafen sich im Mai 1787 in Philadelphia 55 »erlauchte Geister« (Die Zeit), von denen 34 Rechtsanwälte wa­ren. Sie bildeten die neue Wis­sens-Elite eines Landes, dessen Bevölkerung sich aus Menschen un­ter­schiedlichster ethni­scher, kultureller und religiöser Herkunft zusammensetzte. Die Grün­derväter waren indes hoch­gebildete, be­le­sene Männer, die sich in ihren Argu­men­ta­tionen auf europäisches Ge­dankengut von Ari­sto­te­les über Luther bis Mon­tes­quieu be­rie­fen. »Was Athen im kleinenwar, will Amerika in Großformat sein«, schrieb Paine 1791. Es war das Athen des Aristoteles im vierten Jahrundert vor Christus, das die Amerikaner als Vorbild vor Augen hatten. Jahr­hun­dertelang war das berühmte Buch des grie­chischen Philosophen »Über die Politik« vergessen und verschollen gewesen, bis der größ­te Den­ker des Mittelalters, Tho­mas von Aquin, es im 13. Jahrhundert wie­der­­entdeckte und ins Lateinische übersetzen ließ. Noch einmal dau­erte es 500 Jahre, bis Aristoteles gleichsam in die Praxis um­ge­setzt wurde. Und auch jetzt, beim Übergang indie Cyber-Welt, beriefensich die Prota­go­nisten auf das hellenische Vorbild. Schon ist man versucht zu sagen: »Was Ame­ri­ka im kleinen war, soll nun im In­ter­net in Großformat ver­wirk­licht werden.«

Und das wäre nichts anderes als ein gewaltiges Experiment – (ein unglaubliches Gedankenexperiment, das noch längst nicht zu Ende ist, möchte man (also ich) 2024 voller trotziger Hoffnung hinzufügen).

8. Die WASPElite

Die Väter der amerikanischen Constitution hatten feste Wurzeln im prote­stan­tischen Glau­ben. Martin Luther wurde 1883 sogar als Ahnvater von George Washington, dem ersten Präsidenten der USA, gefeiert. Nur zwei der Delegierten wa­ren Ka­tho­li­ken. Das hieß: Unter den Dele­gier­ten dominierte die von den calvinistischen Pilgervätern geprägte Vorstellung, dass ein gott­­­gefälliges Leben nicht erst nach demTode, sondern bereits auf der Erde belohnt wer­de. Diese White AngloSaxons Protestants (WASPs), wie die Ameri­kaner diese traditionelle Führungsschicht nennen, beherrschten die Diskussion. Aber die Protestanten stellten nicht nur in den USA die neue Elite.

»War Deutschland bis 1806 in einem sehr spezifischen Sinn ein ka­tholisches Reich, so seit 1871 ein protestantischer National­staat«, meint der Sozialwissenschaftler Spieker. Kaiser Wil­helm I. war der Summus Episcopus, der höchste Bischof der evangelischen Kir­che. »Den Katholiken wurde im BismarckReich der Sta­tus eines Un­ter­mie­ters zugewiesen.« In der Fol­ge identifizierten sie sich auch nicht so stark mit dem National­staat und dem Nationalismus, der zu einer ErsatzReligion wurde. Die Katholiken waren auch später weitaus we­ni­ger empfänglich für den Nationalsozialismus, zumal sich die Na­zis bei der Judenverfolgung sogar auf Äußerungenvon Luther aus seinen letzten Lebensjahrenberufen konnten.

Warum glückte derweil den amerikanischen Protestanten ein weitaus besserer Nationalstaat? Antwort: Ihr Patriotismus basierte zual­ler­erst auf ihrer Ver­fas­sung, nicht auf einem Nationalismus. (Schön wäre es, wenn sie dahin zurückkehren würden, möchte man, also ich,  2024 ergänzen.)

9. Der Verfassungspatriotismus

Um den Inhalt ihrer Verfassung hatten die Amerikaner 1787 hef­tig ge­­strit­ten. Gegen­stand der Aus­einander­set­zung: die zehn Jahre zuvor ver­fassten Ar­tikel der Kon­fö­de­ra­tion, die als Grundlage der Verfassung dienen sollte. Sie sollte dem Staat Macht geben und sie zugleich beschneiden. Am 17. September 1787 war es dann soweit: 39 der noch 42 anwesenden De­le­gierten un­terzeich­ne­ten die auf Per­ga­ment nieder­geschriebene Ver­fas­sungs­ur­kunde. Ihr fehlte nur noch eins, wie die Abgeordnete in den Rati­fi­zierungs­de­batten immer wie­der beanstandet hatten: die Bill of Rights. Aber das wurde 1789 auf dem er­sten Bundeskongreß nach­ge­holt, als die Menschenrechte in die ersten zehn Zusatzartikel (Amendments) der Ver­fassung aufge­nommen wurden. Sie waren der ei­gentliche ideo­lo­gi­sche Knüller, eine ge­mein­same Weltanschauung, eine intellektuelle Spitzenleistung. Ihre philosophischen Ursprünge stammen aus Europa. Doch zuerst ver­wirk­licht wurden die Menschenrechte in der Neuen Welt. Von dort aus versuchen sie nun, seit mehr als zwei Jahrhunderten, die gesamte Erde zu er­obern. Zuerst wurden sie gleichsam als Re-Import von der Fran­zö­si­schen Revolution über­nommen, nicht zuletzt in­spi­riert von Thomas Jef­fer­son, der als Gesandter in Paris weilte.

Heute gelten die USA als das erste und einzige Land auf der Erde, das sich mit seiner Verfassung um eine »Ideologie« aus Gleichheit & Glück, Frei­heit und Vision erfolgreich or­ga­ni­siert hat. Sie identifizieren sich voll­kommen mit der »Amerikanischen Revolution«, die für sie längst Ge­schichte ist. Gerade aber als Geschichte entfaltet sie bis heute ihre Wirkung und begründet den ausgesprochenen Ver­fas­sungs­patriotismus. Denn die­ses Land kann sich nicht auf eine gemeinsame Abstammung, Spra­che oder Religion beziehen.

Vielleicht war das so­gar sein Glück. Es hat inihremUr­sprung nur die Verfassung, den gemeinsamen Rechtsraum. Er ist das Einigende in der Viel­falt. Ein reines Geistesprodukt schuf »E plu­ribus unum«, wie es auf dem Staatssiegel der USA heißt. (Und heute, angesichts der Entwicklung auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, wünschte man (also ich) sich, dass eine ähnliche, einigende Wirkung von diesem technischen Fortschritt ausginge, aber die Hoffnung ist hier eher eingetrübt. Wem soll man diese Aufgabe anvertrauen? Allein diese Frage macht einen, also mich, skeptisch.)

10. Die Euro-Vision

Genau diese einigende Vision fehlt Europa. »Es tut sich immer noch schwer mit seinem Selbstverständnis, seinen Symbolen, der emotionalen Kom­ponente«, befand 1996 der frühere Chef des Nestlé–Konzerns Helmut O. Maucher. Es fehlt eben so etwas wie die gemeinsame Verfassung, die auch wirklich eine Verfassung ist und nicht eine pathetische Dienstvorschrift der Bürokratie. Wir ersetzen sie durch Empfeh­lungen, Richtlinien, Ver­träge und solchen Konstrukten wie Kon­­ver­­genz­kriterien, an die wir uns dann mit kreativer Energie zu hal­ten pflegen. Überall ist das zu spüren was der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich von Hayek (18991092)die »Anmaßung von Wissen« nannte. So lautet auch der Titel eines 1996, also nach seinem Tode er­schienen Buches, in dem seine letzten Studien veröffentlicht wur­den. Diese Anmaßung empfand er als eine »tödliche Einbil­dung«. Selbst der Euro wurde wie ein »kaltes Projekt« eingeführt, (das schließlich doch die Emotionen nicht uterdrücken konnte und so einer Partei wie der AfD Geburtshilfe gab, wie man, also ich, mich noch erinnere.)  Kein Wunder, dass sich viele Menschen nicht dafür erwärmen konnten. Eine gute Idee wurde schlecht verkauft.

Noch nicht mal zu einer echten Gewaltenteilung sind wir fähig. Die EU-Kommission vereint in sich judikative und exe­ku­tive Macht. Und wenn dann eine Vorschrift erlassen werden soll, sind da­ran bis zu 2000 Menschen beteiligt. Was wir brauchen, ist eine or­dentliche Verfassung, eine des Herzens. Der Frankfurter Politologe Kurt Shell meint, dass diese sich nicht mehr allein auf die Menschenrechte berufen dürfe. »Wir brau­chen etwas, das darüber hinausgeht«, fordert er. Ein Symbol, eine Vision, eine Utopie ein Experiment.

Nachsatz: Da können wir wohl noch lange warten. Wa wir haben, ist ein Experiment ohne Glauben. R.V. 2.7.2024