Durch Vernunft, nicht aber durch Gewalt soll man die Menschen zur Wahrheit führen.
Denis Diderot (1713-1784), französischer Philosoph
Durch Vernunft, nicht aber durch Gewalt soll man die Menschen zur Wahrheit führen.
Denis Diderot (1713-1784), französischer Philosoph
Der erfolgreichste Politiker ist derjenige, der das sagt, was alle denken, und der es am lautesten sagt.
Theodore Roosevelt (1858-1919), amerikanischer Politiker und Präsident
Seine Fehler verzeihen wir dem Nächsten lieber als seine Vorzüge.
Heinrich Waggerl (1897-1973), österreichischer Schriftsteller
Der FAZ-Check vom 24. April 2024
Von Raimund Vollmer
Damit dies auch der letzte unter uns, also ich, kapiere, wiederhole ich es noch einmal: Nicht wir bestimmen die Prozesse, die digitalisiert werden sollen, sondern die Digitalisierung selbst bestimmt die Prozesse. Wir haben nichts mehr zu sagen. Punkt. Aus. Vorbei.
Natürlich kann Christian Klein, Vorstandssprecher der SAP, eine solche Behauptung jederzeit für Unternehmen der Privatwirtschaft aufstellen. Effizienz ist hier oberstes Gebot. Und das lassen wir auch mal so stehen.
Aber er meint, wie einem Bericht der FAZ von heute zu entnehmen ist, die Rahmenbedingungen in Deutschland und in der EU. Er betritt also Hoheitsgebiete und fordert hier „grundlegende Reformen“. Und damit meint er vor allem eine stärkere Zentralisierung, was auch zumeist Vereinheitlichung meint. Und dafür sorgt allein die Cloud.
Wenn die Wirtschaft diese Ansicht für sich teilt, so ist das deren Sache. Wenn man dies allerdings auf unseren Bürgerstaat überträgt, dann ist diese Ansicht sehr, sehr kritisch zu sehen.
Es gehört zur Betriebsblindheit der Informatik und ihrer Unternehmen, dass sie vergisst, dass die „Rahmenbedingungen“ in Deutschland und in der EU auf horizontaler und vertikaler Gewaltentrennung basieren – und auf Föderalismus. Diese „Rahmenbedingungen“ stehen über allem, solange eine Verfassung wie unser Grundgesetz sich dadurch definiert, uns, den Bürgern, Schutz gegenüber dem Staat zu gewähren. Alle Gewalt geht vom Volke aus – und nur, weil verfassungsrechtlich gesichert ist, dass die Gewalten in Legislative, Exekutive und Jurisdiktion getrennt sind, hat der Staat das Gewaltmonopol. Die Gewaltentrennung, die nicht nur zwischen diesen drei Säulen, sondern auch innerhalb ihrer Bereiche ausgeübt werden soll, gibt dem Staat überhaupt das Recht, im Namen des Volkes handeln zu können. Das ist bestimmt nicht immer effizient und in Deutschland mit der Institution des Bundesrates noch besonders kompliziert, aber dieses System wurde vor 75 Jahren mit voller Absicht gewählt, um nie wieder solche Strukturen zu haben, wie sie sich der Nationalsozialismus geschaffen hat. Vor allem die Amerikaner hatten als Anreger einer Verfassung auf diese „Ineffizienz“ wert gelegt.
Das sind schlichtweg unsere staatlichen Rahmenbedingungen, über die keine grundlegende Reform sich hinwegsetzen kann – schon gar nicht durch eine Zentralisierung. Wer das versucht, handelt wider die Interessen der Bürger.
Dass der Staat durch zu viele Reglementierungen versucht, sein inneres Macht-Patt zu kompensieren, ist andererseits höchst kritikwürdig und bewirkt eine zunehmende Entfremdung von Staat und Bürger. Vereinfachung ist hier dringend erwünscht – aber nicht durch Zentralisierung, sondern zuallererst durch Abschaffung von Regelwerken. (Allerdings stimmten die Truthähne auch nicht für Weihnachten.)
Doch das Geschäftsmodell der SAP, letztlich einem reinen Buchhalter, basiert darauf „wöchentlich neue Anwendungsfälle“ (Klein) zu schaffen. Mit Hilfe von KI, in deren Namen alles zur Cloud wird. Diese Anwendungsfälle haben in sich als Motor die Versuchung noch mehr zu reglementieren – weniger durch Gesetze, der Bundestag müsste ja dann rund um die Uhr tagen, als vielmehr durch Software. Und die besteht aus Befehlen.
So errichtet SAP mit der Cloud eine Kommandohöhe, die – was die Privatwirtschaft anbelangt – auch Privatsache bleibt. Aber wenn es um Rahmenbedingungen geht, also um den Staat, liefe sie Gefahr, durch die Hintertür jenes Regime hereinzulassen, das uns in China vorgelebt wir:
Die Cloud hat immer Recht.
Da kann ich nur zustimmen.
Basis: FAZ, 24. April 2024, Bernd Freytag: "'Wir starten mit der Cloud durch'"
... in einer Art Selbstattacke, was den klugen Kaube-Kopf hinter dieser Zeitung ehrt. So greift heute der Chef des Feuilletons unter der Überschrift "Die Gouvernante" dieselben Kritikpunkte an dem am 18. April veröffentlichten Artikel der Historiker Hedwig Richter auf, wie wir hier in der Journalyse bereits am selben Tag angemerkt haben. Ja, Jürgen Kaube geht sogar noch ausführlicher auf die etwas seltsamen Vorstellungen der Professorin ein. Später (muss jetzt weg) eventuell mehr dazu. Raimund Vollmer
Eine der niedrigsten Tendenzen des Menschen ist: irgendwo dazu gehören zu wollen.
Heimito von Doderer (1896-1966), österreichischer Autor
Von Raimund Vollmer
Es ist das ewige Lied der IT: Immer steht irgendeine Lösung
im Raum, die dann, wenn man meint, sie packen zu können, sich in irgendetwas
anderes transformiert. Sie zerrinnt unter unseren Fingern. Nicht Lösungen sind
das Geschäft der KI, die als die große Lösung für alle Probleme der IT und der
sonstigen Welt daherkommt, sondern die Transformation. Deswegen dürfen und
werden wir ewig warten. Auch der Bericht „Wann übernimmt KI das Steuer?“, der
heute im Lokalteil des Reutlinger
General-Anzeiger erschien, erzählt unterschwellig diese Geschichte. Es
geht immer um das Wie, das ja nur auf die Methode zielt, nicht auf das
Ergebnis. Das Was rückt stets in jene Ferne, die man braucht, um an Subventionen
heranzukommen, ohne gleich in die Verantwortung (für eine Lösung) genommen zu werden.Die Lösung ist nur ein Köder.
KI ist eine Fata Morgana, die inzwischen als solche von Investoren, die mit eigenem Geld handeln, erkannt wird. Es geht allein um die Finanzierung von Projekten, wie auch offenbar die Veranstaltungsreihe zeigen soll, die an der Reutlinger Hochschule nun startet, zu belegen scheint. Es geht nicht wirklich um Produkte. Zumindest gilt dies in Deutschlands IT-Landschaft so, seitdem es seit den sechziger Jahren staatliche Förderprogramme gab, die übrigens nach meiner Erinnerung nie das Ziel erreichten, für das sie geplant worden waren. (Ich erinnere nur an die Entwicklung von Supercomputern in den achtziger Jahren, oder habe ich da etwas nicht mitbekommen?)
Joseph Weizenbaum, der Mann, der am MIT vor 60 Jahren das
erste Sprachmodell als eine digitale Psychiaterin namens Eliza entwarf, war
entsetzt, als er sah, dass sich seine Studenten und Studentinnen mit seinem
genialen Programm tatsächlich therapierten (oder sollte man sagen:
transformierten?). Es war für ihn, der damit den Weg in Richtung ChatGPT wies, doch nur ein Versucherle gewesen, mit der er die
Absurdität der KI gegen deren Apostel demonstrieren wollte. Eliza zu
entwickeln, das – so gab er in einem Interview zu – habe ihm großen Spaß
gemacht.Da war er ein Entwickler wie jeder andere.
Daran sollten wir immer denken: die Informatiker wollen etwas entwickeln. Das ist ihr eigentliches Ziel – dieses Transformieren von irgendeiner Idee in eine programmierte Funktion, die dann nach noch mehr Funktionen schreit. Dafür geben sie alles, dafür brauchen sie Geld – in Deutschland besteht das dann aus Subventionen. Erst wenn es die nicht mehr gibt, wird es tatsächlich Fortschritt geben – und nicht nur Veränderungen.
Hinter dem Fortschritt in der IT standen immer nur ganz wenige geniale Köpfe, die oft mit minimalem Budget arbeiten mussten und häufig ihr eigenes Geld wagten. Und sie schafften dies, ohne auf sich aufmerksam machen zu müssen. Im Übrigen haben die Götter von heute am meisten Angst vor genau diesen Typen, die irgendwo im Verborgenen an dem arbeiten, was zukünftige Professoren dann zu ihrem eigenen Ruhm und für ihre eigenen Projekte lehren werden.
Zum Artikel im Reutlinger General-Anzeiger „Wann übernimmt KI das Steuer?“ von Anja Weiss, 23. April 2024
Sorge dafür, das zu haben, was du liebst, oder du wirst gezwungen werden, das zu lieben, was du hast.
George Bernhard Shaw (1856-1950), britischer Schriftsteller
Wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern
Konfuzius (551-479 v. Chr.), chinesischer Philosoph
Gegen Angriffe kann man sich wehren, gegen Lob ist man machtlos.
Sigmund Freud (1856-1936). Österreichischer Arzt und Begründer Psychoanalyse
Unter Zeitzwang
1989: „Es gibt keine Vergangenheit, weil man sie beliebig für den momentanen Gebrauch auswechseln kann. Es gibt keine Zukunft, weil eine Zukunft ohne Geschichte nicht existiert. Es gibt nur eine Gegenwart, doch auch sie ist ein wenig aus den Fingern gesogen, denn ohne Gestern und Morgen wird der heutige Tag zum leeren Klang.“
Andrzej Szczypiorski (1924–2000), polnischer Schriftsteller[1]
Zeit ist etwas, in das wir hineingeworfen werden wie in einen Fluss – in die „Wolga der Menschenzeit“, lässt der georgische Dichter und Futurist Wladimir Majakowski (1893-1930) in seinem satirischen Stück „Das Schwitzbad“ den Erfinder Käuzerich sagen. Der Kauz hat eine Zeitmaschine gebaut. Sie überwindet den alten Zeitfluss, in dem wir uns – wie er sagt – müde strampeln und uns dennoch nur mit der Strömung treiben lassen können. Doch jetzt – mit dieser Erfindung – wird alles anders: „Ich zwinge die Zeit stillzustehen oder dahinzurasen, in jeder gewünschten Richtung und Geschwindigkeit“, rühmt sich Käuzerich großspurig in dem 1930 erstmals aufgeführten Theaterstück.[2] Mit Käuzerichs Erfindung nimmt die Gegenwart Fahrt auf durch „Herauslösung des funktionalbestimmten Zeitbegriffs aus der metaphysikalischen Substanz“, parodiert Majakowski trefflich den technisch-wissenschaftlichen Jargon – bis in unsere heutige Zeit hinein.
„Metaphysikalische Substanz“ – ein herrlicher Begriff, mit dem der Dichter die Existenz der sozialen Netzwerke gleichsam vorwegnahm. Sie sind die wahren Zeitmaschinen. Denn in ihnen zählt nur die Zeit. Als Prozess, als Verweildauer, als Datenfluss und Kommunikation, zugleich aber auch als Produkt, manifestiert in Form der Werbung.
Ja, das ist sie – die Zeit, ein Fortschreiten und ein Festhalten, beides zugleich. Sie ist Unruhe und Uhr. In den Sozialen Medien ist sie ihre eigene Sphäre. Wie über Jahrtausende hinweg im Glauben, dem insgeheimen Vorbild, dem wahren Geschäftsmodell der Sozialen Medien.
In der Sprachwelt des Glaubens hört sich das viel edler und salbungsvoller an: Zeit ist auch hier Prozess und Produkt zugleich. Bei ihm hält der Augenblick alles im Fluss, während die Zeit klumpt. Glaubensprozess und fester Glaube.
Kostbar sei allein, sagt der Jesuit Pater Adolph von Voß, „der Augenblick, der jetzt rinnt; denn aus solchen Augenblicken besteht die Zeit, gleichwie ein Klumpen Goldes aus vielen Goldstäubchen besteht“. Und was er 1894 gottfromm formulierte, landete 100 Jahre später als geniale Geschäftsidee im Cyberspace. Bei Google, Facebook & Co.
Einen Gott im Hintergrund brauchen sie da nicht.
Die Zeit materialisiert sich in Augenblicken, die sich aneinander reihen in unendlicher „Jetztfolge“, den Posts. Jeder Augenblick ist dabei Zukunft und Vergangenheit zugleich, er ist ganz Gegenwart für dich und deine zwei, drei Sekunden permanenter Gegenwart. Voß meint: „Er ist deine Zeit“, der Augenblick. Und für Zuckerberg ist jeder deiner Augenblicke sein Geld, nicht deins, sondern seins.
Ein geniales Konzept – von den klügsten Menschen vor Jahrhunderten erdacht, von den schlauesten Menschen nunmehr genial ausgebeutet. Nur dürfen sie’s nicht übertreiben. Dann fallen sie im Kurs. Im Börsenkurs. Brutal.
***
Der Augenblick – das ist meine ganz persönliche Zeit. Der Augenblick bin ich. Jeder Einzelne. Was gerade noch guter Glaube war, präsentiert sich heute als profaner Werbespruch. Werbung ist Glauben, bis er bricht. Und das ist dann unser Augenblick. Dann holen wir uns alles zurück. Plumps macht’s, nicht Wumm.
Nicht wir sind in der Welt, wie Heidegger sagt, sondern unsere Daten. Sie überleben uns alle. Sie existieren auch ohne uns. Anonym sowieso. Aber sie können uns nicht ersetzen. Das dämmert ganz allmählich den Big Metas und Datas.
„Dass das Individuelle und die Individuen allein das wahrhaft Wirkliche seien“, das war ein idealistischer Ansatz, der im Zeitalter des Kapitalismus als zu eng angesehen wurde. Hier herrsche vielmehr ein Wertgesetz, das sich im Kapitalismus „über den Köpfen der Menschen realisiert“, meinte 1966 der Philosoph Theodor W. Adorno (1903-1969), der Großsoziologe der Frankfurter Schule, in seinem Buch „Negative Dialektik“.[3] Vielleicht drehen wir es ganz allmählich ins Positive.
Zeit ist im Kapitalismus etwas, das als Wertesystem, am besten noch als Geld, über unseren Köpfen hinwegrauscht. Es ist aber auch etwas, das zwischen den Augenblicken, zwischen unseren Ich-Zuständen, zwischen den Ereignissen, vergeht – oder gar, wie Heidegger beim Betrachten der Zeit anmahnte, nicht nur vergeht, sondern auch entsteht. Und wo etwas Neues emporkommt, da wird der Erfinder sehr schnell durch den Unternehmer ersetzt.
Die Zeit ist wie der Zwischenraum in einem Comic-Heft. Sie ist die Lücke zwischen den Bildern, zwischen den Ereignissen, zwischen den Momenten. Das Unsichtbare. Im Comic ist die Zeit ein Nirgendwo, das uns nicht gehört, in dem sich alles bewegt. Rasend schnell oder ganz langsam. Eine gewaltige Logistikmaschine setzt sich in Gang – von der Bestellung bis zur Lieferung. Sie eilt uns sogar voraus. Weil das, was wir wünschen, bereits produziert wurde. Unsichtbar für uns. Auf Wegen, die wir nicht kennen. In Räumen, die es nicht gibt. Gesteuert im Cyberspace des Nichts.
Zeit wird zum ungeheuerlichen, unbegreifliches Phänomen. Ein Schockerlebnis, vor dem uns nur die Vernunft schützen kann. Die Vernunft – sie hat seit der Aufklärung eine zentrale Bedeutung.
„Die Welt wie sie ist wird zur einzigen Ideologie und die Menschen deren Bestandteil“, schrieb Adorno ohne Komma.[4] Die Welt, wie sie ist. Die Vernunft. Ihr haben wir uns unterworfen. Als Subjekte, als Unterworfene der Zeit, die allen gehört. Das Ich gibt es nicht mehr, verschwunden in den Lücken zwischen den Augenblicken. Wir sind ohne „Ich“. Ohne uns selbst. Pure Vernunft. Zu Daten verdampft, zu metaphysikalischer Substanz.
***
„Die Lebenden werden notwendigerweise immer mehr durch die Toten regiert werden.“
Auguste Comte (1798-1857), französischer Philosoph[5]
Die britische Schriftstellerin Pat Barker (*1946) meinte einmal in Anlehnung an den russischen Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky (1940-1996), dass jede Generation versuche, „der Vergangenheit Sinn zu geben, und jede Generation bringt ihre Fähigkeiten und Erfahrungen ein in dieses Projekt. So wird eine Geschichte an die jeweils nächste Generation weitergegeben, die in gewissem Sinn bereichert wurde durch diese Anstrengungen. Eine Generation, der das nicht gelingt, ist nicht länger Teil der zivilisierten menschlichen Gesellschaft.“[6]
Nun – manchmal könnte man meinen, dass wir genau auf diesen Punkt zutreiben. Die Generationen haben sich nichts mehr zu sagen. Wir leben in einer fremden Zeit. Wir sind ohne uns. Amazon ist das einzige Verbindungsglied, das wir noch haben. Doch das Netz, das uns in seinen Lieferketten gefangenhält, ist das Untote, das über uns, die Lebenden, herrscht. Ein Prozess, der sich durch unsere Moderne windet, seit der Industrialisierung. Das Tote herrscht. „Im Staat, in der Gesellschaft und auch in der literarischen Tradition“, schrieb 1925 der österreichische Literaturkritiker Otto Forst de Battaglia. [7]
Und nun geben wir ihr den Rest. Bis in den letzten Winjkel unserer Existenz. Wir schlagen die Zeit tot. Jetzt.
***
Als der mexikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Octavio Paz (1914-1998) im ungefähren Alter von sechs Jahren, also etwa 1920, erlebte, dass ein Foto von heimkehrenden Soldaten nicht aus der Vergangenheit kam, sondern aktuell war, fühlte er sich „buchstäblich aus der Gegenwart vertrieben“, also seiner ureigenen Zeit beraubt. „Von nun an“, schreibt er, also von jetzt an, „begann die Zeit in immer mehr Bruchstücke zu zerfallen. Auch gab es nicht mehr den einen Raum, sondern eine Vielfalt von Räumen. Und diese Erfahrung wiederholte sich immer wieder. Irgendeine Meldung, ein harmloser Satz, die Schlagzeile einer Zeitung: alles bewies die Wirklichkeit dieser Außenwelt und zugleich meine eigene Unwirklichkeit.“[8]
„Meine Zeit“ gab es fortan für ihn nicht mehr, sie war als „fiktive Zeit“ entlarvt. Diese „Vertreibung aus der Gegenwart“ geschieht jedem von uns. Vielleicht sind es die Schriftsteller, die das am stärksten spüren. „Brodskys Gedichte sind Sehnsucht nach Gegenwart“, schrieb 1990 die deutsch-russische Publizistin Sonja Margolina (*1951) über den Nobelpreisträger.[9]
Sehnsucht nach Gegenwart. Sehnsucht nach diesen uns verbleibenden zwei, drei Sekunden Präsens. Dieser permanenten Abfolge von Bildern, von Augenblicken. Und doch mögen sie uns nicht befriedigen.
Hinter allem steht dieses Gefühl von Verlust. Wir sind – um mit den Worten des französischen Schriftstellers Marcel Proust (1871-1922) zu sprechen – „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, unserer Zeit, deiner, meiner Zeit. Das einzig Wirkliche in dieser temps perdu ist dann die Erinnerung. Bei Proust umfasst sie 4000 Seiten.
„Für Proust ist die Wirklichkeit des Augenblicks unrein, verzerrt durch unsere Interessen“, schrieb 1957 der Journalist und Schriftsteller Günter Blöcker (1913-2006) in seinem Buch „Die neuen Wirklichkeiten“. Dagegen steht „der Augenblick der Erinnerung“, der uns die Phänomene so darstellt, „wie sie ‚an sich‘ sind.“[10]
Die Erinnerung ist unsere Rettung. Da sind wir wieder uns selbst. Und sei es nur als Sehnsucht. Da holen wir uns unsere Zeit zurück. In diesen Erinnerungen ist Zeit nicht länger Geld, ist Zeit nicht die Zeit, „die anderen gehört“, wie Paz schreibt. Es ist nicht die Zeit, die du raffen oder vergeuden kannst. Es ist allein deine Zeit, deine Gegenwart.
Wir leben dann nicht mehr im Jetzt-Stream, der über unsere Köpfe hinwegfegt. Die Zeit ist in uns. Nicht als Illusion, nicht als Beherrschung, sondern ganz tief als Erinnerung.
Bisher erschienen:
Teil
1: Der Zukunftsschock // Teil
2: Der Sturz des Menschen // Teil
3: Das Prinzip Verantwortung //Teil
4: Fehler im System // Teil
5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil
6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil
7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil
8: Die Seele und der Prozess // Teil
9: In diktatorischer Vertikalität // Teil
10: Über das Über-Über-Ich // Teil
11: Die demente Demokratie // Teil
12: Welt der Befehle // Teil
13: Fridays sind für die Future // Teil
14: Das Systemprogramm // Teil
15: Die alltägliche Auferstehung // Teil
16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil
17: Der Prozess // Teil
18: Unter Zeitzwang // Teil
19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil
20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt