„Ein bloßes Ungefährwissen ist nirgendwo gefährlicher als in der Rechtswissenschaft“
Gustav Radbruch (1878-1949), deutscher Rechtsgelehrter
Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik
Gesetz & Verordnung
Derweil definiert sich unsere Welt klammheimlich immer mehr aus unendlich vielen bindenden Bestimmungen, die zumeist nie einen Gesetzgeber gesehen haben, sondern nur von ihm als exekutives Recht ermächtigt wurden. Vieles geschieht nach Regeln, die zwar Zeichen für einen Rechtsstaat sind, aber deren Existenz noch lange nicht „von selbst die Demokratie zustande brächten“, wie es 1965 Ralf Dahrendorf in seinem Buch ‚Gesellschaft und Demokratie in Deutschland‘ erkannte.[1] Die Regeln sind Auslegungen von Gesetzen, die so kompliziert sind, dass sie allein durch ihre Menge jeden Abgeordneten überfordern – jeden Juristen und jeden Journalisten. Der Eschenburg-Schüler Friedrich Karl Fromme (1930–2007), Journalist und Verfassungskenner, knöpfte sich 2005 einmal die Kommentare vor, die allein unser Grundgesetz begleiten. Über eines dieser Konvolute schrieb er: „Mit rund 2600 Seiten im Lexikon–Format überschreitet das Werk die Grenze der Alltagstauglichkeit“. Eine andere Sammlung war gar über fünf Ordner auf 10.000 Seiten angeschwollen.[2] Dagegen kann kein Abgeordneter bestehen. So werden unsere Parlamente allein durch die Macht der Paragraphen ausgehebelt, niedergeknüppelt – und ignoriert. Am Ende entscheidet der Abgeordnete nicht mehr aus Wissen und Überzeugung, sondern aus völlig sachfremden Erwägungen – wie zum Beispiel reinen Opportunitätserwägungen. („Hilfst du mir bei meinem Gesetz, helfe ich dir bei deinem“), eigentlich nicht mit dem Gewissen vereinbar und wohl auch nicht mit dem Gesetz.
Die Bürokratie macht die Gesetze, die sich längst in Verordnungen verselbständigt haben. Und da sie auch noch im Rahmen der alles bestimmenden Digitalisierung zunehmend in Software gegossen werden, sind sie unserem Zugriff vollends entzogen. Sie verschwinden im Nirwana der Programmierung, die von Menschen vorgenommen wird, die keine Rechtsexperten sind, aber sie geben durch Software den Gesetzen eine knallharte Präzision. Das unsichtbare Regiment der Regeln basiert mehr und mehr auf einer Arbeitsteilung, die sich aus sich selbst ergibt und nicht mehr hinterfragbar ist. Es saust durch die Luft – über Apps und Lockdowns – schneller als jedes Virus. Und das ist dann die Zukunft: Paragraphen sind die Vor-Schriften der großspurig genannten „digitalen Transformation“, sie sind die verborgenen Algorithmen des von unsichtbarer Hand gelenkten Alltags.
Wozu braucht man da noch Parlamente? „Verliert der Bundestag an Bedeutung?“, hieß bereits 2005 eine Headline auf Seite 1 der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘. „Auf einer Liste deutscher Institutionen steht der Bundestag weit abgeschlagen hinter der Polizei, dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundespräsidenten und sogar den Medien“, berichtete damals das Sonntagsblatt.[3] Ungeliebter als der Bundestag seien allerdings die Bundesregierung und die Parteien. So die repräsentative Untersuchung im Auftrag der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt und Hans Vorländer, eine Studie, die sofort heftig umstritten war. Der Historiker Horst Möller (*1943) meinte 2008, dass „das freie Mandat der Abgeordneten längst ausgehöhlt“ sei. Er glaubt, dass wir es heute angesichts der Globalisierung „mit Schwierigkeiten zu tun“ haben, die „die Legitimität der parlamentarischen Demokratie in Frage stellen“.[4] Bitter, bitter – und es wird nicht besser.
Nicht einmal mehr zu einer Sondersitzung des Bundestages hatte es 2020 angesichts der Pandemie gereicht. Schon 2003 hatte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier (*1943) vor der „fortschreitenden Entparlamentarisierung der Politik“ gewarnt und von der „Entfremdung zwischen Bürgern und Parlament“.[5] Das Parlament wurde nur immer größer, aber nicht bedeutender. Dabei ist es unsere größte und vielleicht auch letzte Hoffnung. In der ‚Sonntags-FAZ‘ wird Christoph Möllers zitiert mit den Worten: „Abgeordnete vertreten ungeachtet parlamentarischer Arbeitsteilung stets das ganze Volk, während Regierungen sich bewusst entlang eigensinniger ministerieller Ressortlogiken organisieren.“[6] Schön wär’s. Nichts könnten wir uns mehr wünschen. Schade, dass in dem Interview mit ihm in der Regierungsbroschüre davon nicht mehr die Rede ist, sondern nur davon, dass er, Möllers, „dankbar“ sei „für den Zufall, in eine Demokratie hineingeboren worden zu sein“ – in eine Demokratie, in der offenbar nur die Regierung mit ihrer „Mehrheitsherrschaft“ – so der Staatsrechtler – zählt. Demokratie – ein Privileg, das wir dem Zufall zu verdanken haben.
Wo sind die Füße, die wir küssen sollen?