(Kommentar) Wir haben in Deutschland jede Menge Eliten, aber
keine Avantgarde. Und das ist unser allergrößtes Standortproblem, aus dem uns
keine, absolut keine Elite herausführen kann. Denn die Eliten sind vollauf
damit beschäftigt, ihre eigene Position zu sichern und nicht sie zu riskieren.
Avantgarde aber bedeutet volles Risiko. Und das gilt ganz
besonders in Deutschland, wo die Elite in ihrer Selbstherrlichkeit fälschlicherweise meint, sie sei die Avantgarde.
Die Aufgabe der Eliten besteht bei uns darin, das auf
besonders clevere, smarte Weise zu managen, was andere ihnen sagen. Eine echte
Avantgarde ist niemals clever, schon gar nicht smart, sondern sie ist selbstbestimmt
und meistens naiv - kurzum alles andere als elitär.
Unsere Zukunft haben wir auf sehr gefährliche Weise der
heimlichsten aller Eliten, den Spin-Doktoren, überlassen. Das sind Menschen.
die im Hintergrund wirken, nach betriebswirtschaftlicher Ausbildung und
professoralem Medientraining die attraktiven PR-Posten in den Unternehmen
besetzen und uns Stories erzählen (lassen), die zwar ihren Hirnen entsprungen
sind, aber deswegen noch lange nicht originell, geschweige denn authentisch
sind. Sie sind letzten Endes billiger Abklatsch von Geschichten, deren Original
aus PRchenland USA kommen. Und auch dort sind sie schon nichts anderes als
Derivate uralter, ausgelutschter Muster. Noch nicht einmal im eigenen Gefilde
sind diese Spin-Doktoren Avantgarde, sondern Hinterherläufer (und eigentlich
sogar Hinterwäldler).
Eine der größten PR-Stories ist jüngst geplatzt.
Volkswagenwirtschaftlicher Schaden: noch unbekannt.
Hier haben die Spin-Doktoren Fürchterliches angerichtet, als
sie die Legende von der Technologie-Verliebtheit und Detail-Versessenheit ihres
Bosses, Martin Winterkorn, verbreiteten - und dieser schließlich zugeben
musste, dass er von der Diesel-Schadsoftware nichts gewusst habe. "Vorsprung
durch Prüfungstechnik", lästerte schließlich ein Leser im Econmist. VW ist
zum Gespött freigegeben, das sich ruckzuck durchs ganze Internet verbreitete. Direkt davon betroffen war dann der
gesamte Standort Deutschland.
Es ist nicht bekannt, dass einer der Spin-Doktoren seinen
Posten verloren hat. Warum auch? Sie haben dem Chef das gegeben, was er wollte
- also trägt auch er allein die Verantwortung. Ganz schön clever.
Bei Siemens verbreiten dieselben Typen nun die Geschichte,
dass ihr Boss, Joe Kaeser, eine Start-up-Kultur errichten möchte. Es wäre ein
echtes Zauberstück, weitaus größer als die Erfindung des "Zaubertranks"
- wie VW-intern die Dieselschadsoftware genannt wurde. Vor allem, wenn es
Wirklichkeit werden würde, wäre es eine echte Story, es wäre tatsächlich
Avantgarde. Und doch ist es letztlich etwas Unmögliches, was dort bei Siemens
gewagt werden soll.
Denn diese Start-ups können nur von Leuten geführt werden,
die tatsächlich selbstbestimmt und naiv sind. Beides lässt das System Siemens
nicht zu, ja, seine ganze, von Korruption gebeutelte Geschichte, spricht
dagegen.
Das ist noch nicht einmal im Silicon Valley möglich. Wenn
sich dort die Entrepreneurs zu den Venture Capitalists vorwagen, dann haben sie
ja nur noch eine Chance, wenn sie sich als "Unicorns" präsentieren
können. Sie müssen mindestens eine Milliarde Dollar wert sein. Ist das noch ein
Start-up? Das hat doch bereits seine ganze Zukunft verspeist, bevor es überhaupt
begonnen hat.
Echte Start-ups brauchen weder Siemens noch das Silicon
Valley. Echte Start-ups gedeihen im Verborgenen, heißen ganz plötzlich Google,
Facebook oder Amazon. Und sie feiern sich selbst, nicht irgendeinen Kaeser.
Die Spin-Doktoren bei Siemens wollen ihrem Vorstandsvorsitzenden
ein Image verpassen - und sie nehmen die Innovationsinitiative, weil sie dessen
Eitelkeit stützt. Er wird zum großen Unternehmerunternehmer, der aus kleinen
Angestellten die Führer der Zukunft macht. Es ist so peinlich, es ist so durchsichtig. Da überfällt einen die Fremdscham.
Die Mitarbeiter, die ihre Ideen nun in den Ring werfen,
sollten sich darüber im Klaren sein, dass am Rand eine gewaltige Menge an
Elitepersonal steht, das nur darauf wartet, diesen Job zu übernehmen und den
Erfinderunternehmer wieder zurück ins Labor zu schicken.
Vor 35 Jahren wagte bei IBM (die kann in dieser Geschichte
nunmal nicht fehlen) ein gewisser Philipp Estridge das Experiment PC - als
Start-up. Die Spin-Doktoren nannten es dann Independent Business Unit (IBU).
Als dann daraus eine richtige Division wurde, womit keiner gerechnet hatte,
wurde Estridge ausgebootet und andere setzten sich auf seinen Stuhl. Ein
Klassiker.
Wir brauchen keine Start-ups. Wir brauchen Avantgarde - und
die (reichen) Leute würden auch dazu gehören, wenn sie der Avantgarde eine
Chance gäben. Selbstlos und ohne Hintergedanken.
Diese Leute haben wir in Deutschland nicht. Sich so zu
verhalten, ist ja idealisitisch, unclever und unsmart. Und das ist in der
eigenen Vergleichsreihe, im eigenen Elitezirkel, ein erheblicher Imagenachteil.
Vielleicht liegt das auch daran, dass unsere Spin-Doktoren sich so viel Phantasie
gar nicht vorstellen können oder sich im vorauseilenden Bedenkentragen das
weder sich, noch ihrem Chef zutrauen.
Zitieren wir am Ende einem Hammersatz des Philosophen und Soziologen
Theodor W. Adorno: "Es gibt kein
richtiges Leben im falschen." Wandeln wir es um in: "Es gibt keine
richtigen Unternehmer im falschen (Unternehmen)."
Raimund Vollmer