Freitag, 13. Mai 2016

CLICK ZURÜCK NACH VORN: Die Scheinblüte der Innovationen

Von Raimund Vollmer (1997)
Eine Zählung ergab, dass 1970 in den USA 1.365 neue Konsum‑Pro­dukte eingeführt wurden. 1994 waren es 20.076 Novitäten. Das ist ei­ne Stei­gerung um den Faktor 15 in 25 Jahren. Ohne mas­si­ven Com­pu­ter­einsatz wäre diese Vielfalt mit Sicherheit nicht mach­bar gewesen. Es lohnt sich also, in Software zu investieren. Leider beste­hen die meisten Neuerungen, die jährlich auf den Markt kom­men, aus Derivaten von bestehenden Produkte. Es sind Schein­blü­ten. Deren Entwicklung ist weniger riskant, zu­mal der Com­puter es recht einfach macht, Pro­duk­te kontinuierlich zu ver­bes­sern und im­mer mehr Va­rianten zu er­zeu­gen. So entstehen Anpassungs‑Innovationen in Hülle und Fülle, aber pla­nerische Si­cher­heit gewin­nen die Unternehmen dadurch kaum. Nur zehn Prozent aller neuen Pro­dukte sind so erfolgreich, daß sie zwei Jah­re nach ihrer Ein­füh­rung noch am Markt sind. Diese Zahlen ermittel­te Kevin Clancy, Ana­lyst bei der Marketingberatung Coperni­cus in Massachusetts. [1]
Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Rolf Berth. Er analysiert seit 1971 an der Akademie Schloß Ga­rath bei Düsseldorf den Anteil von In­novationen am Gesamtumsatz der deutschen In­dustrie. Seine jüng­ste Bilanz: »Der Anteil ist um 38 Prozent ge­sun­ken.« Diese Zahl allein ist schon alarmierend. Weitaus schwerer wiegt seine Er­kennt­nis, dass sich von 463 Führungskräften 402 für erfindungsreiche Erneuerer hal­ten. Man fragt sich: worauf begründen sie diese Annahme?
Von Schumpeterschen Typen, die mit »kreativer Zer­stö­rung« neue Kom­binationen am Markt durchsetzen, kann keine Rede sein: Bei den 1026 von Berth untersuchten Firmen war nur die Zahl derer, die wenigstens zu Anpassungserneuerungen griffen, um 35 Prozent ge­stiegen ‑ auf 137 Unternehmen. Bei Erneuerungsinno­va­tio­nen fiel die Zahl um 30 Prozent ab. Bei echten Durch­brüchen ver­zeich­nete er gar ein Minus von 56 Prozent. Der Grund für die magere Ausbeute: die Führungsebene der ersten bis dritten Management‑Ebene widmet nur 4,7 Prozent ihrer Zeit für innovative Überlegungen. Von 77 Erst­ideen, die Berth in seinen Langzeitstudien beobachtete, wur­den nur neun tatsächlich realisiert, von denen dann eine einzige zum Voll­treffer geriet. Zwei Ideen galten als einigermaßen erfolgreich. Eine Neuerung schrieb im fünften Jahr immer noch Verluste. Fünf floppten gänz­lich. Berth rechnete zudem aus, dass eine Innova­tion im Schnitt sechs Jahre benötigt, bis sie wenigstens den Break-even-Point er­reicht. [2]Eine sehr lange Zeit, die viel Geduld, Aufmerksamkeit und Mut voraussetzt. Genau diese Tugenden wer­den von den Controlling‑Systemen nicht unterstützt. Im Ge­gen­teil: immer wieder ist aus dem Munde von Vorständen zu hören, daß sie über einen Zeitraum, der länger als drei Jahre währt, nicht hinausdenken. Ihr Argument: die Welt sei zu schnellebig geworden. Jeder erwartet Überraschungen, aber unsere Fähigkeit, sie zu orten, scheint hochgradig unterentwickelt.
Woran liegt das? Wir wissen sehr viel über die Innenwelt unserer Un­ternehmen, aber nur sehr wenig über die Außenwelt. So ist es kein Wun­der, dass viele Betriebe Anpassungsneuerungen vor­zie­hen. Früher nann­te man sie präziser Schein‑Innovationen. Leider verbrauchen wir für diese Strohfeuer auch jede Menge Software‑Investitionen. Immer mehr Managementpraktiken wurden in den vergangenen zehn Jahren ausprobiert, aber keine lieferte bislang einen überwältigenden Erfolg, wie eine Umfrage des Instituts für Arbeitspsychologie an der Univer­si­tät von Sheffield in Großbritannien ergab. [3]Wahrscheinlich wirkten diese Techniken in ihrer Mischung sogar kontraproduktiv. Sie helfen uns zwar, immer mehr über unsere bestehenden Pro­dukte und Struk­turen zu erfahren, aber sie sagen kaum etwas über die wirklich neuen Chancen. Diese werden noch nicht einmal als solche begriffen, sondern als Risikofaktor identifiziert.
Dabei ist es genau um­ge­kehrt. Von den alten Strukturen, die wir in Software gegossen haben, gehen die Gefahren aus. Das ist es, was uns beunruhigen sollte. Einen Vorgeschmack bekommen wir mit dem Problem der Datumsbereinigung für das Jahr 2000. Vor diesem Hintergrund muß man auch ‑ bei aller Wertschätzung ‑ die Einführung von SAP‑Software zuerst einmal als eine reine Anpassungs‑Innovation bezeichnen. Sie ist her­vor­ra­gend geeignet, um innerhalb eines Unternehmens die bekannten Res­sourcen optimal zu nutzen und einzusetzen. Sie liefert auch eine Chance, dem Millennium‑Problem auszuweichen. Die neuen Dienstleistungen verlangen aber, sie sind geradezu darauf gerichtet, daß die Ressourcen außerhalb eines Unternehmens liegen.



[1] The Eco­no­mist, 1.4.1995: »How to turn junk mail into a goldmine ‑ or perhaps not«
[2] Die Welt, 11.6.1997, Cornelia Wolber: »Nie war die Bilanz schlechter«
[3] Financial Times, 5.9.1997, Vanessa Houlder: »The good and the bad«

1 Kommentar:

Besserwisser hat gesagt…

Aktueller denn je!