Samstag, 14. Mai 2016

CLICK ZURÜCK NACH VORN: Das goldene Zeitalter - Ein Rückblick auf die 90er Jahre (1)



»Das Unvermeidliche geschieht niemals. Es ist stets das Unerwartete.«

John Maynard Keynes, Wirtschaftswissenschaftler[1]
Von Raimund Vollmer (2003)

Alles ist mit allem verbunden. Das war die unausgesprochene Geheimformel der neunziger Jahre. Es war das Jahrzehnt der großen Hoffnungen und Erwartungen. Vor unseren Augen sollte der friktionslose Kapitalismus entstehen, eine weltumspannende Realtime-Economy. In ihr sollte jeder mit jedem per Mausclick Geschäfte treiben können. Rund um die Uhr. An sieben Tagen in der Woche. Pausenlos. Atemlos. Schrankenlos.
Es war eine goldene Dekade, aus dem im neuen, im wahrhaft amerikanischen  Jahrhundert ein goldenes Zeitalter hervorgehen sollte. Endgültig vorbei waren die Zeiten, in denen eine Wirtschaft wie die USA nur um 2,5 Prozent wuchs. Mit dieser niedrigen Rate hatten sich die Amerikaner in den siebziger und achtziger Jahren begnügen müssen. Fortan wollte man im Schnitt um mindestens 3,5 Prozent wachsen.  Wenn dann Mitte des 21. Jahrhunderts abgerechnet würde, dann hätte sich das Wirtschaftsvolumen – pro Kopf gerechnet – im Vergleich zu 1995 auf 106.132 Dollar mehr als verzehnfacht. Bei der alten Wachstumsrate läge die Wohlstands-Zahl um 40.000 Dollar niedriger.[2] Eigentlich musste man nichts anderes tun, als die Wachstumschancen kräftig zu nutzen. Davon gab es ja mehr als genug.
Netz oder nie
So war aus dem Nichts das 1989 von dem Briten Tim Berners-Lee erfundene World Wide Web mit seinen bald mehr als 600 Millionen Nutzern entstanden. Zehn Prozent der Erdbevölkerung waren online, zu Beginn der neunziger Jahre waren es noch nicht einmal ein Promillchen gewesen, 1995 erst 50 Millionen Menschen. Und mit der raschen Ausbreitung des Netzes beschleunigte sich nun auch der technische Fortschritt. Hatte Intel bis 1995, als sich der High-Tech-Boom voll entfaltete, alle drei Jahre ihre Mikroprozessoren in einen neuen Verkaufszyklus gestoßen, so beglückte sie jetzt alle zwei Jahre die Welt mit ihren Neuerungen.[3] »In den nächsten drei Dekaden« – so rechnete Bill Joy, Cheftechnologe bei Sun Microsystems aus – »wird sich die Computerleistung um den Faktor einer satten Million erhöhen.«[4]   Die Chipschmieden in aller Welt arbeiteten auf Hochtouren. Allein die Anzahl an Wafern, dem hochveredelten Rohstoff der intelligenten Winzlinge, wuchs – würde man sie aneinander legen – jedes  Jahr um 2,5 Quadratkilometer. Das entspricht der siebenfachen Ausstellungsfläche der CeBIT in Hannover. Und jeder Millimeter davon ist vollgestopft mit Abertausenden von Transistoren.[5]
Alles managte sich selbst. In Echtzeit. Per Mausclick. Dank Elektronik. Per Email. Allein die amerikanische Geschäftswelt bombardierte sich und den Rest der Welt mit jährlich 1,4 Billionen Emails. 1995 – so eine Untersuchung der Marktforschung International Data Corp. – waren es erst 40 Milliarden gewesen.[6] Jürgen Schremp, Chef von DaimlerChrysler, erzählte im Mai 2000 der Zeitschrift Fortune, wie er 1996 das E-Mail entdeckt hatte – zur großen Verwunderung seiner Vorstandskollegen. IBMs damaliger Boss Lou Gerstner hatte ihn bei einem Besuch im Hauptquartier des Computergiganten in Armonk auf den Geschmack gebracht. »Wenn ich zuhause bin, dann erledige ich entweder eine Menge Papierkram oder sitze an der Maschine. Ich bin völlig begeistert davon: Ich schaue (im Netz) nach Büchern. Ich kaufe Zigarren und mache all dies andere Zeug. Das ist ein echter Wandel. Und ich denke, wir haben erst die Spitze des Eisbergs gesehen.«[7]
Gary E. Rieschel, Managing Director bei  Softbank Venture Capital, brachte dieses Verhalten auf den Punkt: »Beim Internet dreht sich alles um Kommunikation. Und die Menschen haben noch nie in der Geschichte aufgehört, miteinander zu kommunizieren«.[8] Dafür stand nicht nur das Internet, sondern auch der Mobilfunk. In Italien, Deutschland, Frankreich und Großbritannien waren Märkte entstanden, die in 2000 jeweils 500 Millionen Euro umsetzten. Aber die Menschen suchten nicht nur die direkte Kommunikation untereinander, sie bauten das Internet zum größten Archiv in der Menschheitsgeschichte aus. Schätzungsweise 550 Milliarden Dokumente schlummerten inzwischen in den Datenspeichern des Netzes und warteten darauf von den Suchmaschinen entdeckt zu werden.[9]
In den USA stieg zwischen 1995 und 2000 der Anteil der Informationstechnologien am Wirtschaftsprodukt von 3,5 auf nahezu 5,4 Prozent. Gewaltige Server-Farmen entstanden, die jedes Jahr um 50 Prozent wuchsen und sich nach Berechnungen der Investmentbank Salomon Smith Barney bis 2001 auf 22 Millionen Quadratfuß ausgedehnt hatten. Manche dieser Ungetüme bestanden aus tausend und mehr Rechnern. Sie verbrauchten so viel Strom wie ein kleiner Flughafen oder vier Großkrankenhäusern.[10] Sie waren die neuen, diskreten Schaltzentralen der Wirtschaft, über die alle Informationsströme der Welt geschleust werden sollten. Das Speichergeschäft boomte. 26 Milliarden Dollar gaben weltweit allein die Großunternehmen für die Ausweitung ihrer Plattenkapazitäten aus.[11] Und nichts schien einer weiteren Expansion entgegenzustehen.
»Über die nächste Dekade hinweg wird nach allgemeiner Ansicht die Revolution bei den Informationstechnologien der Hauptantreiber des Wachstums sein«, begrüßte im Jahr 2000 das Wirtschaftsmagazin The Economist das neue Zeitalter.[12] Und Allan Sinai, Chefvolkswirt bei der Analysefirma Decision Economics in New York, hatte bereits ausgerechnet, wie stark das Netz der Netze mit seinem freien Fluss an Waren und Geld zwischen 1995 und 2000 den Wohlstand der USA gemehrt hatte: Um zusätzliche 0,75 Prozentpunkte war die Wirtschaft gewachsen.[13] Dank Internet könnte die Produktivität in den nächsten fünf Jahren um bis zu 0,4 Prozent zusätzlich steigen, hatte die Brookings Institution, eine amerikanische Denkfabrik, bereits ausgerechnet. Großanwender wie die Deutsche Bank hatten justament beschlossen, ihr IT-Budget sukzessive auf eine Milliarde Dollar zu erhöhen – wegen des Internets.[14]
Doch der Boom hatte nicht nur die Geschäftswelt außerordentlich belebt, sondern ganz besonders die Börse.


[1] Wall Street Journal, September 20, 1993, Arthur Schlesinger: »The Future Outwits Us again«, danach zitiert
[2] Fortune, November 25, 1996, Justin Fox: »How Washington really could help«
[3] Business Week, August 27, 2001, Peter Coy: »The New Economy – How real is it?«
[4] Fortune, March 6, 2000, Bill Joy: »Design for the digital revolution«
[5] Wall Street Journal, July 19, 2002, Don Clark: »Chip Suppliers Feel the Pain«
[6] Wall Street Journal, January 11, 2002, Elizabeth Weisstein: »Overhelmed by E-Mail?«
[7] Fortune, March 6, 2000, Alex Taylor II (Interview): »Is The World Big Enough For Jürgen Schremp?«
[8] Business Week, March 26, 2001, Michael J. Mandel, Robert O. Hof: »Rethinking the Internet«
[9] Wall Street Journal, November 19,2002, Evelina Shmukler: »Search Engines Gain Horsepower«
[10] The Economist, August 11, 2001: »Geography and the net – Putting in its place«
[11] The Economist, May 25, 2002: »Data storage – Going soft«
[12] The Economist, January 8, 2000 (Leaders): »Catch up if you can«
[13] Fortune, February 18, 2002, Anna Bernasek: »The friction economy«
[14] The Economist, May 20, 2000, Simon Long: »The virtual threat – A survey of online finance«

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