Samstag, 29. Juni 2024

Zum Tage

 1989: »Kein Politiker ist zu beneiden, ist ihm einmal bewusst, mit welcher Materie er zu arbeiten hat, gibt es doch nichts Unberechenbareres als Gefühle, nichts Gefährlicheres als das Gefühl der Gefühle, den Patriotismus.«

Friedrich Dürrenmatt (19211990), Schweizer Schriftsteller[1]

Freitag, 28. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 52) (Der Staat und wir)

»Allgemeine Begriffe und großer Dünkel sind immer auf dem Wege, entsetzliches Unheil anzurichten.«

Johann Wolfgang von Goethe (1749
1832), deutscher Dichterfürst

 

Der Staat haftet nicht

Von Raimund Vollmer

 

 

Rund 30 Prozent der Menschen in Deutschland sind unzufrieden mit der Demokratie. Eine Verdoppelung seit 2021. Dies ermittelte im Juni 2024 das Allensbacher Institut für Demoskopie. 

Nicht gut. Überhaupt nicht gut.[1]

Diese Unzufriedenheit hindert uns indes nicht daran, zur Wahl zu gehen. Fast schon auf Rekordniveau war 2024 die Beteiligung der Deutschen bei den Wahlen zu dem ansonsten doch so fernen Europaparlament. Wie kommt das? So viel Demokratie war hier schon lange nicht mehr. Denn auch auch auf Bundesebene steigt seit 2009 wieder die Wahlbeteiligung. Erreichte sie vor 15 Jahren mit 70,8 Prozent ihren absoluten Tiefpunkt, so stieg sie 2021 auf 76,4 Prozent. Niemand würde sich wundern, wenn die Beteiligung wieder die 80er Marke reißen würde, die bis 1998 eigentlich bei elf von 14 Wahlen für unser Land selbstverständlich gewesen war. Seitdem allerdings nicht mehr.

Zurück zur Zukunft also? Die Antwort wäre für das Parteien-Establishment alles andere als angenehm. Offensichtlich wollen die Wähler der Politik und dem Staat Beine machen. Links und vor allem rechts. Wohl nicht nur in Brüssel und Straßburg, sondern auch und ganz besonders in Berlin.

Nicht gut. Überhaupt nicht gut. Denn die Menschen sind unzufrieden.

***

Rund 70 Prozent der Menschen in Deutschland halten den Staat für überfordert. Dass der Staat mit seinen Aufgaben klar käme, war im Jahr 2020 noch die Behauptung von 56 Prozent der Bürger. Nun trauen ihm dies mehr als zwei Drittel der Menschen nicht mehr zu. So berichtet der Deutsche Bamtenbund im Juni 2024 über das Ergebnis seiner alljährlich vom Forsa-Institut durchgeführten Umfrage.[2]

Nicht gut. Überhaupt nicht gut.

***

Denn darin sehen unsere Beamten eine „Gefahr für die Demokratie“, sagt der Vorsitzende des DBB, Ulrich Silberbach. Ob diese Gefahr in der Überforderung des Staates oder in dem wachsenden Misstrauen der Bürger liegt, ist daraus nicht erkennbar. Auf jeden Fall kann ein überforderter Staat auf Dauer auch keine Verantwortung mehr übernehmen.

Nicht gut. Überhaupt nicht gut.

***

 

Es geht in der Tat um Verantwortung. Ein unangenehmes Thema, dem man am liebsten aus dem Wege geht. Wozu hat man denn den großen Apparat, bei dem man die Verantwortung für alles und jedes hin und her schieben kann!

Denn Verantwortung ist ein Thema, das ihn, den Staat, auf ein Gebiet treibt, bei dem schon „seit Jahrzehnten Handlungsbedarf besteht: beim Staatshaftungsrecht“, schrieb 2011 der Rechtswissenschaftler Winfried Kluth (*1959).[3]

Doch hier tut und tat sich nichts, obwohl die Staatshaftung während der Pandemie nach dem Erlass des Infektionsschutzgesetzes eigentlich eine zentrale Bedeutung haben müsste – vor allem vor dem Hintergrund, dass sich im Nachhinein bestimmte Maßnahmen als nicht gerechtfertigt erweisen sollten oder wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprachen. Ein ziemlich heißes Eisen, das niemand gerne anpacken möchte – und Kanzler Olaf Scholz wohl nur für das Bildungssystem gelten lassen möchte.  Wenn es denn in der Retrospektive auf die Pandemie etwas zuzugeben wäre, „dann haben wir in Deutschland die Schulen mehr geschlossen als in anderen Ländern, und das war sicherlich nicht die richtige Entscheidung“, meinte der Kanzler im Juni 2024.[4]

Für die Bildung ihrer Bürger haften weder Staat noch Regierung.

Das ist gut. Das ist sehr gut.

***

So wird man Verantwortung los. Denn bei den Schulen teilt sich der Staat die Verantwortung vor allem mit den Bundesländern, die bislang ihren Hoheitsanspruch auf das Bildungssystem eifersüchtig bewachten. Mit Verantwortung hat das nichts zu tun, mehr mit Macht und noch mehr mit Geld, aber auf keinen Fall mit Staatshaftung. Allen Pisa-Blamagen zum Trotz.

Alles, was mit genau zurechenbarer Staatshaftung zu tun hat, muss unterdrückt werden, am besten durch pseudale Selbstkritik.   

„Die Gründe für die Untätigkeit des Bundesgesetzgebers sind ebenso banal wie skandalös: Man befürchtet durch eine transparente und konsequentere Gesetzgebung höhere finanzielle Belastungen der öffentlichen Haushalte“, meinte Kluth 2011. Da hat sich seitdem nichts geändert.

 

Als dann 2020 das Virus den Staat zum Handeln zwang, kam es – so das Bundesverfassungsgericht am 20. April 2020 – zu „überaus schwerwiegenden Eingriffe“ in diverse Grundrechte. Es verlangte vor allem die Beachtung des Gebots der Verhältnismäßigkeit. Das bedeutete konkret eine „präzise und detaillierte Einzelfallprüfung durch die Verwaltung“, kommentierte die Kölner Kanzlei Schmitz-DuMont, Wolf die Rechtsprechung auf ihrer Website. Die Exekutive musste also ganz konkret beweisen, dass das, was sie tat, angemessen war.

Aber das sah die Exekutive locker, sehr locker sogar. Wortwörlich.

Sie wollte nicht an uns Maß nehmen, sondern wir sollten uns in ihr Kostüm zwängen. Dass die Regeirung sich dabei selbst eine Falle stellte, darauf machte der nordrheinwestfälische Verfassungsrichter Claudio Nedden-Boeger (*1966) im ‚Handelsblatt‘ aufmerksam. So kam es ihm merkwürdig vor, wenn die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten miteinander verabredeten, sie wollten bei ihrem nächsten Meeting „über weitere Lockerungen“ verhandeln. Das würde aber den „verfassungsrechtlichen Maßstab verdrehen“, meint Nedden-Boeger: „Nicht ‚Lockerungen‘ bedürfen einer Beratung und Einigung, sondern im Gegenteil  bedarf die Aufrechterhaltung der Grundrechtsbeschränkungen einer stetig erneuerten verfassungsrechtlichen Legitimation.“[5]

Kurzum: an den Rechten der Bürger musste Maß genommen werden, nicht an den Maßnahmen, die uns bereits als „Neue Normalität“ verkauft wurden und sich damit der Veranwortung entrückten. Denn das, was normal ist, kann wohl kaum als eine am Einzelfall aufgehängte Haftung angesehen werden.

Der Philosoph Ernst Bloch würde, wenn er noch lebte, sagen: die „facultas norma“ ist die Neue Normalität, über die der Staat wacht. Unsere „Freiheitskräfte“ sind zum Nichtstun verdammt, zur „facultas non agendi“. Einigkeit und Recht und Vielfalt, das gilt nicht nur für die ‚ARD-Sportschau‘ und deren EM-Trailer.

Die Eigenschaften sind wichtig, nicht mehr die Menschen an sich. Eigenschaften lassen sich in Big Data verwandeln, in Objekte der Betrachtung und des gesteuerten Kalküls. Subjekte, die in ihrer Freiheit in sich ihr ganzes Menschsein vereinen, nicht. Diese Anerkennung als Subjekt ist die Grundlage allen Vertrauens, darauf basiert unser Rechtssystem und unsere Demokratie, in der Subjekte zur Wahl gehen. Ganz persönlich. Hier entscheiden wir mit unserer Stimme und nicht die Fakten und nicht die Normen, egal, wie stimmig sie gefasst sind.

So läuft das, sagen die Wähler.  Und der Staat und die Regerung geraten mächtig unter Druck.

***

Kein Gericht kann eine Verletzung von Freiheitsrechten auf Dauer dulden – und dann ist der Schaden da, also Staatshaftung. Aber auch ohne Verschulden des Staates wird er in Haftung treten müssen, sagten die Juristen beim Ausbruch der Pandemie, denn die Maßnahmen sind ein „enteignender Eingriff, der zu entschädigen ist“, befand zum Beispiel der Berliner Anwalt Andreas Mildenberger.[6] Jetzt fehlte seiner Meinung nach nur noch ein Gericht, das mutig genug ist, um entsprechend zu entscheiden.

Dieses Gericht kann natürlich nicht der Bürgerrat sein, der wird nur vorgeschoben – als Maske, als Tarnung.  

Was immer der Bürgerrat empfehlen würde, entscheiden darf er nichts.  Okay. Er erzeugt auf jeden Fall Öffentlichkeit. Nicht in der Sache, sondern in seiner bloßen PR-Präsenz. Er ist eine wunderbare Ablenkung. Nicht unsere Rechte sind hier der absolute Maßstab, sondern das gute Verständnis von Staat, Regierung, Parlament und Bürger. Letzten Endes ist es nur eine Simulation.

Die Politik zieht dabei den Bürger optisch mit in die Verantwortung, um ihn damit faktisch für sich selbst zu vereinnahmen. Der Bürger wird durch diese Form der Partizipation von seinen Rechten getrennt. Clever. Denn es ist fraglich, ob sich ein solcher Bürgerrat tatsächlich auf eine knallharte Diskussion über die Einhaltung der Grundrechte und der damit verbundenen Staatshaftung einlassen wird.

Dabei steht verdammt viel auf dem Spiel. Es geht „um nicht weniger als die letzte Konsequenz des Schutzes der Grundrechte in allen Fällen, in denen Rechtsverletzungen durch gerichtlichen Rechtsschutz oder Folgenbeseitigung nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht werden können“, hieß es lange vor Corona, 2011, bei dem Rechtsprofessor Winfried Kluth. „Deshalb ist auch jedes Bekenntnis zu Grundrechten letztlich inkonsequent, wenn es sich um die staatshaftungsrechtliche Konsequenz drückt.“ Kurzum: der Staat ist nach wie vor uns gegenüber verantwortlich und erst in zweiter Linie seinen Systemen. Gehandhabt wird es genau umgekehrt.

Es ist eine seltsame Konstellation, an der man irrewerden könnte (und vielleicht auch werden soll). Lieber streitet sich der Bundestag über die Veschwendung von Masken als über die Frage nach deren Verwendung. Und bei dieser Frage weist einer dem anderen die Verantwortung solange zu, bis keine der Regierungsparteien mehr verantwortlich ist. Die „tagesschau‘ und alle anderen Nachrichtensundungen aber sind dabei.

Als wenn es darum ginge!

***

Es geht um unsere Grundrechte. An wen oder was sollen wir uns bei ihnen halten? Hinter unserer Maske, die zu tragen höchste persönliche Verpflichtung wurde, galten wir zwar nach wie vor als Subjekt, also als selbstbestimmt, als facultas agendi. Aber vor der Maske waren wir mundtot. Da waren wir nur noch Objekt, fremdbestimmt, facultas norma. Hier bestimmte der Staat, aber er haftete nicht. Denn er agierte ja nur technisch, rational, notwendig.

Er zeigte damit seine eigenen Grenzen, die zu überschreiten ihm eine Lust war. Und nun sehen wir, meinen wir, dass er damit überfordert war. So wie mit der Flüchtlingspolitik, mit seinen Sozialsystemen, seiner Wirtschaftspolitik, seiner Umweltpolitik, mit der digitalen Transformation – eigentlich mit allem, vor allem aber mit sich selbst. Er scheitert sozusagen an seiner eigenen Vernunft, an seinem eigenen System.

Für den „Staatsmann des ‚technischen Staates‘ ist dieser Staat weder ein Ausdruck des Volkswillens noch eine Verkörperung der Nation, weder die Schöpfung Gottes noch das Gefäß einer weltanschaulichen Mission, weder das Instrument der Menschlichkeit noch das einer Klasse“, meinte 1961 Helmut Schelsky (1912–1984), dieser ebenso berühmte wie umstrittene Soziologe der Nachkriegszeit.[7] Er beschreibt einen Staat, der bis ins letzte Gefüge hinein rational ist.

Aber dieses letzte Gefüge sind wir. Und die Pandemie verführte das System jenseits allen rationalen Handelns dazu, seine eigene Macht auszuprobieren. Es ging immerhin um unser Leben, um unseren Kopf. Und der hatte schon deshalb Maskenpflicht. Damit verwandelten wir uns von einem Subjekt in ein Objekt.

Denn vor der Maske waren wir alle gleich. Wie vor dem Gesetz. Ohne Ausnahme.  

Nun war uns der Staat so nah wie nie zuvor. Das Leben hinter der Maske überließ man den Social Medias, den Alphas, Metas und Zooms. Sie hielten unsere vorwitzigen Augen und Ohren, Münder und Finger mit ihren Medien besetzt und beschäftigt. Da durften wir Mensch sein, da waren wir privat. Da waren wir ohne physischen Kontakt.

Aber kaum waren wir außerhalb, klebte der Staat sich an unseren Mund. Doch weiter als dieses Stück Stoff kam er nicht. Das Tragen der Maske konnte er befehlen, das Impfen jedoch nur empfehlen. Denn uns unter die Haut zu gehen, traute er sich nicht. Da war die Grenze. Aus Respekt vor unseren Grundrechten?

Zweifel sind angebracht. Denn hätte die Regierung und der Bundestag das Impfen befohlen, wären sie voll in die Verantwortung genommen worden. Der Staat würde dann für jeden Impfschaden haften müssen. So erfuhren wir am 1. Februar 2021 aus der Zeitung, dass Haftungsfragen eine große Rolle spielten beim Erwerb des Impfstoffs. „Soweit über die Verhandlungen diskutiert wurde, überwogen Forderungen, die EU dürfe nicht zu viel Geld ausgeben und müsse dafür sorgen, dass die EU-Staaten nicht für mögliche Nebenwirkungen haftbar gemacht würden“, kommentierte damals die ‚FAZ‘.[8]

Aha!

Die Maske rettete den Staat vor einer solchen Verantwortung. Sie war nicht mehr nur der Stoff, durch den wir sprechen und atmen konnten, sondern ein Stück haftungsfreie Staatsmacht. „Staatsschutz“ möchte man spontan sagen, wenn einem nicht bei diesem Wort der Atem stocken würde.

„Apparaturgesetzmäßigkeit“ nannte es der Soziologe Schelsky. Sie schützt nicht nur uns, sondern die anderen auch vor uns. Unser Atem war, ohne dass wir auch nur ein einziges Wort gesagt hatten, potentiell lebensgefährlich. Die Maske mein Vormund. Ein Symbol. Hegel würde sagen: Sie ist wirklich, weil vernünftig. Sie schützt Staat und Individuum – also genau die Konstellation, auf die wir seit 200 Jahren zutreiben. Die Gesellschaft, jene pluralistisch gestimmte, anarchische Antithese in der Dialektik Hegels, verschwindet, wird zum Bürgerrat kastriert.

Der Staat hatte für einen Moment freie Bahn ohne Einsatz von dikatorischer Gewalt das auszuprobieren, was ihm systemimmanent ist: die totale Kontrolle. Direkt an unsere Nase, unterhalb unserer Augen, an unseren Mund, heftete sich die höchste aller irdischen, menschengeschaffenen Institutionen. Im Gummizug befestigt an meiner durch Einsicht in die Vernunft diktierte Hörigkeit: der Staat.

Näher ging es kaum, auch wenn uns der gesundheitsamtliche Staat zu Testzwecken sogar in Rachen und Nase griff. Er stieß durch die Maske hindurch.

Doch beim Impfen, wenn er – im Bewusstsein einer möglichen Verletzungsgefahr – mit der Spritze unter unsere Haut wollte, zögerte er. Und wieder spielte ihm der Fortchritt in die Hände. Bevor wir lange darüber nachdachten, ob wir uns impfen lassen sollten oder nicht, offerierte er uns Alternativen – zwischen verschiedenen Impf-Stoffen. Wir  hatten die Wahl. Wunderbar. Und wer extrem dachte, sich icht impfen ließ, dem stocherte der Staat weiterhin im Mund herum. Der zweitbeste Bürger war der getestete Bürger. Der beste war der  geimpfte.

Aber egal, wie man sich entschied: Es herrschte überall Maskenpflicht, nur nicht vor dem Bildschirm. Zuhause.

Arnold Gehlen (1904–1976), deutscher Anthropologe  und Soziologe, hätte, wenn er denn noch gelebt hätte, all dies mit großer Aufmerksamkeit beobachtet. Er hätte in diesen Zeiten der Pandemie vollendet gesehen, wie durch den Staat und dessen Institutionen der „Verdampfungsniederschlag“ (Gehlen) unseres biologischen Lebens mehr und mehr gehemmt und gedämmt wurde.  Er würde kopfnickend sich anschauen, wie der Staat und seine Institutionen sich um alles kümmerten. Die „Hintergrundserfüllung“, wie er es nannte, die gesamte Logistik der täglichen Versorgung, die Entwicklung, den Transports, die Verteilung des Impfstoffes – alles funktionierte derart lautlos, dass wir die hochentwickelten Mechanismen gar nicht mehr wahrnahmen.

Die Bewältigung der Pandemie – ein Paradebeispiel dafür, wie man sich der Haftung entzieht und damit auch eine Diskussion um unser Leben.

Morgen spielt Deutschland gegen Dänemark. Wir sehen uns vor dem Bildschirm.


Donnerstag, 27. Juni 2024

Zum Tage

 

„Weise ist der Mensch, der nicht den Dingen nachtrauert, die er nicht besitzt, sdondern sich der Dinge erfreut, die er hat.“

Epiktet (50-138), griechischer Philosoph

 

 

Mittwoch, 26. Juni 2024

Zum Tage

 

1974: »Das Wichtigste ist all jenen großen Propheten zu misstrauen, die eine Patentlösung in der Tasche haben und euch sagen, dass ‚ihr, wenn ihr mir volle Gewalt gebt, werde ich euch in den Himmel führen‘.«

Sir KarlRaimund Popper (19021994), österreichischbritischer Philosoph

Dienstag, 25. Juni 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 51) (Der Staat und wir)


 "Einigkeit und Recht und Vielfalt."

Sportschau-Titel eines Trailers zur Europameisterschaft 2024 in Deutschland

The Good,
the Bad and
The Ugly

 Von Raimund Vollmer

 

Ein Bürgerrat soll her. Corona muss aufgearbeitet werden. Da sind sich alle einig. Nur das Wie ist die große Frage. Da uns allmählich dämmert, dass es sich bei dem Bürgerrat um eine neue sozialpädagogische Inszenierung handelt, wundert es nicht, dass sich diese neue Form einer pseudodemokratischen Institution besonders bei SPD und Grünen zunehmender Beliebtheit erfreut. Eine Enquete-Kommission wünscht sich stattdessen die FDP. Das sei der Goldstandard, sagt sie. [1]  Eine solche Kommission bringt Fachleute und Politik zusammen, ohne einander wehzutun. Man gereicht sich gegenseitig zur Ehre.

Noch weicher gespült werden die Ergebnisse, die harten Fakten, in einem Bürgerrat. Denn der besteht auf einem reinen PR-Effekt. Demonstriert wird hier vor allem, wenn nicht gar ausschließlich, wie gut sich Bürger und Politik verstehen – als käme es allein darauf an. Überhaupt scheint es irgendwie so zu sein, dass Friede, Freude, Eierkuchen die Merkmale einer wahren Demokratie werden. Man könnte auch „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ anstimmen, wie es ein kitschiger Trailer der „Sportschau“ zur EM 2024 verheißt. Freiheit wird ersetzt durch Vielfalt. Ja, die Vielfalt ersetzt die Freiheit, sie ersetzt die Demokratie, der so viele äußerst sittsame Gremien gewährt werden, bis am Ende die im Grundgesetz angelegte Exekutiv-Demokratie ihre Vollendung findet in einer alles regulierenden Bürokratie.

The Good.

Und das Schlimme ist, wir haben gar keine andere Chance, als das gut zu finden. Denn nur dann gehören wir selbst zu den Guten. Gestritten wird bald nur noch um das Wie, nicht mehr um das Was. Alles wird Lebenshilfe. Für alles gibt es Regeln, die auf Studien basieren, die auf Studien basieren. Und Studien sind die primäre Vorstufe zu Verordnungen, denen sich sogar unsere guten Gesetze unterordnen müssen.

The Bad.

Die Demokratie entfremdet die Demokratie. Doch und wer das behauptet, steht im Verdacht, schon kein Demokrat mehr zu sein.

And the Ugly.

So werden sich die Ampel-Parteien um das Wie der Corona-Aufarbeitung solange streiten,  bis diese Legislaturperiode zu Ende ist, befürchetet die CDU/CSU. Das ist wohl das eigentliche Ziel des Streits. Das ist der Grund für den Ruf nach einem Bürgerrat.

Eine Pseudordnung waltet, reine „Stoffdenkerei“, um mit dem Philosophen Ernst Bloch zu reden. Man verpackt Kritik institutionell hinter der Ehre der Teilnahme, so dass man sich als Bürger oder als Experte gar nicht mehr traut, hart und kritisch zu sein und dies auch noch zu äußern. Der gezähmte Bürger, der domestizierte Experte wird uns vorgeführt.So kennen wir ihn ja schon aus den Talkrunden. Wir sind an dieses Muster der aufgeregten Belanglosigkeiten bereits geöhnt.

Eine echte Auseinandersetzung über die Pandemie wird es nicht geben. Denn wir  waren ja selbst für die massiven Eingriffe in die Bürgerrechte. Das war schon fast Staatsräson. Die Herrschaft hatte die Zustimmung durch die Beherrschten, um eine Demokratieformel von Hans Magnus Enzensberger zu verwenden. Der Autor dieser Zeilen gehörte dazu. 

Nur hat die Herrschaft nicht mitbekommen, wann ihr die Beherrschten die Herrschaft entzogen.

„Mit überwältigender Zustimmung von Bevölkerung und Medien wurde da in einer Weise in die Grundrechte eingegriffen, wie ich es mir vorher nicht hätte vorstellen können“, meinte jüngst in der NZZ der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier. Ja, wir, die Bürger, waren lange Zeit sehr einsichtig. Und wer es nicht war, der war als Querdenker diskreditiert. Aus dem positiv belegten Begriff des Querdenkers wurde nach und nach der Querulant. Und nachdem sich der neue Querdenker geschaffen hatte, war er auch nicht mehr wegzudenken – aus dem Kalkül der Herrschaft. Nur ging das schief.

Wir leiden unter der Herrschaft der falschen „Stoffdenker“. Sie meinen: Alles, was die Herrschaft ärgern könnte, muss sorgfältig eingepackt und isoliert werden. Divide et impera! Herrsche und teile! Die alte römische Forderung findet ihre moderne Entsprechnung, die nicht mehr im Widerstreit von Interessen ihren Vorteil für den Dritten sieht, sondern in der Aufsplitterung und Isolation vieler kleiner, so weit voneinander liegenden Problemfelder, dass sie sich nicht mehr unter einen Hut bringen lassen.

Das Problem hinter dieser Lösung: Da muss nur einer kommen und diese Protestpartikel völlig unsortiert aufsammeln – und schon hat man die Rechtsnationalen. Nicht nur in Deutschland, Italien und Frankreich…

***

Das ist es, was uns Corona lehrte, das ist es, was Corona brachte: Der „Stoffdenker“ ist der große Gegenspieler zum sogenannten „Querdenker“, der sich den Stoff vom Munde reißt und seine Grundrechte über die der Gemeinschaft stellt. Der „Querdenker“ ist der Antagonist. „Seinen Mund aufzumachen“, wie es noch 1999 der französische Soziologe Pierre Bourdieu (1930–2002) in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Günter Grass (1927–2015) wiederholt von uns forderte, ist derweil vor dem Gesetz und seiner Überordnungen, den Verordnungen, unmöglich geworden. Alles ist, alles wird maskiert, unsere Sprache, unsere Stimme, diese uns von allen anderen Lebewesen unterscheidende  Eigenschaft, klingt nur noch dumpf und stumpf.[2] Klar ist nur noch das, was elektronisch vermittelt ist. Wenigstens das! Keimfrei. Zoom sei Dank!

Wir tun so, als würde die Digitalisierung die Welt wieder einigen. In Wirklichkeit ist sie eine Aufforderung zur Unmündigkeit. Uns gibt es nur noch als normierte Subjekte.

Was soll’s? Zu sagen hatten wir ohnehin wenig, schon gar nichts gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus. Nur ein paar Unentwegte, Unbelehrbare muckten noch auf. Um mit Bloch zu sprechen,  es standen „die Freiheitskräfte (facultas agendi) hier, den Ordnungsmächten (facultas norma) dort“ unversöhnlich gegenüber. Querdernker versus Stofflenker.

Und weil man weder rechtsnational sein möchte, noch als Querdenker klassifiziertsein möchte, haben wir uns ergeben. Alles, was wir tun, ist fortan umfangen von unserem Staat, der alles umhüllt.

Es ist ein Spiel mit dem Feuer.