»Das Unvermeidliche geschieht niemals. Es ist stets das Unerwartete.«
John Maynard Keynes,
Wirtschaftswissenschaftler[1]
Von Raimund Vollmer (2003)
Alles ist mit allem verbunden. Das war
die unausgesprochene Geheimformel der neunziger Jahre. Es war das Jahrzehnt der
großen Hoffnungen und Erwartungen. Vor unseren Augen sollte der friktionslose
Kapitalismus entstehen, eine weltumspannende Realtime-Economy. In ihr sollte
jeder mit jedem per Mausclick Geschäfte treiben können. Rund um die Uhr. An
sieben Tagen in der Woche. Pausenlos. Atemlos. Schrankenlos.
Es war eine goldene Dekade, aus dem im
neuen, im wahrhaft amerikanischen
Jahrhundert ein goldenes Zeitalter hervorgehen sollte. Endgültig vorbei
waren die Zeiten, in denen eine Wirtschaft wie die USA nur um 2,5 Prozent
wuchs. Mit dieser niedrigen Rate hatten sich die Amerikaner in den siebziger
und achtziger Jahren begnügen müssen. Fortan wollte man im Schnitt um
mindestens 3,5 Prozent wachsen. Wenn
dann Mitte des 21. Jahrhunderts abgerechnet würde, dann hätte sich das
Wirtschaftsvolumen – pro Kopf gerechnet – im Vergleich zu 1995 auf 106.132
Dollar mehr als verzehnfacht. Bei der alten Wachstumsrate läge die
Wohlstands-Zahl um 40.000 Dollar niedriger.[2]
Eigentlich musste man nichts anderes tun, als die Wachstumschancen kräftig zu
nutzen. Davon gab es ja mehr als genug.
Netz oder nie
So war aus dem Nichts das 1989 von dem
Briten Tim Berners-Lee erfundene World Wide Web mit seinen bald mehr als 600
Millionen Nutzern entstanden. Zehn Prozent der Erdbevölkerung waren online, zu
Beginn der neunziger Jahre waren es noch nicht einmal ein Promillchen gewesen,
1995 erst 50 Millionen Menschen. Und mit der raschen Ausbreitung des Netzes
beschleunigte sich nun auch der technische Fortschritt. Hatte Intel bis 1995,
als sich der High-Tech-Boom voll entfaltete, alle drei Jahre ihre
Mikroprozessoren in einen neuen Verkaufszyklus gestoßen, so beglückte sie jetzt
alle zwei Jahre die Welt mit ihren Neuerungen.[3]
»In den nächsten drei Dekaden« – so rechnete Bill Joy, Cheftechnologe bei Sun
Microsystems aus – »wird sich die Computerleistung um den Faktor einer satten
Million erhöhen.«[4] Die Chipschmieden in aller Welt arbeiteten
auf Hochtouren. Allein die Anzahl an Wafern, dem hochveredelten Rohstoff der
intelligenten Winzlinge, wuchs – würde man sie aneinander legen – jedes Jahr um 2,5 Quadratkilometer. Das entspricht
der siebenfachen Ausstellungsfläche der CeBIT in Hannover. Und jeder Millimeter
davon ist vollgestopft mit Abertausenden von Transistoren.[5]
Alles managte sich selbst. In Echtzeit.
Per Mausclick. Dank Elektronik. Per Email. Allein die amerikanische
Geschäftswelt bombardierte sich und den Rest der Welt mit jährlich 1,4
Billionen Emails. 1995 – so eine Untersuchung der Marktforschung International
Data Corp. – waren es erst 40 Milliarden gewesen.[6]
Jürgen Schremp, Chef von DaimlerChrysler, erzählte im Mai 2000 der Zeitschrift
Fortune, wie er 1996 das E-Mail entdeckt hatte – zur großen Verwunderung seiner
Vorstandskollegen. IBMs damaliger Boss Lou Gerstner hatte ihn bei einem Besuch
im Hauptquartier des Computergiganten in Armonk auf den Geschmack gebracht.
»Wenn ich zuhause bin, dann erledige ich entweder eine Menge Papierkram oder
sitze an der Maschine. Ich bin völlig begeistert davon: Ich schaue (im Netz)
nach Büchern. Ich kaufe Zigarren und mache all dies andere Zeug. Das ist ein
echter Wandel. Und ich denke, wir haben erst die Spitze des Eisbergs gesehen.«[7]
Gary E. Rieschel, Managing Director
bei Softbank Venture Capital, brachte
dieses Verhalten auf den Punkt: »Beim Internet dreht sich alles um
Kommunikation. Und die Menschen haben noch nie in der Geschichte aufgehört,
miteinander zu kommunizieren«.[8]
Dafür stand nicht nur das Internet, sondern auch der Mobilfunk. In Italien,
Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren Märkte entstanden, die in 2000
jeweils 500 Millionen Euro umsetzten. Aber die Menschen suchten nicht nur die
direkte Kommunikation untereinander, sie bauten das Internet zum größten Archiv
in der Menschheitsgeschichte aus. Schätzungsweise 550 Milliarden Dokumente
schlummerten inzwischen in den Datenspeichern des Netzes und warteten darauf
von den Suchmaschinen entdeckt zu werden.[9]
In den USA stieg zwischen 1995 und 2000
der Anteil der Informationstechnologien am Wirtschaftsprodukt von 3,5 auf
nahezu 5,4 Prozent. Gewaltige Server-Farmen entstanden, die jedes Jahr um 50
Prozent wuchsen und sich nach Berechnungen der Investmentbank Salomon Smith Barney
bis 2001 auf 22 Millionen Quadratfuß ausgedehnt hatten. Manche dieser Ungetüme
bestanden aus tausend und mehr Rechnern. Sie verbrauchten so viel Strom wie ein
kleiner Flughafen oder vier Großkrankenhäusern.[10]
Sie waren die neuen, diskreten Schaltzentralen der Wirtschaft, über die alle
Informationsströme der Welt geschleust werden sollten. Das Speichergeschäft
boomte. 26 Milliarden Dollar gaben weltweit allein die Großunternehmen für die
Ausweitung ihrer Plattenkapazitäten aus.[11]
Und nichts schien einer weiteren Expansion entgegenzustehen.
»Über die nächste Dekade hinweg wird
nach allgemeiner Ansicht die Revolution bei den Informationstechnologien der
Hauptantreiber des Wachstums sein«, begrüßte im Jahr 2000 das
Wirtschaftsmagazin The Economist das neue Zeitalter.[12]
Und Allan Sinai, Chefvolkswirt bei der Analysefirma Decision Economics in New
York, hatte bereits ausgerechnet, wie stark das Netz der Netze mit seinem
freien Fluss an Waren und Geld zwischen 1995 und 2000 den Wohlstand der USA
gemehrt hatte: Um zusätzliche 0,75 Prozentpunkte war die Wirtschaft gewachsen.[13]
Dank Internet könnte die Produktivität in den nächsten fünf Jahren um bis zu
0,4 Prozent zusätzlich steigen, hatte die Brookings Institution, eine
amerikanische Denkfabrik, bereits ausgerechnet. Großanwender wie die Deutsche
Bank hatten justament beschlossen, ihr IT-Budget sukzessive auf eine Milliarde
Dollar zu erhöhen – wegen des Internets.[14]
Doch der Boom hatte nicht nur die
Geschäftswelt außerordentlich belebt, sondern ganz besonders die Börse.
[1] Wall Street Journal, September 20, 1993, Arthur
Schlesinger: »The Future Outwits Us again«, danach zitiert
[2] Fortune, November 25, 1996, Justin Fox: »How Washington really could
help«
[3] Business Week, August 27, 2001, Peter Coy: »The New
Economy – How real is it?«
[4] Fortune, March 6, 2000, Bill Joy: »Design for the
digital revolution«
[5] Wall Street Journal, July 19, 2002, Don Clark: »Chip
Suppliers Feel the Pain«
[6] Wall Street Journal, January 11, 2002, Elizabeth
Weisstein: »Overhelmed by E-Mail?«
[7] Fortune, March 6, 2000, Alex Taylor II (Interview): »Is
The World Big Enough For Jürgen Schremp?«
[8] Business Week, March 26, 2001, Michael J. Mandel,
Robert O. Hof: »Rethinking the Internet«
[9] Wall Street Journal, November 19,2002, Evelina
Shmukler: »Search Engines Gain Horsepower«
[10] The Economist, August 11, 2001: »Geography and the
net – Putting in its place«
[11] The Economist, May 25, 2002: »Data storage – Going
soft«
[12] The Economist, January 8, 2000 (Leaders): »Catch up
if you can«
[13] Fortune, February 18, 2002, Anna Bernasek:
»The friction economy«
[14] The Economist, May 20, 2000, Simon Long: »The
virtual threat – A survey of online finance«