Mittwoch, 9. Dezember 2015

Siemens und die Start-Up-Kultur: Fremdschämen erlaubt



(Kommentar) Wir haben in Deutschland jede Menge Eliten, aber keine Avantgarde. Und das ist unser allergrößtes Standortproblem, aus dem uns keine, absolut keine Elite herausführen kann. Denn die Eliten sind vollauf damit beschäftigt, ihre eigene Position zu sichern und nicht sie zu riskieren.
Avantgarde aber bedeutet volles Risiko. Und das gilt ganz besonders in Deutschland, wo die Elite in ihrer Selbstherrlichkeit fälschlicherweise meint, sie sei die Avantgarde.  
Die Aufgabe der Eliten besteht bei uns darin, das auf besonders clevere, smarte Weise zu managen, was andere ihnen sagen. Eine echte Avantgarde ist niemals clever, schon gar nicht smart, sondern sie ist selbstbestimmt und meistens naiv - kurzum alles andere als elitär.
Unsere Zukunft haben wir auf sehr gefährliche Weise der heimlichsten aller Eliten, den Spin-Doktoren, überlassen. Das sind Menschen. die im Hintergrund wirken, nach betriebswirtschaftlicher Ausbildung und professoralem Medientraining die attraktiven PR-Posten in den Unternehmen besetzen und uns Stories erzählen (lassen), die zwar ihren Hirnen entsprungen sind, aber deswegen noch lange nicht originell, geschweige denn authentisch sind. Sie sind letzten Endes billiger Abklatsch von Geschichten, deren Original aus PRchenland USA kommen. Und auch dort sind sie schon nichts anderes als Derivate uralter, ausgelutschter Muster. Noch nicht einmal im eigenen Gefilde sind diese Spin-Doktoren Avantgarde, sondern Hinterherläufer (und eigentlich sogar Hinterwäldler).
Eine der größten PR-Stories ist jüngst geplatzt. Volkswagenwirtschaftlicher Schaden: noch unbekannt.
Hier haben die Spin-Doktoren Fürchterliches angerichtet, als sie die Legende von der Technologie-Verliebtheit und Detail-Versessenheit ihres Bosses, Martin Winterkorn, verbreiteten - und dieser schließlich zugeben musste, dass er von der Diesel-Schadsoftware nichts gewusst habe. "Vorsprung durch Prüfungstechnik", lästerte schließlich ein Leser im Econmist. VW ist zum Gespött freigegeben, das sich ruckzuck durchs ganze Internet verbreitete.  Direkt davon betroffen war dann der gesamte Standort Deutschland.
Es ist nicht bekannt, dass einer der Spin-Doktoren seinen Posten verloren hat. Warum auch? Sie haben dem Chef das gegeben, was er wollte - also trägt auch er allein die Verantwortung. Ganz schön clever.
Bei Siemens verbreiten dieselben Typen nun die Geschichte, dass ihr Boss, Joe Kaeser, eine Start-up-Kultur errichten möchte. Es wäre ein echtes Zauberstück, weitaus größer als die Erfindung des "Zaubertranks" - wie VW-intern die Dieselschadsoftware genannt wurde. Vor allem, wenn es Wirklichkeit werden würde, wäre es eine echte Story, es wäre tatsächlich Avantgarde. Und doch ist es letztlich etwas Unmögliches, was dort bei Siemens gewagt werden soll.
Denn diese Start-ups können nur von Leuten geführt werden, die tatsächlich selbstbestimmt und naiv sind. Beides lässt das System Siemens nicht zu, ja, seine ganze, von Korruption gebeutelte Geschichte, spricht dagegen.
Das ist noch nicht einmal im Silicon Valley möglich. Wenn sich dort die Entrepreneurs zu den Venture Capitalists vorwagen, dann haben sie ja nur noch eine Chance, wenn sie sich als "Unicorns" präsentieren können. Sie müssen mindestens eine Milliarde Dollar wert sein. Ist das noch ein Start-up? Das hat doch bereits seine ganze Zukunft verspeist, bevor es überhaupt begonnen hat.  
Echte Start-ups brauchen weder Siemens noch das Silicon Valley. Echte Start-ups gedeihen im Verborgenen, heißen ganz plötzlich Google, Facebook oder Amazon. Und sie feiern sich selbst, nicht irgendeinen Kaeser.
Die Spin-Doktoren bei Siemens wollen ihrem Vorstandsvorsitzenden ein Image verpassen - und sie nehmen die Innovationsinitiative, weil sie dessen Eitelkeit stützt. Er wird zum großen Unternehmerunternehmer, der aus kleinen Angestellten die Führer der Zukunft macht. Es ist so peinlich, es ist so durchsichtig. Da überfällt einen die Fremdscham.
Die Mitarbeiter, die ihre Ideen nun in den Ring werfen, sollten sich darüber im Klaren sein, dass am Rand eine gewaltige Menge an Elitepersonal steht, das nur darauf wartet, diesen Job zu übernehmen und den Erfinderunternehmer wieder zurück ins Labor zu schicken.
Vor 35 Jahren wagte bei IBM (die kann in dieser Geschichte nunmal nicht fehlen) ein gewisser Philipp Estridge das Experiment PC - als Start-up. Die Spin-Doktoren nannten es dann Independent Business Unit (IBU). Als dann daraus eine richtige Division wurde, womit keiner gerechnet hatte, wurde Estridge ausgebootet und andere setzten sich auf seinen Stuhl. Ein Klassiker.
Wir brauchen keine Start-ups. Wir brauchen Avantgarde - und die (reichen) Leute würden auch dazu gehören, wenn sie der Avantgarde eine Chance gäben. Selbstlos und ohne Hintergedanken.
Diese Leute haben wir in Deutschland nicht. Sich so zu verhalten, ist ja idealisitisch, unclever und unsmart. Und das ist in der eigenen Vergleichsreihe, im eigenen Elitezirkel, ein erheblicher Imagenachteil. Vielleicht liegt das auch daran, dass unsere Spin-Doktoren sich so viel Phantasie gar nicht vorstellen können oder sich im vorauseilenden Bedenkentragen das weder sich, noch ihrem Chef zutrauen.
Zitieren wir am Ende einem Hammersatz des Philosophen und Soziologen  Theodor W. Adorno: "Es gibt kein richtiges Leben im falschen." Wandeln wir es um in: "Es gibt keine richtigen Unternehmer im falschen (Unternehmen)."
Raimund Vollmer