Samstag, 4. Januar 2020

Die Gründung der Deutschland AG



Die Macht der Kartelle 
Von Raimund Vollmer (1995)


»Das lernt sich in diesem Gewerbe recht, dass man so klug sein kann wie die Klugen dieser Welt, und doch jederzeit in die nächste Minute geht wie ein Kind ins Dunkle.«
Otto von Bismarck, 1864 über Politik 
 

»Das Erwerbsleben des ganzen großen Deutschen Reiches scheint sich in eine riesige Aktiengesellschaft verwandeln zu wollen.«
Gustaf von Mevissen, Bankier und Präsident der Eisenbahngesellschaft über die Gründerjahre 
 


Noch 1992 schrieb Lester Thurow, Dekan der Sloan School für Management am Massachusetts Institute of Technology: »Deutschland, die dominierende europäische Wirtschaftsmacht, ist ein Verfechter der sozialen Marktwirtschaft. Der Bund und die Länderregierungen besitzen in Deutschland mehr Anteile an Industrien   Fluglinien, Autohersteller, Stahl, Chemie, Stromerzeugung, Transportwesen   als irgendein anderes nichtkommunistisches Land auf dem gesamten Globus.« 
Mark & Bismarck. Und dieses Modell hat eine große Tradition. Seine Ursprünge reichen zurück in das Ende des 18. Jahrhunderts. Damals war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ein Gebilde, das aus 314 souveränen Territorien und Städten bestand. Hinzu kamen 1475 freie Reichsritterschaften. Er war in sich zersplittert und politisch höchst fragil. »Jeder Teilstaat hatte das verbriefte Recht, sich mit ausländischen Mächten gegen einen anderen deutschen Staat zu verbünden«, schreibt Wolfgang Zank 1991 in der Wochenzeitung Die Zeit. »Der politischen Zersplitterung entsprach die wirtschaftliche. Die deutschen Münzsysteme, Maßeinheiten und Rechtssysteme bildeten ein unüberschaubares Mosaik, und etwa 1800 Zollschranken behinderten in Mitteleuropa den Handel.« Und so war es kein Wunder, daß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem »Kaufleute, Fabrikanten und Bankiers« darauf drängten, »die wirtschaftliche Zersplitterung zu beseitigen. Die Märkte waren noch klein und voneinander abgeschottet, aber industrielle Produktion wurde erst bei größeren Stückzahlen rentabel. Je mehr die industrielle Revolution voranschritt, desto mächtiger und einflußrei-cher wurde die Bourgeoisie, die allein schon aus wirtschaftlichen Gründen ein einiges Deutschland anstrebte.«  Es kam 1834 zum Deutschen Zollverein, dem 1842 bereits 28 der 39 Staaten des Deutschen Bundes angehörten. Und ein Jahr später, 1835, startet die erste deutsche Eisenbahn zu ihrer Jungfernfahrt von Nürnberg nach Fürth. Ende der sechziger Jahre setzte dann im Nord-deutschen Bund eine liberale Gesetzgebung unter Kanzleramtschef Rudolf von Dellbrück ein, der die Zollpolitik weitertrieb, das Wirtschaftsrecht vereinheitlichte, das Postwesen reformierte und das Maß  und Gewichtssystem vereinfachte. Das Dezimalsystem wurde eingeführt, sämtliche gesetzlichen Zinsbeschränkungen wurden abgeschafft und »vor allem die Gewerbe  und Koalitionsfreiheit durchgesetzt«, erinnert 1990 Wolfram Weimer in der Frank-furter Allgemeine Zeitung an diese Phase.  So wurde wirtschaftlich vorbereitet, was politisch noch nachvollzogen werden mußte: die Einigung des Landes.
Dieses Ziel erfüllte sich mit der Gründung des Deutschen Reiches am Mittwoch, 18. Januar 1871, als im Spiegelsaal von Versailles der König von Preußen Wilhelm I. feierlich zum Kaiser proklamiert wurde. Anwesend war dabei der Hochadel und das Militär, aber   wie Zank erinnert   »kein Fabrikant oder Eisenbahningenieur war geladen, obwohl sie es waren, die das Reich zuvor materiell verbunden hatten. Schulmeister und Dichter hatten Deutsch-land kulturell zusammengefügt, aber nicht einer von ihnen war in Versailles dabei.« 
Dabei war aber Graf Otto von Bismarck, der als »Reichsgründer Gegenstand einer geradezu kultischen Verehrung« (Zank) wurde.  Der Graf, der alsbald zum Fürsten aufstieg, wusste selbst nur zu genau, daß er es allein nicht gewesen war, der die Einigung vollbracht hatte. Es waren die wirtschaftlichen Kräfte ge-wesen, die die Grundlagen der Deutschland AG gelegt hatten. Sie hatten sich zuvor um Einheitlichkeit bei Maßen und Gewichten, beim Handels  und Straf-recht bemüht und eine Gewerbeordnung durchgesetzt, die mit dem überkommenen Zunftdenken aufräumte.
So war die Reichsgründung nicht nur eine Vereinigung der Länder, sondern auch der Währungen. Der im Norden Deutschlands übliche Taler und der im Süden gebräuchliche Gulden wurden in einem historischen Kompromiß zur Mark vereinigt. 
Nach dem Sieg von 1871 über Frankreich, das fünf Milliarden Franken oder umgerechnet vier Milliarden Goldmark an Kriegsentschädigung zahlen mußte, schwamm das Deutsche Reich in Geld. Zwischen 1850 und 1875 stieg der Geldumlauf in Preußen von 18 Millionen auf 290 Millionen Taler. Es wurde aber auch eine gewaltige Spekulationswelle losgetreten. Jeder wagte an den Märkten sein Glück, »als ob die Grenzen der menschlichen Dummheit sich ins Unermeßliche erweitert hätten«, wie Heinrich von Treitschke bemerkte.
Es herrschten Gründerjahre. Die Grundstückspreise vervielfachten sich teil-weise um den Faktor 30. Die Gier war grenzenlos. Sie vereinte Bürgertum und Aristokratie. Die Zahl der Aktiengesellschaften schnellte allein 1872 von 207 auf 479 Firmen hoch. Ihr Kapital verdoppelte sich nahezu von 759 Millionen auf 1,478 Milliarden. Zwischen 1871 und 1873 wurden exakt 726 Aktiengesellschaften neu gegründet, 170 davon allein im Montanbereich an Rhein und Ruhr.
Es herrschte ein beispielloser Boom, und die Auftragsbücher waren voll wie nie zuvor. War bis 1870 in Preußen noch keine einzige Bank als Aktiengesellschaft zugelassen, so wurden nach der Novelle des Aktienrechts allein 107 Banken als AGs auf preußischem Boden gegründet. Heutige Namen von Weltgeltung wie die Deutsche Bank (1870), die Commerz  und Discontobank (ebenfalls 1870) und die Dresdner Bank (1872) hatten in dieser Zeit ihren Ursprung. 
Eine Vervierfachung der Aktienkurse an der Börse war keine Seltenheit. Berlin war innerhalb kürzester Zeit zur Hauptstadt des Kapitals in Europa geworden   vor London und Paris. Deutschland schickte sich an, Großbritannien, dem »Initiator der industriellen Revolution«, als »mächtigstes Land der Welt« (Thurow) einzuholen.  Und Schriftsteller wie Theodor Fontane, der die stürmische Veränderung der Stadt miterlebt hatte staunte 1872 im Rückblick auf die letzten 50 Jahre, daß er das »Gefühl habe, auf einem anderen Planeten gelebt zu haben.« Immer hektischer wurde das Leben in der Stadt, die 1871 Hauptstadt des Deutschen Reiches geworden war: »Ein industrieller Schwindel hatte die gesamte Gesellschaft erfaßt: die Gründung auf Aktien schossen wie Pilze aus der Erde. Die Ansprüche der Niedrigen und Enterbten steigerten sich mit dem Golddurst der Reichen und begüterten.«  
Doch dann kam es am 28. Oktober 1873 an den Börsen zum »Gründer Krach« (Frankfurter Allgemeine Zeitung).  Jetzt zeigte sich vor allem, wie verwoben die Weltwirtschaft inzwischen war und wieviele Menschen sich an dieser gigantischen Spekulation beteiligt hatten. Das Zusammenspiel von Weltmarkt und Individuum, das sich in den Boomjahren in schwin-delerregende Höhen hochgeschaukelt hatte, brach zusammen.

Freitag, 3. Januar 2020

Blick zurück nach vorn: Bankenlandschaft 1995




Die neue Bankenkrise (revisited)


Von Raimund Vollmer (1995)

In ihren tra­ditionellen Kernge­schäf­ten verändern sich die Märkte der Banken und der Rüstungsindustrie radikal ‑ durch die Elektroni­sierung, durch schrumpfende Margen. Nicht dass die Welt weniger Geld oder weniger Sicherheit braucht, ist der Grund, sondern dass sie bei­des anders organisiert haben möchte. Die alten Waffen verlieren an Wirkung. Bei den Banken sind es Kredite & Filialnetze, bei den Rüstungsbetrieben Schiffe, Panzer & Flug­zeuge. Was beide Bran­chen zudem gemeinsam haben: die Veränderungen finden vor allem in den na­tio­nalen Märkten statt. Besonders deut­lich wurde dies in den USA. Und fängt dort so etwas einmal an, erfasst die Welle die ganze Welt. Hinter alledem vollzieht sich ein Jahrhundertwandel.

»Man kann 1995 nen­nen wie man will, aber eins war es auf jeden Fall: das Jahr der Bank‑Mer­ger«, bringt es das ame­­rikanische Wirt­schaftsmagazin For­tu­ne auf den Punkt. Rund 400 In­sti­tute wurden in den USA aufgekauft oder ver­schmol­zen. Insgesamt flossen dabei 69 Mil­liar­den Dollar. [1]Das ist fast dreimal mehr als 1991, dem bisherigen Rekordjahr bei Bankenübernahmen. Damals waren 24 Milliarden Dol­lar ge­flossen. [2]

Der Grund für diesen Ansturm: die Giganten des Gel­des müssen ihre eigenen lo­ka­len Märk­­te, ihr Filialnetz und ihre Datenverarbeitung, in Ord­nung brin­gen, um sich auf den glo­ba­len Wett­­be­werb besser einstellen zu kön­nen. 1,7 Millionen Menschen waren noch 1991 in der ame­rikanischen Bankenwelt beschäftigt ‑ mehr als in der Stahl­‑ und Automobilin­du­strie zusammen. Trotz enormer Investitionen in die In­formations­technik war die Welt des Kapitals vor allem eins: ar­beits­­intensiv. Das waren die Spätfolgen einer ehedem stark re­gu­lierten Branche. Doch die Deregulierung griff immer stärker. Wett­be­werber traten auf, die die Personalhürde nehmen wollten ‑ und da­mit die Preise in die Zange neh­men. Ein Trend, der indes nicht minder für andere Länder gilt. In Japan ebenso wie in der Euro­päischen Union. So sucht jeder seine Stra­tegie oder gibt vor, eine zu haben.

Schrumpfende Branche? Längst seien zum Bei­spiel die Span­nen bei der syndizierten Kredit­fi­nan­zierung von Un­ternehmen auf ein Niveau ab­ge­sun­ken, dass sie den Ban­ken »die Kehle abschneiden«, schrieb im Herbst 1995 die Lon­do­ner Financial Times.[3] Das ame­ri­kanische Nach­rich­ten­magazin Newsweek sieht bereits die »Krise in den Banken«. Es ist eine schrumpfende Branche, die gegen ihre dro­hen­de Ir­re­le­vanz an­kämpft«.[4] Ganz so schlimm war es nicht: die Banken legten recht gute Geschäftsergebnisse vor. Im in­ternationalen Geschäft erreichte die Kre­dit­finanzie­rung ein Rekord­vo­lumen von 450 Milliarden Dollar. 1994 waren es nur 289 Milliarden Dollar.[5] Kein Wunder: schon lange nicht mehr war Geld so billig. Aber genau das macht den Banken das Leben so schwer.

Die Schlägerei. Das britische Wirt­schaftsmagazin The Economist er­läutert den Mecha­nismus des traditionellen Kreditgeschäfts: »Tat­sa­che ist, dass die Margen im Kernge­schäft der Ban­ken­wirtschaft ‑ dem Recycling von Spar­einlagen in Form von Krediten ‑ immer dün­ner wer­den, je mehr Nichtbanken‑Wett­be­wer­ber sich an der Schlägerei be­teiligen und die Crème der Wirt­schaftsun­ter­neh­men den Banken an den Kapitalmärkten untreu wer­den.«[6] Betrug in den USA der Anteil der Bank­kredite an den Schulden der Wirtschaft ehedem 50 Prozent, so verringerte er sich inzwischen auf 30 Prozent. Machten die Firmen­kund­schaft einst 75 Prozent des Ge­schäftsvolumens der Banken aus, so schrumpfte der Anteil auf unter 60 Prozent. [7]

In ihrem traditionellen Geschäft bleibt den Ban­kern nur eine Stra­tegie übrig: sie müs­sen ihre Präsenz »ra­tio­nalisieren, ra­tio­nalisieren und rationali­sie­­ren«, meint Walter Shipley, Chair­man der Chemical Bank, die im Au­gust 1995 mit der Chase Manhattan Bank fu­sionierte. Die elf Mil­liarden Dollar teure Verschmelzung war da­bei ganz wesentlich mit­bestimmt von dem Wunsch, gemeinsam die alte Informa­tions­tech­no­logie zu meistern. Denn in die­sen kostspieligen und kostenträchtigen Investitionen der Vergangenheit sind auch die alten Denkgewohnheiten und Strukturen verborgen, von de­nen sich die Banken endgültig verabschieden müssen. Und so wird als ein wesent­liches Motiv für die amerikanischen Bankenfusionen in der Be­wäl­ti­gung der Altlasten gesehen.

Gleich­zeitig aber ist damit bei der Chase‑Chemical die Am­bition ver­bun­den, durch Er­neue­rung der Anwendungen die 25 Millionen Kunden bes­ser, in­no­va­ti­ver und ko­stengünstiger bedie­nen zu können. Die beiden miteinander verschmolzenen Banken benötigen drin­gend eine homogene, geschäfts­prozeßorientierte Anwendungsum­ge­bung, die das Online‑Ban­king in all sei­nen Spielarten auf effizienteste und ef­fek­tivste Weise un­ter­stützt. Shipley pro­phe­zeit: »Die traditionellen Wege des Bankings werden obsolet, je mehr die Technologie uns neue Angebots­wege für unsere Produkte lie­fert.«[8] Noch 1986 ‑ so ergab eine Untersuchung von Coopers Lybrand bei 250 Führungskräften im amerikanischen Finanzsektor ‑ sah nur ein Drittel der Manager in der Informations‑Technologie die Chance, einen strategischen Wettbewerbsvorteil zu erlangen.[9] Jetzt verschwindet die alte Ban­ken­welt ‑ mitsamt ihrer alten, nur taktisch eingesetzten Tech­no­logie. Abbruchstimmung.



[1] For­tune, 15.1.1996: »A case study: how not to merge a bank«
[2] The Economist, 2.9.1995: »Finding the right chemi­stry«
[3] Financial Times, 13. 10.1995, John Plen­der: »Banks shape up to a cold climate«
[4] Newsweek, 11.9.1995, Michael Hirsh: »A rush for exits«
[5] Financial Times, 16.1.1996, Richard Lapper: »Back from the abyss to challenge the summit«
[6] The Economist, 2.9.1995 (Kommentar): »Big, boring and dange­rous«
[7] Time, 13.3.1995, Robert Ball: »Banking ‑ the business that will never be the same«
[8] Financial Ti­mes, 17.10.194, John Gap­per: »Rationalise and keep risks to mini­mum«
[9] Business Week, 4.8.1986: »Executives who just can't cope with data technology«

Donnerstag, 2. Januar 2020

Engpass Programmierer



1970: »In Europa fehlen
zur Zeit 150.000 Programmierer.«
Kurt Blauhorn, Gütersloh 1970, »Erdteil zweiter Klasse? Europas technologische Lücke« 

Mittwoch, 1. Januar 2020

Eine Reise ohne Anfang

Geschichten und andere Fundsachen aus meinem Archiv. Wann ich genau damit angefangen habe, dieses Archiv aufzubauen, weiß ich nicht mehr. Aber es muss so um das Jahr 1970 gewesen sein, als ich anfing, Zeitungsartikel auszuschneiden (ohne Datum, wie alle Anfänger) und zu sammeln. Mit den Jahren entstand daraus ein Archiv, das mich mitunter zur Verzweiflung brachte, auf das ich andererseits auch mächtig stolz war (und immer noch bin). Obwohl ich deswegen sehr häufig belächelt werde. Macht nix. Ich bin dabei, es aufzuräumen und zu digitalisieren. So möchte ich in diesem Jahr daraus ein Tagebuch machen, bei dem ich nicht weiß, was darin vorkommen wird.
Auf jeden Fall möchte ich Euch mit diesem Tagebuch durch das Neue Jahr begleiten, dass es immer nur gute Überraschungen für uns bereithält.

Beginnen wir mit einer Ankündigung, die zugleich eine Fortsetzung war. Vor 50 Jahren wurde das System IBM /370 angekündigt, das die Geschichte der Mainframes erfolgreich fortsetzte: