»Allgemeine
Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unheil
anzurichten.«
Der Staat haftet nicht
Rund 30 Prozent der Menschen in Deutschland sind
unzufrieden mit der Demokratie. Eine Verdoppelung seit 2021. Dies ermittelte im
Juni 2024 das Allensbacher Institut für Demoskopie.
Nicht gut. Überhaupt nicht
gut.
Diese Unzufriedenheit hindert uns indes nicht daran, zur
Wahl zu gehen. Fast schon auf Rekordniveau war 2024 die Beteiligung der
Deutschen bei den Wahlen zu dem ansonsten doch so fernen Europaparlament. Wie
kommt das? So viel Demokratie war hier schon lange nicht mehr. Denn auch auch
auf Bundesebene steigt seit 2009 wieder die Wahlbeteiligung. Erreichte sie vor
15 Jahren mit 70,8 Prozent ihren absoluten Tiefpunkt, so stieg sie 2021 auf
76,4 Prozent. Niemand würde sich wundern, wenn die Beteiligung wieder die 80er
Marke reißen würde, die bis 1998 eigentlich bei elf von 14 Wahlen für unser
Land selbstverständlich gewesen war. Seitdem allerdings nicht mehr.
Zurück zur Zukunft also? Die Antwort wäre für das Parteien-Establishment
alles andere als angenehm. Offensichtlich wollen die Wähler der Politik und dem
Staat Beine machen. Links und vor allem rechts. Wohl nicht nur in Brüssel und
Straßburg, sondern auch und ganz besonders in Berlin.
Nicht gut. Überhaupt nicht gut. Denn die Menschen sind
unzufrieden.
***
Rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland halten den Staat
für überfordert. Dass der Staat mit seinen Aufgaben klar käme, war im Jahr 2020
noch die Behauptung von 56 Prozent der Bürger. Nun trauen ihm dies mehr als
zwei Drittel der Menschen nicht mehr zu. So berichtet der Deutsche Bamtenbund
im Juni 2024 über das Ergebnis seiner alljährlich vom Forsa-Institut
durchgeführten Umfrage.
Nicht gut. Überhaupt nicht gut.
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Denn darin sehen unsere Beamten eine „Gefahr für die
Demokratie“, sagt der Vorsitzende des DBB, Ulrich Silberbach. Ob diese Gefahr
in der Überforderung des Staates oder in dem wachsenden Misstrauen der Bürger
liegt, ist daraus nicht erkennbar. Auf jeden Fall kann ein überforderter Staat
auf Dauer auch keine Verantwortung mehr übernehmen.
Nicht gut. Überhaupt nicht gut.
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Es geht in der Tat um Verantwortung. Ein unangenehmes Thema,
dem man am liebsten aus dem Wege geht. Wozu hat man denn den großen Apparat,
bei dem man die Verantwortung für alles und jedes hin und her schieben kann!
Denn Verantwortung ist ein Thema, das ihn, den Staat, auf
ein Gebiet treibt, bei dem schon „seit Jahrzehnten Handlungsbedarf besteht: beim
Staatshaftungsrecht“, schrieb 2011 der Rechtswissenschaftler Winfried Kluth
(*1959).
Doch hier tut und tat sich nichts, obwohl die Staatshaftung während
der Pandemie nach dem Erlass des Infektionsschutzgesetzes eigentlich eine zentrale
Bedeutung haben müsste – vor allem vor dem Hintergrund, dass sich im Nachhinein
bestimmte Maßnahmen als nicht gerechtfertigt erweisen sollten oder wissenschaftlichen
Erkenntnissen widersprachen. Ein ziemlich heißes Eisen, das niemand gerne
anpacken möchte – und Kanzler Olaf Scholz wohl nur für das Bildungssystem
gelten lassen möchte. Wenn es denn in
der Retrospektive auf die Pandemie etwas zuzugeben wäre, „dann haben wir in
Deutschland die Schulen mehr geschlossen als in anderen Ländern, und das war
sicherlich nicht die richtige Entscheidung“, meinte der Kanzler im Juni 2024.
Für die Bildung ihrer Bürger haften weder Staat noch
Regierung.
Das ist gut. Das ist sehr gut.
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So wird man Verantwortung los. Denn bei den Schulen teilt
sich der Staat die Verantwortung vor allem mit den Bundesländern, die bislang
ihren Hoheitsanspruch auf das Bildungssystem eifersüchtig bewachten. Mit
Verantwortung hat das nichts zu tun, mehr mit Macht und noch mehr mit Geld, aber
auf keinen Fall mit Staatshaftung. Allen Pisa-Blamagen zum Trotz.
Alles, was mit genau zurechenbarer Staatshaftung zu tun hat,
muss unterdrückt werden, am besten durch pseudale Selbstkritik.
„Die Gründe für die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers sind
ebenso banal wie skandalös: Man befürchtet durch eine transparente und
konsequentere Gesetzgebung höhere finanzielle Belastungen der öffentlichen
Haushalte“, meinte Kluth 2011. Da hat sich seitdem nichts geändert.
Als dann 2020 das Virus den Staat zum Handeln zwang, kam es
– so das Bundesverfassungsgericht am 20. April 2020 – zu „überaus
schwerwiegenden Eingriffe“ in diverse Grundrechte. Es verlangte vor allem die
Beachtung des Gebots der Verhältnismäßigkeit. Das bedeutete konkret eine „präzise
und detaillierte Einzelfallprüfung durch die Verwaltung“, kommentierte die
Kölner Kanzlei Schmitz-DuMont, Wolf die Rechtsprechung auf ihrer Website. Die
Exekutive musste also ganz konkret beweisen, dass das, was sie tat, angemessen war.
Aber das sah die Exekutive locker, sehr locker sogar.
Wortwörlich.
Sie wollte nicht an uns Maß nehmen, sondern wir sollten uns
in ihr Kostüm zwängen. Dass die Regeirung sich dabei selbst eine Falle stellte,
darauf machte der nordrheinwestfälische Verfassungsrichter Claudio Nedden-Boeger
(*1966) im ‚Handelsblatt‘ aufmerksam. So kam es ihm merkwürdig vor, wenn die
Bundesregierung und die Ministerpräsidenten miteinander verabredeten, sie
wollten bei ihrem nächsten Meeting „über weitere Lockerungen“ verhandeln. Das
würde aber den „verfassungsrechtlichen Maßstab verdrehen“, meint Nedden-Boeger:
„Nicht ‚Lockerungen‘ bedürfen einer Beratung und Einigung, sondern im
Gegenteil bedarf die Aufrechterhaltung
der Grundrechtsbeschränkungen einer stetig erneuerten verfassungsrechtlichen
Legitimation.“
Kurzum: an den Rechten der Bürger musste Maß genommen
werden, nicht an den Maßnahmen, die uns bereits als „Neue Normalität“ verkauft
wurden und sich damit der Veranwortung entrückten. Denn das, was normal ist,
kann wohl kaum als eine am Einzelfall aufgehängte Haftung angesehen werden.
Der Philosoph Ernst Bloch würde,
wenn er noch lebte, sagen: die „facultas norma“ ist die Neue Normalität, über
die der Staat wacht. Unsere „Freiheitskräfte“ sind zum Nichtstun verdammt, zur „facultas
non agendi“. Einigkeit und Recht und Vielfalt, das gilt nicht nur für die
‚ARD-Sportschau‘ und deren EM-Trailer.
Die Eigenschaften sind wichtig,
nicht mehr die Menschen an sich. Eigenschaften lassen sich in Big Data
verwandeln, in Objekte der Betrachtung und des gesteuerten Kalküls. Subjekte,
die in ihrer Freiheit in sich ihr ganzes Menschsein vereinen, nicht. Diese
Anerkennung als Subjekt ist die Grundlage allen Vertrauens, darauf basiert
unser Rechtssystem und unsere Demokratie, in der Subjekte zur Wahl gehen. Ganz
persönlich. Hier entscheiden wir mit unserer Stimme und nicht die Fakten und nicht
die Normen, egal, wie stimmig sie gefasst sind.
So läuft das, sagen die Wähler. Und der Staat und die Regerung geraten
mächtig unter Druck.
***
Kein Gericht kann eine Verletzung
von Freiheitsrechten auf Dauer dulden – und dann ist der Schaden da, also
Staatshaftung. Aber auch ohne Verschulden des Staates wird er in Haftung treten
müssen, sagten die Juristen beim Ausbruch der Pandemie, denn die Maßnahmen sind
ein „enteignender Eingriff, der zu entschädigen ist“, befand zum Beispiel der
Berliner Anwalt Andreas Mildenberger.
Jetzt fehlte seiner Meinung nach nur noch ein Gericht, das mutig genug ist, um
entsprechend zu entscheiden.
Dieses Gericht kann natürlich nicht
der Bürgerrat sein, der wird nur vorgeschoben – als Maske, als Tarnung.
Was immer der Bürgerrat empfehlen
würde, entscheiden darf er nichts. Okay.
Er erzeugt auf jeden Fall Öffentlichkeit. Nicht in der Sache, sondern in seiner
bloßen PR-Präsenz. Er ist eine wunderbare Ablenkung. Nicht unsere Rechte sind
hier der absolute Maßstab, sondern das gute Verständnis von Staat, Regierung,
Parlament und Bürger. Letzten Endes ist es nur eine Simulation.
Die Politik zieht dabei den Bürger
optisch mit in die Verantwortung, um ihn damit faktisch für sich selbst zu
vereinnahmen. Der Bürger wird durch diese Form der Partizipation von seinen
Rechten getrennt. Clever. Denn es ist fraglich, ob sich ein solcher Bürgerrat
tatsächlich auf eine knallharte Diskussion über die Einhaltung der Grundrechte
und der damit verbundenen Staatshaftung einlassen wird.
Dabei steht verdammt viel auf dem
Spiel. Es geht „um nicht weniger als die letzte Konsequenz des Schutzes der
Grundrechte in allen Fällen, in denen Rechtsverletzungen durch gerichtlichen
Rechtsschutz oder Folgenbeseitigung nicht mehr verhindert oder rückgängig
gemacht werden können“, hieß es lange vor Corona, 2011, bei dem Rechtsprofessor
Winfried Kluth. „Deshalb ist auch jedes Bekenntnis zu Grundrechten letztlich
inkonsequent, wenn es sich um die staatshaftungsrechtliche Konsequenz drückt.“
Kurzum: der Staat ist nach wie vor uns gegenüber verantwortlich und erst in
zweiter Linie seinen Systemen. Gehandhabt wird es genau umgekehrt.
Es ist eine seltsame Konstellation, an der man irrewerden
könnte (und vielleicht auch werden soll). Lieber streitet sich der Bundestag
über die Veschwendung von Masken als über die Frage nach deren Verwendung. Und
bei dieser Frage weist einer dem anderen die Verantwortung solange zu, bis
keine der Regierungsparteien mehr verantwortlich ist. Die „tagesschau‘ und alle
anderen Nachrichtensundungen aber sind dabei.
Als wenn es darum ginge!
***
Es geht um unsere Grundrechte. An wen oder was sollen wir
uns bei ihnen halten? Hinter unserer Maske, die zu tragen höchste persönliche
Verpflichtung wurde, galten wir zwar nach wie vor als Subjekt, also als selbstbestimmt,
als facultas agendi. Aber vor der Maske waren wir mundtot. Da waren wir nur
noch Objekt, fremdbestimmt, facultas norma. Hier bestimmte der Staat, aber er
haftete nicht. Denn er agierte ja nur technisch, rational, notwendig.
Er zeigte damit seine eigenen Grenzen, die zu überschreiten
ihm eine Lust war. Und nun sehen wir, meinen wir, dass er damit überfordert
war. So wie mit der Flüchtlingspolitik, mit seinen Sozialsystemen, seiner
Wirtschaftspolitik, seiner Umweltpolitik, mit der digitalen Transformation –
eigentlich mit allem, vor allem aber mit sich selbst. Er scheitert sozusagen an
seiner eigenen Vernunft, an seinem eigenen System.
Für den „Staatsmann des ‚technischen Staates‘ ist dieser
Staat weder ein Ausdruck des Volkswillens noch eine Verkörperung der Nation,
weder die Schöpfung Gottes noch das Gefäß einer weltanschaulichen Mission,
weder das Instrument der Menschlichkeit noch das einer Klasse“, meinte 1961 Helmut
Schelsky (1912–1984), dieser ebenso berühmte wie umstrittene Soziologe der
Nachkriegszeit.
Er beschreibt einen Staat, der bis ins letzte Gefüge hinein rational ist.
Aber dieses letzte Gefüge sind wir. Und die Pandemie
verführte das System jenseits allen rationalen Handelns dazu, seine eigene
Macht auszuprobieren. Es ging immerhin um unser Leben, um unseren Kopf. Und der
hatte schon deshalb Maskenpflicht. Damit verwandelten wir uns von einem Subjekt
in ein Objekt.
Denn vor der Maske waren wir alle gleich. Wie vor dem
Gesetz. Ohne Ausnahme.
Nun war uns der Staat so nah wie nie zuvor. Das Leben hinter
der Maske überließ man den Social Medias, den Alphas, Metas und Zooms. Sie
hielten unsere vorwitzigen Augen und Ohren, Münder und Finger mit ihren Medien
besetzt und beschäftigt. Da durften wir Mensch sein, da waren wir privat. Da
waren wir ohne physischen Kontakt.
Aber kaum waren wir außerhalb, klebte der Staat sich an
unseren Mund. Doch weiter als dieses Stück Stoff kam er nicht. Das Tragen der
Maske konnte er befehlen, das Impfen jedoch nur empfehlen. Denn uns unter die
Haut zu gehen, traute er sich nicht. Da war die Grenze. Aus Respekt vor unseren
Grundrechten?
Zweifel sind angebracht. Denn hätte die Regierung und der
Bundestag das Impfen befohlen, wären sie voll in die Verantwortung genommen
worden. Der Staat würde dann für jeden Impfschaden haften müssen. So erfuhren
wir am 1. Februar 2021 aus der Zeitung, dass Haftungsfragen eine große Rolle
spielten beim Erwerb des Impfstoffs. „Soweit über die Verhandlungen diskutiert
wurde, überwogen Forderungen, die EU dürfe nicht zu viel Geld ausgeben und
müsse dafür sorgen, dass die EU-Staaten nicht für mögliche Nebenwirkungen
haftbar gemacht würden“, kommentierte damals die ‚FAZ‘.
Aha!
Die Maske rettete den Staat vor einer solchen Verantwortung.
Sie war nicht mehr nur der Stoff, durch den wir sprechen und atmen konnten,
sondern ein Stück haftungsfreie Staatsmacht. „Staatsschutz“ möchte man spontan sagen,
wenn einem nicht bei diesem Wort der Atem stocken würde.
„Apparaturgesetzmäßigkeit“ nannte es der Soziologe Schelsky.
Sie schützt nicht nur uns, sondern die anderen auch vor uns. Unser Atem war,
ohne dass wir auch nur ein einziges Wort gesagt hatten, potentiell lebensgefährlich.
Die Maske mein Vormund. Ein Symbol. Hegel würde sagen: Sie ist wirklich, weil
vernünftig. Sie schützt Staat und Individuum – also genau die Konstellation,
auf die wir seit 200 Jahren zutreiben. Die Gesellschaft, jene pluralistisch
gestimmte, anarchische Antithese in der Dialektik Hegels, verschwindet, wird
zum Bürgerrat kastriert.
Der Staat hatte für einen Moment freie Bahn ohne Einsatz von
dikatorischer Gewalt das auszuprobieren, was ihm systemimmanent ist: die totale
Kontrolle. Direkt an unsere Nase, unterhalb unserer Augen, an unseren Mund, heftete
sich die höchste aller irdischen, menschengeschaffenen Institutionen. Im
Gummizug befestigt an meiner durch Einsicht in die Vernunft diktierte Hörigkeit:
der Staat.
Näher ging es kaum, auch wenn uns der gesundheitsamtliche Staat
zu Testzwecken sogar in Rachen und Nase griff. Er stieß durch die Maske
hindurch.
Doch beim Impfen, wenn er – im Bewusstsein einer möglichen Verletzungsgefahr
– mit der Spritze unter unsere Haut wollte, zögerte er. Und wieder spielte ihm der
Fortchritt in die Hände. Bevor wir lange darüber nachdachten, ob wir uns impfen
lassen sollten oder nicht, offerierte er uns Alternativen – zwischen
verschiedenen Impf-Stoffen. Wir hatten
die Wahl. Wunderbar. Und wer extrem dachte, sich icht impfen ließ, dem stocherte
der Staat weiterhin im Mund herum. Der zweitbeste Bürger war der getestete Bürger.
Der beste war der geimpfte.
Aber egal, wie man sich entschied: Es herrschte überall Maskenpflicht,
nur nicht vor dem Bildschirm. Zuhause.
Arnold Gehlen (1904–1976), deutscher Anthropologe und Soziologe, hätte, wenn er denn noch gelebt
hätte, all dies mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Er hätte in diesen Zeiten
der Pandemie vollendet gesehen, wie durch den Staat und dessen Institutionen der
„Verdampfungsniederschlag“ (Gehlen) unseres biologischen Lebens mehr und mehr gehemmt
und gedämmt wurde. Er würde kopfnickend
sich anschauen, wie der Staat und seine Institutionen sich um alles kümmerten. Die
„Hintergrundserfüllung“, wie er es nannte, die gesamte Logistik der täglichen
Versorgung, die Entwicklung, den Transports, die Verteilung des Impfstoffes –
alles funktionierte derart lautlos, dass wir die hochentwickelten Mechanismen gar
nicht mehr wahrnahmen.
Die Bewältigung der Pandemie – ein Paradebeispiel dafür, wie
man sich der Haftung entzieht und damit auch eine Diskussion um unser Leben.
Morgen spielt Deutschland gegen Dänemark. Wir sehen uns vor dem Bildschirm.