Die Macht der Kartelle
Von Raimund Vollmer (1995)
»Das lernt sich in diesem Gewerbe recht, dass man so klug sein kann wie die Klugen dieser Welt, und doch jederzeit in die nächste Minute geht wie ein Kind ins Dunkle.«Otto von Bismarck, 1864 über Politik
»Das Erwerbsleben des ganzen großen Deutschen Reiches scheint sich in eine riesige Aktiengesellschaft verwandeln zu wollen.«Gustaf von Mevissen, Bankier und Präsident der Eisenbahngesellschaft über die Gründerjahre
Noch 1992 schrieb Lester Thurow, Dekan der Sloan School für Management am Massachusetts Institute of Technology: »Deutschland, die dominierende europäische Wirtschaftsmacht, ist ein Verfechter der sozialen Marktwirtschaft. Der Bund und die Länderregierungen besitzen in Deutschland mehr Anteile an Industrien Fluglinien, Autohersteller, Stahl, Chemie, Stromerzeugung, Transportwesen als irgendein anderes nichtkommunistisches Land auf dem gesamten Globus.«
Mark & Bismarck. Und dieses Modell hat eine große Tradition. Seine Ursprünge reichen zurück in das Ende des 18. Jahrhunderts. Damals war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein Gebilde, das aus 314 souveränen Territorien und Städten bestand. Hinzu kamen 1475 freie Reichsritterschaften. Er war in sich zersplittert und politisch höchst fragil. »Jeder Teilstaat hatte das verbriefte Recht, sich mit ausländischen Mächten gegen einen anderen deutschen Staat zu verbünden«, schreibt Wolfgang Zank 1991 in der Wochenzeitung Die Zeit. »Der politischen Zersplitterung entsprach die wirtschaftliche. Die deutschen Münzsysteme, Maßeinheiten und Rechtssysteme bildeten ein unüberschaubares Mosaik, und etwa 1800 Zollschranken behinderten in Mitteleuropa den Handel.« Und so war es kein Wunder, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem »Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers« darauf drängten, »die wirtschaftliche Zersplitterung zu beseitigen. Die Märkte waren noch klein und voneinander abgeschottet, aber industrielle Produktion wurde erst bei größeren Stückzahlen rentabel. Je mehr die industrielle Revolution voranschritt, desto mächtiger und einflußrei-cher wurde die Bourgeoisie, die allein schon aus wirtschaftlichen Gründen ein einiges Deutschland anstrebte.« Es kam 1834 zum Deutschen Zollverein, dem 1842 bereits 28 der 39 Staaten des Deutschen Bundes angehörten. Und ein Jahr später, 1835, startet die erste deutsche Eisenbahn zu ihrer Jungfernfahrt von Nürnberg nach Fürth. Ende der sechziger Jahre setzte dann im Nord-deutschen Bund eine liberale Gesetzgebung unter Kanzleramtschef Rudolf von Dellbrück ein, der die Zollpolitik weitertrieb, das Wirtschaftsrecht vereinheitlichte, das Postwesen reformierte und das Maß und Gewichtssystem vereinfachte. Das Dezimalsystem wurde eingeführt, sämtliche gesetzlichen Zinsbeschränkungen wurden abgeschafft und »vor allem die Gewerbe und Koalitionsfreiheit durchgesetzt«, erinnert 1990 Wolfram Weimer in der Frank-furter Allgemeine Zeitung an diese Phase. So wurde wirtschaftlich vorbereitet, was politisch noch nachvollzogen werden mußte: die Einigung des Landes.
Dieses Ziel erfüllte sich mit der Gründung des Deutschen Reiches am Mittwoch, 18. Januar 1871, als im Spiegelsaal von Versailles der König von Preußen Wilhelm I. feierlich zum Kaiser proklamiert wurde. Anwesend war dabei der Hochadel und das Militär, aber wie Zank erinnert »kein Fabrikant oder Eisenbahningenieur war geladen, obwohl sie es waren, die das Reich zuvor materiell verbunden hatten. Schulmeister und Dichter hatten Deutsch-land kulturell zusammengefügt, aber nicht einer von ihnen war in Versailles dabei.«
Dabei war aber Graf Otto von Bismarck, der als »Reichsgründer Gegenstand einer geradezu kultischen Verehrung« (Zank) wurde. Der Graf, der alsbald zum Fürsten aufstieg, wusste selbst nur zu genau, daß er es allein nicht gewesen war, der die Einigung vollbracht hatte. Es waren die wirtschaftlichen Kräfte ge-wesen, die die Grundlagen der Deutschland AG gelegt hatten. Sie hatten sich zuvor um Einheitlichkeit bei Maßen und Gewichten, beim Handels und Straf-recht bemüht und eine Gewerbeordnung durchgesetzt, die mit dem überkommenen Zunftdenken aufräumte.
So war die Reichsgründung nicht nur eine Vereinigung der Länder, sondern auch der Währungen. Der im Norden Deutschlands übliche Taler und der im Süden gebräuchliche Gulden wurden in einem historischen Kompromiß zur Mark vereinigt.
Nach dem Sieg von 1871 über Frankreich, das fünf Milliarden Franken oder umgerechnet vier Milliarden Goldmark an Kriegsentschädigung zahlen mußte, schwamm das Deutsche Reich in Geld. Zwischen 1850 und 1875 stieg der Geldumlauf in Preußen von 18 Millionen auf 290 Millionen Taler. Es wurde aber auch eine gewaltige Spekulationswelle losgetreten. Jeder wagte an den Märkten sein Glück, »als ob die Grenzen der menschlichen Dummheit sich ins Unermeßliche erweitert hätten«, wie Heinrich von Treitschke bemerkte.
Es herrschten Gründerjahre. Die Grundstückspreise vervielfachten sich teil-weise um den Faktor 30. Die Gier war grenzenlos. Sie vereinte Bürgertum und Aristokratie. Die Zahl der Aktiengesellschaften schnellte allein 1872 von 207 auf 479 Firmen hoch. Ihr Kapital verdoppelte sich nahezu von 759 Millionen auf 1,478 Milliarden. Zwischen 1871 und 1873 wurden exakt 726 Aktiengesellschaften neu gegründet, 170 davon allein im Montanbereich an Rhein und Ruhr.
Es herrschte ein beispielloser Boom, und die Auftragsbücher waren voll wie nie zuvor. War bis 1870 in Preußen noch keine einzige Bank als Aktiengesellschaft zugelassen, so wurden nach der Novelle des Aktienrechts allein 107 Banken als AGs auf preußischem Boden gegründet. Heutige Namen von Weltgeltung wie die Deutsche Bank (1870), die Commerz und Discontobank (ebenfalls 1870) und die Dresdner Bank (1872) hatten in dieser Zeit ihren Ursprung.
Eine Vervierfachung der Aktienkurse an der Börse war keine Seltenheit. Berlin war innerhalb kürzester Zeit zur Hauptstadt des Kapitals in Europa geworden vor London und Paris. Deutschland schickte sich an, Großbritannien, dem »Initiator der industriellen Revolution«, als »mächtigstes Land der Welt« (Thurow) einzuholen. Und Schriftsteller wie Theodor Fontane, der die stürmische Veränderung der Stadt miterlebt hatte staunte 1872 im Rückblick auf die letzten 50 Jahre, daß er das »Gefühl habe, auf einem anderen Planeten gelebt zu haben.« Immer hektischer wurde das Leben in der Stadt, die 1871 Hauptstadt des Deutschen Reiches geworden war: »Ein industrieller Schwindel hatte die gesamte Gesellschaft erfaßt: die Gründung auf Aktien schossen wie Pilze aus der Erde. Die Ansprüche der Niedrigen und Enterbten steigerten sich mit dem Golddurst der Reichen und begüterten.«
Doch dann kam es am 28. Oktober 1873 an den Börsen zum »Gründer Krach« (Frankfurter Allgemeine Zeitung). Jetzt zeigte sich vor allem, wie verwoben die Weltwirtschaft inzwischen war und wieviele Menschen sich an dieser gigantischen Spekulation beteiligt hatten. Das Zusammenspiel von Weltmarkt und Individuum, das sich in den Boomjahren in schwin-delerregende Höhen hochgeschaukelt hatte, brach zusammen.