Samstag, 18. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 34) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (12)

„Ein bloßes Ungefährwissen ist nirgendwo gefährlicher als in der Rechtswissenschaft“

Gustav Radbruch (1878-1949), deutscher Rechtsgelehrter

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 Von Raimund Vollmer 

 

Gesetz & Verordnung

 

 

Derweil definiert sich unsere Welt klammheimlich immer mehr aus unendlich vielen bindenden Bestimmungen, die zumeist nie einen Gesetzgeber gesehen haben, sondern nur von ihm als exekutives Recht ermächtigt wurden. Vieles geschieht nach Regeln, die zwar Zeichen für einen Rechtsstaat sind, aber deren Existenz noch lange nicht „von selbst die Demokratie zustande brächten“, wie es 1965 Ralf Dahrendorf in seinem Buch ‚Gesellschaft und Demokratie in Deutschland‘ erkannte.[1] Die Regeln sind Auslegungen von Gesetzen, die so kompliziert sind, dass sie allein durch ihre Menge jeden Abgeordneten überfordern – jeden Juristen und jeden Journalisten. Der Eschenburg-Schüler Friedrich Karl Fromme (1930–2007), Journalist und Verfassungskenner, knöpfte sich 2005 einmal die Kommentare vor, die allein unser Grundgesetz begleiten. Über eines dieser Konvolute schrieb er: „Mit rund 2600 Seiten im Lexikon–Format überschreitet das Werk die Grenze der Alltagstauglichkeit“. Eine andere Sammlung war gar über fünf Ordner auf 10.000 Seiten angeschwollen.[2] Dagegen kann kein Abgeordneter bestehen. So werden unsere Parlamente allein durch die Macht der Paragraphen ausgehebelt, niedergeknüppelt  – und ignoriert. Am Ende entscheidet der Abgeordnete nicht mehr aus Wissen und Überzeugung, sondern aus völlig sachfremden Erwägungen – wie zum Beispiel reinen Opportunitätserwägungen. („Hilfst du mir bei meinem Gesetz, helfe ich dir bei deinem“), eigentlich nicht mit dem Gewissen vereinbar und wohl auch nicht mit dem Gesetz.

Die Bürokratie macht die Gesetze, die sich längst in Verordnungen verselbständigt haben. Und da sie auch noch im Rahmen der alles bestimmenden Digitalisierung zunehmend in Software gegossen werden, sind sie unserem Zugriff vollends entzogen. Sie verschwinden im Nirwana der Programmierung, die von Menschen vorgenommen wird, die keine Rechtsexperten sind, aber sie geben durch Software den Gesetzen eine knallharte Präzision. Das unsichtbare Regiment der Regeln basiert mehr und mehr auf einer Arbeitsteilung, die sich aus sich selbst ergibt und nicht mehr hinterfragbar ist. Es saust durch die Luft – über Apps und Lockdowns – schneller als jedes Virus. Und das ist dann die Zukunft: Paragraphen sind die Vor-Schriften der großspurig genannten „digitalen Transformation“, sie sind die verborgenen Algorithmen des von unsichtbarer Hand gelenkten Alltags.

Wozu braucht man da noch Parlamente? „Verliert der Bundestag an Bedeutung?“, hieß bereits 2005 eine Headline auf Seite 1 der ‚Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung‘. „Auf einer Liste deutscher Institutionen steht der Bundestag weit abgeschlagen hinter der Polizei, dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundespräsidenten und sogar den Medien“, berichtete damals das Sonntagsblatt.[3] Ungeliebter als der Bundestag seien allerdings die Bundesregierung und die Parteien. So die repräsentative Untersuchung im Auftrag der Dresdner Politikwissenschaftler Werner Patzelt und Hans Vorländer, eine Studie, die sofort heftig umstritten war. Der Historiker Horst Möller (*1943) meinte 2008, dass „das freie Mandat der Abgeordneten längst ausgehöhlt“ sei. Er glaubt, dass wir es heute angesichts der Globalisierung „mit Schwierigkeiten zu tun“ haben, die „die Legitimität der parlamentarischen Demokratie in Frage stellen“.[4] Bitter, bitter – und es wird nicht besser.

Nicht einmal mehr zu einer Sondersitzung des Bundestages hatte es 2020 angesichts der Pandemie gereicht. Schon 2003 hatte der damalige Präsident des Bundesverfassungsgericht Hans-Jürgen Papier (*1943) vor der „fortschreitenden Entparlamentarisierung der Politik“ gewarnt und von der „Entfremdung zwischen Bürgern und Parlament“.[5] Das Parlament wurde nur immer größer, aber nicht bedeutender. Dabei ist es unsere größte und vielleicht auch letzte Hoffnung. In der ‚Sonntags-FAZ‘ wird Christoph Möllers zitiert mit den Worten: „Abgeordnete vertreten ungeachtet parlamentarischer Arbeitsteilung stets das ganze Volk, während Regierungen sich bewusst entlang eigensinniger ministerieller Ressortlogiken organisieren.“[6] Schön wär’s. Nichts könnten wir uns mehr wünschen. Schade, dass in dem Interview mit ihm in der Regierungsbroschüre davon nicht mehr die Rede ist, sondern nur davon, dass er, Möllers, „dankbar“ sei „für den Zufall, in eine Demokratie hineingeboren worden zu sein“ – in eine Demokratie, in der offenbar nur die Regierung mit ihrer „Mehrheitsherrschaft“ – so der Staatsrechtler – zählt.  Demokratie – ein Privileg, das wir dem Zufall zu verdanken haben.

Wo sind die Füße, die wir küssen sollen?



Freitag, 17. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 33) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (11)

„Politik ist heute heute nichts weiter als ein Mittel, in der Welt vorwärtszukommen.“

Samuel Johnson (1709-1784), britischer Autor

 

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Freiheit ist Unordnung

Von Raimund Vollmer 

 

Selbst unsere Verfassung wird längst wie eine Verordnung gehandhabt. „Die Änderungspraxis lässt eine Tendenz zur Aufblähung des Grundgesetzes erkennen“, meint der deutsche Rechtswissenschaftler Dieter Grimm (*1937), der zwischen 1987 und 1999 Richter am Bundesverfassungsgericht war. „Das betrifft nicht nur die Zahl der Artikel, die um ein Drittel gestiegen ist, sondern auch den Umfang des Textes, der sich verdoppelt hat.“ So würde sich der Artikel 13, der die  Unverletzlichkeit der Wohnung garantiert, „nach der Änderung von 1998 streckenweise wie eine Verwaltungsvorschrift“ lesen. Grimm: „Der Asylartikel 16a ist vierzigmal so lang wie sein Vorgänger.“[1]

Wo auch nur ein Hauch von Unordnung droht, schlagen die Paragraphen sofort unerbittlich zu. Die Folge, so meinte im August 2019 mit Blick über Deutschland hinaus der ‚Economist‘, sei, dass die „Regierungen praktisch nichts mehr von Bedeutung tun können“.[2] Sie hätten sich selbst in eine Pattsituation hineinmanövriert, zumal gleichzeitig die Zustimmung durch das Volk schwindet. Da kann man schon einmal argwöhnen: Die Gesetze und Verordnungen  schützen nicht mehr das Volk, sondern den Staat und deren Beamtenschaft.

Konnten die beiden großen Parteien – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Großbritannien und Spanien – in der Nachkriegszeit noch 80 bis 90 Prozent der Wähler auf sich vereinigen, schrumpfe ihr gemeinsamer Anteil auf weniger als zwei Drittel. „Bei der Bundestagswahl 1976 hatten CDU und SPD zusammen 91 Prozent, bei der ersten gesamtdeutschen Wahl 1990 nur noch 77 Prozent“, wies uns 1993 ‚Zeit‘-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff auf die Erosion der großen Parteien hin.[3] Jetzt schaffen sie, Union und SPD, wenn alles gut geht, 40 Prozent. Zusammen. Union und Grüne, knapp 50 Prozent. Zusammen.

Das wird nicht reichen, so dass das, was der Zukunftsforscher Matthias Horx (*1955) bereits 2003 erwartete, nun jederzeit auch auf Bundesebene eintreten kann: „Spannend wäre doch längst Gelb-Grün oder Schwarz-Grün. Oder ganz andere Spektralfarben.“ Auf Länderebene haben wir ja schon die ein oder andere Spektralfarbe. Die großen Parteien können nicht mehr das ganze Volk zusammenhalten, was zumindest der Vielfalt an Parteien keinen Abbruch tut.

Zur Bundestagswahl 2021 treten 53 Parteien und Gruppierungen an, elf mehr als 2017. Was aber schwindet, sind die Stammwähler, die einstige Machtbasis der Großen. Keiner hat den Mainstream im Griff.

Insgeheim entsteht ein ungeheuerlicher Verdacht: Je weniger Zustimmung für die Großen, desto mehr Regeln im Kleinen. War das nicht schon der Trend der letzten 30 Jahre? Sieht denn da keiner den Zusammenhang! Werden unsere gewählten Regierungen bereits von ihrer eigenen, festangestellten Bürokratie übermannt? Mehr noch: diese Bürokratie ist längst das Opfer ihrer eigenen Verfahren. Sie kann gar nicht anders, als immer mehr Regeln aufzustellen. Das hat schon Züge von Zwangsneurosen – in der Pandemie war dies wunderbar mitanzusehen. Jaspers hat Recht. Die Bürokraten sind besessen von sich selbst.

„Kaum ein Tag vergeht, ohne dass der Ruf nach neuen Verboten, Kontrollen, Vorschriften erklingt und damit die Forderung erhoben wird, die Handlungs- und Entscheidungsfreiheit der Menschen an der einen oder anderen Stelle zu beschneiden. Begründet wird dies stets mit dem Wohl der Bürger“, meinte 2006 Thomas Petersen (*1968), Meinungsforscher am Institut für Demoskopie Allensbach.[4] Millionen von Menschen sind damit beschäftigt, nicht nur diese Regelwerke zu befolgen und anzuwenden, sondern auch über deren Einhaltung zu wachen. Petersen: „Dass eine Gesetzesinitiative mit der Begründung angestoßen wird, sie verschaffe den Menschen mehr Handlungsfreiheit, erlebt man nur selten, dass jemand den Gedanken äußert, die Abschaffung von Freiheiten könne dem Wohl der Menschen schaden, fast nie.“ Freiheit bedeutet Unordnung, Selbstbestimmung statt Weltbestimmung. So aber betreibt die Bürokratie dieses Geschäft. Sie hinterlässt ein heilloses Durcheinander. Sie verwirrt uns so sehr, dass wir schließlich das eigene Denken einstellen. Wir werden zu Objekten ohne eigenes Bewusstsein.

Der als Politiker gescheiterte, aber als Staatsrechtler gefeierte Paul Kirchhoff (*1943) meinte 2007 in seinem Buch ‚Das Gesetz der Hydra‘: „Der Auftrag des Parlaments von heute ist (...) weniger das Entdecken neuer Regelungsbedürfnisse als der Abbau bestehender Gesetze, mehr der Kampf gegen die Normenflut als der Auftrag, die Überfülle noch zu vermehren.“ [5]

Genützt hat‘s wenig.

Die Normenflut schwappt weiterhin über unsere Köpfe hinweg. Das Durchwinken von Paragraphen ist längst das Geschäftsmodell der Parlamente. Sie sind die Grüne Welle der Bürokratie. Das Ergebnis: „Der Bundestag verfügt nicht über ein Übermaß an öffentlichem Ansehen“, meinte der Politikwissenschaftler Hennis. Er fragte sich, ob das Staatsoberhaupt „der Präsident einer parlamentarischen Demokratie oder eines pseudoplebiszitären Parteienstaates“ sei.[6]

Die Antwort kann sich jeder Wähler selbst geben. Allerdings den Präsidenten wählen andere…



Donnerstag, 16. Mai 2024

Gerade gelesen: Statistik über Gewalt gegen Politiker...

 ... in ÜberMedien. Können Sie sich gerne einmal zu Gemüte führen. Aber die Essenz dieser Geschichte besagt nichts anderes, als dass diese Statistik nichts taugt und beliebig manipuliert werden kann. Ja, man bekommt den Eindruck, dass die Geschichte selbst als Teil einer Manipulation verstanden sein könnte (eine Aussage meinerseits, die sich wiederum als unnötige Manipulation einordnen ließe). So dreht sich alles um sich selbst und nicht um die wirkliche Botschaft: Solche Nachrichten sind keine Nachrichten, nach denen man sich richten kann. 

Müssen wir uns als Demokraten wirklich mit solchen Nachrichten um der Nachricht willen befassen? Ich habe mich jedenfalls über mich selbst und die Zeitverschwendung geärgert und teile diesen Ärger gerne mit Ihnen. Lesen Sie selbst! 

Raimund Vollmer (Kommentar und Kommentare erwünscht, damit ich sehen kann, dass meine Manipulation funktioniert hat, egal was Sie schreiben. Kann auch ein Gedicht sein...)

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 32) HEUTE: DIE BUNDESPUBLIK (10)

 
„Jeder Deutsche hat die Freiheit, Gesetzen zu gehorchen, denen er niemals zugestimmt hat; er darf die Erhabenheit des Grundgesetzes bewundern, dessen Geltung er nie legitimiert hat; er ist frei, Politikern zu huldigen, die kein Bürger je gewählt hat, und sie üppig zu versorgen – mit seinen Steuergeldern, über deren Verwendung er niemals befragt wurde. Insgesamt sind Staat und Politik in einem Zustand, von dem nur noch Berufsoptimisten oder Heuchler behaupten können, er sei aus dem Willen der Bürger hervorgegangen.“

Hans Herbert von Arnim (1939; deutscher Verfassungsrechtler

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

Starker Staat & treue Bürger

Von Raimund Vollmer 

Das Thema „Demokratie“ trieb schon die alte Bundesregierung um. Ja, es schien sie Wahljahr 2021 derart zu beunruhigen, dass sie im Juni 2021  den hochgesonnenen Tageszeitungen eine Schrift beilegte, die sich dem Thema „Demokratie“ widmete – mit einem Vorwort der scheidenden Bundeskanzlerin Angela Merkel. Bundestagsabgeordnete kommen dort nicht zu Wort, nur Wissenschaft und Verwaltung. Das Parlament, das zu wählen wir ja gebeten wurden, fand mit seinen Themen in dieser Demokratie-Schrift so gut wie keinen Niederschlag. Wahlen wurden uns hier als eine sehr „nüchterne“ (Zitat) Angelegenheit verkauft – fast so als seien sie nur eine Regelung zwischen einer Regierung und einem Volk, das „in irgendeiner Weise beteiligt“ wird, wie es einer der Protagonisten, der in Berlin lehrende Rechtswissenschaftler und bereits erwähnte Christoph Möllers in dieser Beilage formuliert. „Wir leben in einer Demokratie“, sagt eingangs die noch amtierende Bundeskanzlerin, die darin ein „Privileg“ sah. Denn diese Demokratie ist „Milliarden Menschen nicht vergönnt“. Wir wählen im Zustand des staatlichen Gnadentums – sind irgendwie beteiligt. Das klingt nicht sehr erbaulich, nicht sehr motivierend. Fast hat man den Eindruck, als wäre es der Regierung am liebsten, wir würden gar nicht wählen gehen.

Das ist natürlich Quatsch.

Aber es ist die Vorstellung von einer Demokratie von oben, die da überall durchschimmert – eine stille, klammheimliche Arroganz oder auch Angst, dass „vielleicht sogar bei uns“, so Möllers in ‚Schwarzrotgold‘, „die Demokratie und die Institutionen, die sie tragen, schneller in Frage gestellt werden“.[1] Schon Jaspers meinte 1966: „Die Verfasser des Grundgesetzes scheinen vor dem Volke Furcht gehabt zu haben.“

Wir, das Volk, haben offenbar ein schwieriges Verhältnis zur Herrschaft, deren  Institutionen uns immer irgendwie zu groß geraten – auch, weil wir zu viel Schutz verlangen. Also: selber schuld. Eine seltsame Konstellation mendelt sich da heraus: Wir, die wir bis in unsere Gene hinein immer nur Schutz vor allem beim Staat suchen, sind diejenigen, vor denen sich der Staat fürchtet! Ein seltsames, ein kurioses, ein paradoxes Verhältnis.

„Anti-Atom-Kampagne, Achtundsechziger-Revolte, Friedens- und Ökologiebewegung, Terrorismus und alle politischen Skandale haben das Vertrauen in das politische System auf lange Sicht nicht untergraben, sondern gestärkt“, schrieb 1990 der deutsche Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007).[2] Denn sie wurden selbst die Macht. Die alte Erkenntnis des französischen Kardinals Richelieu bestätigte sich: „Minderheiten haben die Tendenz zu wachsen.“ Sie treten an zum Marsch durch die Institutionen, besetzen sie, beherrschen sie. Die Minderheiten übernehmen die Macht. Sie sind stärker als die da oben – bis sie selbst da oben sind. Dann kippt die Macht der Ohnmacht, wird  eins mit der Schutzmacht, mit der Bürokratie. 

„Eine Föderation von Bundesgenossen ungleichen Rechts“, hatte dereinst, 1667, der Staatsrechtler Samuel von Pufendorf in dem „irregulären und einem Monstrum ähnlichen“ Deutschen Reich mit seiner „disharmonischen“ Staatsform gesehen. Als ein „verwinkelter, unübersichtlicher, aber widerstandsfähiger Bau“ kam auch dem Historiker Heinz Schilling (*1942) das Heilige Römische Reich Deutscher Nation vor. Doch es leistete über alle Willkür und Wirren hinweg stets „Schutz und Sicherheit“, befindet die Schriftstellerin Christa Dericum (1932–2014).[3] Das ist bis heute unser vornehmlicher Anspruch: Schutz. Darauf vertrauen wir. Selbst nach den Schrecknissen des Dritten Reiches. Manchmal könnte man meinen, dass dieses Schutzbegehren unser einziger Anspruch ist und bleibt. Da wird aus unserer Gesellschaft eine Gemeinschaft, da werden wir eindimensional. Es ist eine „eigenwurzelige Funktion“, schon im Mittelalter verbrieft unter den Begriffen Munt & Gewere, wie es der Historiker Karl Bosl (1906–1993) nannte.

Der Verfassungsrechtler Roman Herzog meinte 1993, ein Jahr, bevor er deutscher Bundespräsident wurde: „Wenn das Rechtsbewusstsein der Bürger in einem größeren Umfang ins Wanken gerät, dann ist der Staat eigentlich vor die Alternative gestellt, entweder ständig seine Polizeikräfte zu verstärken – in der Tendenz: er wird zum Polizeistaat – oder das Vertrauen der rechtstreuen Bürger zu verlieren.“ Starker Staat, treue Bürger. Das ist die Superkonstellation, die Schicksalsgemeinschaft. Kein Wunder, dass fast dreißig Jahre später in der ‚Schwarzrotgold‘ genannten Regierungs-Broschüre der erste Auftritt nach dem Vorwort der Kanzlerin einem Polizisten gewährt wird – unter dem Titel: „Demokratie in Uniform“. Kein Richter tritt hier auf. Kein Abgeordneter. Es gibt nur noch eine Gewalt, die vom Volke ausgeht: die Exekutive, die Schutzmacht schlechthin. Sie ist die Konstante. Sie ist die „Berliner Republik“. Sie steht für sich selbst. Sie braucht uns Bürger nicht. Wir sind auch nur in Wahljahren Bürger, sonst sind wie nur Einwohner. Die Exekutive ist das alleinige Recht. Nur sie beherrscht es.

Herzog wünschte sich seinerzeit vor allem einfachere Gesetze und nicht, „dass immer mehr Ausführungsvorschriften ergangen, dass immer neue Unterabsätze in die Paragraphen eingefügt worden sind“. Vergeblich. Da kam kein Ruck, noch nicht einmal ein Zucken. Wir wissen: Es kann kein Genug an Verordnungen geben. Sie sind das unausrottbare Virus des Rechtsstaats, aber auch sein Lebenselixier. Beides lässt sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Das ist die eigentliche Bedrohung. Verordnungen sind die Dreieinigkeit von The Good, the Bad and the Ugly.