Eigenliebe ist die größte aller Schmeichlerinnen.
François de La Rochefoucauld (1618-1680), französischer Moralist
Eigenliebe ist die größte aller Schmeichlerinnen.
François de La Rochefoucauld (1618-1680), französischer Moralist
1954: „Ich hatte ja meinen Computer. Den habe ich immer dabei.“
Isaac Asimov (1920-1992), amerikanischer Schriftsteller und Biochemiker, in seinem Roman „Luck Starr auf der Venus“. Aussage eines Ingenieurs, der sich einen Laptop bastelte, mit dem sich sogar Gedanken übertragen lassenDer F.A.Z.-Check am 18. April 2024:
Die Suppenkasper
Von Raimund Vollmer
Ist das die neue Geschichtsschreibung? „Diese Sonntage sind mit einem geradezu zauberhaften Glanz ins kollektive Gedächtnis eingegangen, mit Stolz, mit Fahrrad auf der Autobahn, Kinder auf Rollschuhen“, schreibt heute in der FAZ die Historikerin Hedwig Richter über die Sonntagsfahrverbote 1973, als seien diese ein grünes Happening gewesen, bei dem das kollektive Bewusstsein – so suggeriert sie – erstmals so richtig über das „hässliche Unterbewusstsein der Deutschen“ obsiegt habe. „Jugendliche zelten in den Bergen auf dem Asphalt. Mit: Wir haben das geschafft. Die Republik: Das sind wir.“ (Hedwig Richter, 18. April 2024: „Die Suppenkasper sind über uns“, FAZ).
Frau Richter ist Jahrgang 1973. Es kann als gesichert gelten, dass sie in der Wiege kaum etwas von den Fahrverboten mitbekommen hat. Aber sie ist ja Historikerin, lehrt an der Bundeswehrhochschule in München. Sie wird es also wissen, und so sagt sie uns, dass das Fahrverbot „geopolitischen Gefahren“ galt, „vielen dämmerte auch, dass es um die ökologischen Grundlagen des Lebens ging“. Ja, darum ging es sogar so sehr, dass die Energiekrise – hervorgerufen durch das Ölembargo der OPEC-Staaten im Gefolge des Jom-Kippur-Krieges – dazu führte, dass anschließend der Bau von 40 Atomkraftwerken initiiert wurde. Aber davon steht nichts in dem bunt schillernden Meinungsbeitrag, sondern eher davon, was wir für eine tolle Regierung hatten: „Die Regierung gewann damals an Autorität, weil sie in der Lage war, das Notwendige und offensichtlich Gebotene umzusetzen“. Und genau da verwechselt sie Ursache und Wirkung.
Dass die Sonntagsfahrverbote, was die Energiebilanz betraf, im Prinzip nichts brachten, schreibt sie nicht. Das passt nicht in ihre Story über die kollektive Vernunft, wie sie sich ihrer Meinung nach auch während der Corona-Pandemie zeigte: „Es war die Hochzeit der informierten Bürgerin, in Scharen hörten die Menschen Podcasts, sahen Informationssendungen, diskutierten, und sie nahmen bereitwillig die Zumutungen der Politik in Kauf“, schreibt sie über eine Zeit, die sie nun als Zeitzeugin selbst miterlebt hat. Ja, heißt es da weiter, eine Mehrheit sei gar zweimal unzufrieden gewesen mit der Politik, „weil die Pandemiemaßnahmen in ihren Augen nicht streng genug waren“.
Da bastelt sich eine Historikerin eine Wirklichkeit zusammen, wie sie der Staat, die Politik, gerne hätte – es ist die Wirklichkeit des braven, folgsamen, des überaus vernünftigen Bürgers, wie er sich in einer liberalen Demokratie auch selbst versteht. Dank der Kraft eines von der liberalen Demokratie nahezu perfekt inszenierten politischen Systems. So habe ich, der Leser, sie jedenfalls verstanden.
Denn diese liberale Demokratie habe „das politische System so arrangiert“, schreibt die Wissenschaftlerin, „dass – um im Bild zu bleiben – das Unterbewusstsein nicht das Über-Ich ausschalten konnte.“ Und dann setzt sie in Klammern hinzu: „… wenn doch ging es böse aus.“
Also: Wenn ich als braver, folgsamer Leser mich an die Kommentare in dieser täglichen „Zeitung für Deutschland“ während der Pandemie richtig erinnere, dominierte die staatlich erlassene Vernunft derart das Meinungsbild, dass man schon das Gefühl hatte, es ginge darum, die Rückkehr in den Naturzustand, in den Hobbesschen Krieg aller gegen alle, zu verhindern. Und die Presse war ganz erstaunt, als ihr plötzlich eine inhaltliche Zustimmung widerfuhr, wie sie diese schon lange nicht mehr erlebt hatte.
Mendelte sich in der Pandemie ein kollektiver Wille heraus, so scheint es jetzt ein eher kollektiver Unwille zu sein – mit der Politik und auch der Presse auf der einen Seite und dem Volk auf der anderen. Sie driften auseinander, giften sich gegenseitig an – so sehr, dass man glauben könne, der „Faschismus“ (Richter) drohe. Und dann kommt ein wirklich kluger Satz: „Vielmehr bedingen sich in der Demokratie Volk und Regierung gegenseitig, sie konstruieren sich miteinander, es ist ein Hin und Her. Im schlimmsten Fall ist es ein kontinuierliches Downgrading. Das ist momentan der Fall.“
Das überlegene und überlegte, kollektive Über-Ich, für das die Vernunft und unsere Demokratie stehen, gerät also in die „Abwärtsspirale der niedrigen Instinkte“ (Richter). Aber das muss ja nicht so sein – wie das Verhalten des Volkes während der Sonntagsfahrverbote vor 50 Jahren zeigten. Da herrschte offenbar Partystimmung auf den autofreien Straßen. Ja, als Zeitzeuge kann ich sagen, wir nahmen es mit Humor, hielten uns an Tempo 80 (Landstraßen) und Tempo 100 (Autobahnen). Dass sich dahinter ein Epochenwechsel ankündigte, schienen wir nicht zu sehen – oder wenn doch eher mit wohligem, aber ungläubigen Schaudern.
In Wirklichkeit war es doch ein Schock. „OPECalypse now“, titelte damals ‚Die Zeit‘. Wir intonierten das Pfeifen im Walde. Wir vertrauten der Politik.
Die Ölkrise von 1973/74 hat dann tatsächlich einen Epochenwechsel eingeleitet, in dem vor allem der Glaube an die Wirtschaft und an den technischen Fortschritt sich „downgradete“. Die Arbeitslosigkeit stieg, und es herrschte Inflation. Fast wie heute. „Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit“, hatte 1972 Helmut Schmidt posaunt. Da war er noch nicht Kanzler. Als er es war, bekam er beides – und heute scheint sich das zu wiederholen.
Noch nie waren 1972 so viele Bürger zur Bundestagswahl gegangen wie damals, als es hieß, dass wir mehr Demokratie wagen sollten. Nicht durch die Ölkrise gewann die Politik an Autorität, sondern die war schon vorher da. Wir waren voller Vertrauen – und deshalb akzeptierten wir auch die Fahrverbote. Auch als ein Zeichen guten Willens. Aber das Gefühl – „Die Republik, das sind wir“ –, das war, wenn es uns überhaupt bewusst war, schon vorher da. Denn es war eine hochpolitische Zeit. Die Ölkrise ließ in ihrem Gefolge dieses Gefühl eher verstummen. Es kamen kältere Tage.
Heute haben wir das Gefühl, dass die Demokratie selbst „gewagt“ wird. So heißt es jedenfalls. Jawoll! Das Unterbewusstsein darf das Über-Ich nicht ausschalten. Ob uns das so sehr aufrüttelt, dass wir bei den anstehenden Wahlen neue Rekorde bei der Wahlbeteiligung hinlegen, wäre zu wünschen – obwohl und weil wir, die Über-Ich-Bürger, wie nie zuvor das Ergebnis fürchten. Wir wählen aus Angst.
Keine Sorge: Wir fürchten uns ja schon. Das Unter-Ich ist über uns. Ja, die FAZ hat es auch begriffen: „Die Suppenkasper sind über uns“, betitelte sie den Meinungsbeitrag von Hedwig Richter.
Und wo bleiben die Suppenkasperinnen?
„Das Peinlichste am Schwabenlande, mal von der Landschaft abgesehen, sind die Schwaben.“
Max Goldt (*1958), deutscher Schriftsteller
Der Quantitätsjournalismus und andere Verschwindsüchte
27,3 Millionen Tageszeitungen wurden 1991 verkauft. 2022 waren es nur noch 10,9 Millionen. 1999, als Google gerade einmal ein Jahr alt war, waren es bereits drei Millionen weniger. 2008 waren es vier Millionen weniger, 2016 waren es dann fünf Millionen und inzwischen werden es sechs Millionen sein. Da kann man sich ausrechnen, wie viele es nun zu Beginn der dreißiger Jahre sein werden: Gerade einmal drei Millionen, also etwa zehn Prozent dessen, was man vierzig Jahre zuvor verkauft hat.
Die Werbeumsätze der Zeitungen sanken – trotz Digitalisierung und Diversifizierung ihres Geschäftes – von 4,7 Milliarden Euro in 2003 auf 1,9 Milliarden Euro in 2022 und sollen auf diesem Niveau verharren. Und das bei sinkenden Auflagen? So zeigen es jedenfalls die bei Statista ausgewiesenen Zahlen. 6,5 Milliarden Euro setzen Tageszeitungen insgesamt noch um. Ein Drittel kommt – soweit einem als Bürger da Zahlen zur Verfügung stehen – aus der Werbung. Für zwei Drittel des Umsatzes sind also wir, die Leser und Abonnenten, zuständig. Wie lange noch können und wollen wir das bei ständig steigenden Gebühren bezahlen? Die Schmerzgrenze ist erreicht.
Als ich vor fünfzig Jahren als Tageszeitungsvolontär begann, hieß es, dass zwei Drittel der Umsätze aus der Werbung kommen – und ein Drittel aus den Abos. Das hat sich bei überall sinkenden Werten komplett umgekehrt. Dahinter steht also ein Megatrend, den auch die E-Papers nicht haben wirklich drehen können – und auch niemals mehr die Leser-Blatt-Bindung erzeugen werden, die es bis in die neunziger Jahre hinein noch gab, als niemand auf der Welt von Qualitätsjournalismus sprach – und ich mir, der sich 1981 selbständig machte, über ein Geschäftsmodell nie habe wirklich Gedanken machen müssen.
Der heutige Qualitätsjournalismus besteht darin, dass ich mir vor allem über mein aus Reichweite, Verweildauer und Follower zusammengesetztes Geschäftsmodell Gedanken machen sollte – aber ich bin zu meinem Glück kein Qualitätsjournalist, auch nenne ich mich – zur Steigerung meiner Autorität – nicht Investigativ-Journalist, ich bin ein Schreiberlein (oder Schreiberling), der sich seit den achtziger Jahren jede Menge neuer Techniken angeeignet hat. Vieles davon macht mehr Spaß als das Schreiben. Geld verdienen kann man mit alldem nicht wirklich. Wirkmächtig muss man sein, ein Wort, bei dem sich mir der Magen umdreht. Die dazu passende Schreibtechnik nennt sich „Narrativ“. Wir sollen unseren Leser etwas erzählen. Und das tun wir dann ja auch – mit allem, was wir nicht mehr können, nämlich so zu schreiben, dass daraus eine gute Story wird. Wir sind viel zu sehr besessen davon, wirkmächtig zu sein, also dem Geschäftsmodell zu dienen. Zynismus schimmert dann überall durch. Im Grunde unseres Herzens verachten wir Journalisten uns selbst.
Früher hieß es, und das war Ehrensache, dass das Wichtigste eines Artikels „oben“ stehen müsse, jetzt muss ich mich durch Sermone hindurchquälen, um dann am Ende eine Nachricht zu erhalten, die in ihrer Qualität in keinem Verhältnis zu der vorher durchgearbeiteten Quantität steht. Ich lese solche Artikel nicht mehr. Wohlgemerkt, es geht um eine Nachricht, nicht um eine Reportage oder Analyse. Ich fühle mich dann getäuscht – und halte dies für reinen Quantitätsjournalismus.
Nun kommt ein Verleger namens Mathias Döpfner daher und erzählt uns heute in der FAZ, dass er keine Angst mehr vor Google (Alphabet) habe – trotz der alles überwältigendem Zahlen. Denn nun werde sich die Politik darum kümmern. „Warum wir Google nicht mehr fürchten“, lautet die Überschrift. Wer ist „wir“? Das sind wir alle. Natürlich. Denn nun geht es bei uns allen ums Eingedachte, um das geistige Eigentum. Dank KI, diese geklaute Cloud-Intelligenz, bleiben einem nur noch Kalauer.
Long story short: Den eigenen Niedergang nicht verhindert, sondern eher beschleunigt haben die Verleger selbst. Sie hatten alles in der Hand – die Kleinanzeigen, die Markenanzeigen. Sie haben einen Weg gefunden, alles zu verlieren. Geblieben sind ihnen nur noch die Todesanzeigen, bald sind es die eigenen. Sie hätten – und es gab ja dazu bereits vor zwanzig Jahren Anläufe – ihre eigenen Social Media inklusive Suchmaschine bauen können. Immerhin hatten sie dazu fast drei Jahrzehnte Zeit. Sie hätten sich nur zusammenschließen müssen. Stattdessen wollten sie Rundfunker werden. Döpfner erzählt uns, dass sein Springer-Konzern sich gerne 2005 mit der – vom Kartellamt abgelehnten – Übernahme von Pro Sieben der wachsenden Werbemacht Googles hätte erwehren wollen. Oh, diese dummen Beamten!
Er scheint wohl bis heute nicht begriffen zu haben, dass der Kampfplatz längst ganz woanders war. Und als es dann er und seine Verlegerkollegen merkten, war es viel zu spät. Und nun will er die Verantwortung weitergeben an die Politik. Da wird er sich aber noch wundern. Die Politik bekommt ja noch nicht einmal die Digitalisierung des Staates hin.
Wir, die Leser (und ich bin bis heute ein sehr begieriger
Leser), haben nur eine Chance – nämlich gar keine. Wir werden weiterhin die
Abos kündigen und uns an die Kultur der E-Papers gewöhnen – Frühstück und
Zeitung servieren wir uns selbst auf dem Tablett. Raimund Vollmer
Die Freiheit eines Sklaven misst man an der Länge ihrer Kette
Stanislaw Lec (1909-1966), polnischer Schriftsteller1747: „Der menschliche Körper ist eine Maschine, die selbst ihre Triebfedern aufzieht – ein lebendes Abbild der ewigen Bewegung.“
Julien Offray de La Mettrie (1709-1752), französischer Arzt und Philosoph, in seinem Buch L’homme machine“
1958: Große dampfende Wolken ziehen in der Dunkelheit da oben vorüber; dadurch kommt mir zum Bewusstsein, dass der Planet, auf dem Wir leben, wirklich existiert.
Jack Kerouac (1922-1969), amerikanischer Autor der Beat Generation[1]
Der Prozess...
und das Ende der kritischen Vernunft
Meine Damen und Herren. Es ist Montag, 2. September 1974. Ort des Geschehens ist Düsseldorf, Königsallee.
Endlich im Olymp. Endlich auf der Königsallee, der Champs-Elysées Düsseldorfs, zwar nicht auf der Promenadenseite, sondern gegenüber, auf der Schattenseite, da, wo die Großbanken ihren dunklen Geschäften nachgingen, dort war in einem Gründerzeitgebäude im ersten Stock die Zentralredaktion der WZ Düsseldorfer Nachrichten. 14 Monate Mönchengladbach lagen hinter mir. Ich war Teil des kollektiven Nachrichten-Prozesses geworden. Das Leben aus dem Ticker, die Tag und Nacht ratterten. Heute hört man sie nicht mehr. Heute kommen sie lautlos herein - und formen einen Nachrichtenfluss, der uns inzwischen auf allen Kanälen umspült. Tag und Nacht. Jetzt. Jetzt. Jetzt. Unaufhörlich. Wir sind nur noch damit beschäftigt, die Welt zu codieren - in Nullen und Einsen, aus denen dann irgendetwas entsteht, das bereits in der nächsten Nachricht vergeht.
Es gibt kein Halten mehr - nicht wie damals, wenn um 18.00 Uhr sich die Tageschau aus Hamburg erstmals in das Geschehen einschaltete und uns sagte, was heute das Wichtigste sei. Danach entstand in der Königsalle die Seite 1, der Aufmacher. Unwiderruflich. Und am nächsten Tag lasen die Leute das, was sie am Abend vorher im Fernsehen gesehen und gehört hatten. So wollten sie es. Wer davon abwich, verlor seine Leser. Wir wollten Zeit, um kritische Vernunft walten zu lassen.
Doch nun herrscht der Prozess. Es ist Sonntag, 14. April 2024.
Hinter dem Denken in Prozessen steht das weite, alles überlagernde Feld der instrumentellen Vernunft. Sie „steht stets hoch im Kurs“, meinte 1974 Gerd Haffmans, damals Cheflektor des Diogenes-Verlags in Zürich, „die kritische Vernunft zielt auf die Substanz und wird verdrängt“.[2] Endgültig.
Die instrumentelle Vernunft manifestiert sich in der Technik – bis in unsere Sprache hinein, die sie voll und ganz auf ihre Seite zieht – selbstverständlich in einem langen und somit kaum spürbaren Prozess, in der Entwicklung der Sprachbilder. „Staaten wurden zu Maschinen, Menschen zu Uhrwerken, Gedächtnisse zu Schallplatten“, schrieb 1991 die ‚FAZ‘.[3]
Mehr noch: die Technik reklamiert längst eine ganze Sprache für sich. Es ist das Englische. Sie nistet sich ein mit zumeist und zutiefst banalen Ausdrücken in die Natursprachen der Welt. Die Benutzung von Anglismen gilt überall als chic und modern, passt wunderbar in die Werbung.
Wir leben in der Cloud.
Dort will ich
freier atmen
dort will ich ein Alphabet erfinden
von tätigen Buchstaben
Hilde Domin (1909-2006), deutsche Lyrikerin in ihrem Gedicht ‚Flucht‘[4]
In Wahrheit sind die meisten Slogans peinlicher Kitsch. Jeder Engländer würde sich ihrer schämen.
Die kritische Vernunft befindet sich derweil auf dem Rückzug. Noch residiert sie vor allem in der modernen Kunst, befand der Philosoph Theodor W. Adorno. In der Welt als Vorstellung, als Entwurf, als Gegenentwurf. Die Kunst stört – vor allem dann, wenn sie mehr ist als nur Design und Wohnzimmer-Dekoration. Darin werden Kunst und kritische Vernunft identisch.
Vielleicht wird jetzt beiden der Garaus gemacht. Durch die KI. Durch die künstliche Kunst. Die Kunst wird formal zum puren Design, zur puren, sterilen Optik, zur Virtuellen Trivialität.
Wir brauchen die kritische Vernunft nicht mehr. ChatGPT übernimmt. Den widerspenstigen Rest regelt eine unerbittlich daherkommende Moral, die kein Pardon mehr kennt.
Ein Zeitalter unerträglicher Gleichförmigkeit wartet auf uns. Aber das – so möchte man boshaft ergänzen – die meisten bekommen das gar nicht mehr mit.
Der bürokratischen Zeit konnte die kritische Vernunft immer nur hinterherhecheln – oder sie ignorieren. Beides kostet unglaublich Kraft, wie wir seit Kafka wissen. Die bürokratische Zeit ist uns stets ein Formular, ein Memo, ein Paragraph, eine Vorschrift voraus. Egal, ob analog – als Papier – oder digital – als App.
Buchhändler verschwinden, Buchhaltung bleibt.
Die bürokratische Zeit siegt immer. Im Verein mit der Technik. Bislang. In Wahrheit hat sie nichts aufzuweisen. Nur den Sieg. Den täglichen Sieg. Über uns. Mit Haffmans möchte man sagen, das ist „ihre durchgängige Triebstruktur, die kein anderes Konstruktionsprinzip kennt als Fressen und Gefressenwerden, mit dem alleinigen Zweck, sich selbst zu reproduzieren.“ [5]
Technik und Bürokratie verhalten sich wie Kannibalen. Sie jagen, kochen und braten sich selbst. Wir nennen es dann Fortschritt. Aber in Wirklichkeit ist es rasende Sinnlosigkeit.
2001: Es ist ein Wahn zu glauben, dass Technik irgendetwas ändern kann.
Hans-Georg Gadamer (1900-2002), deutscher Philosoph[6]
Die Technik steuert in ihrer Eigendynamik auf einen Punkt zu, von dem aus der Mensch völlig bedeutungslos wird. Bald wird es auch keine Autoren mehr geben – wie es sie noch gab, als ich ein tapferes Schreiberlein werden wollte. Damals, 1973/74, als noch schwerer Bleisatz auf dem Beruf lastete. Damals, als wir hinter jedem Leser kritische Vernunft witterten. Und heute, 50 Jahre später, in einer Zeit, in der sich alles, was ich schreibe, in resonanzfähige Nullen und Einsen auflöst, erfahre ich, dass das mit der kritischen Vernunft nicht ganz so toll ist. Du verstummst. Und darfst nicht einmal beleidigt sein. Das gebietet die instrumentelle Vernunft, die alles beherrscht. Kritik ist unprofessionell. Es gibt keinen Ausweg mehr.
***
Wer ahnte damals, dass die Bürokratisierung irgendwann die Digitalisierung aller Lebensverhältnisse bedeuten würde! Von der Wiege bis zur Bahre. Big Brother is watching you, Big Data is catching you.
Selbst die historische Zeit wird überwältigt, die Welt der großen, epochalen Ereignisse, die uns so lange in ihren Bann gezogen hatten und mit dem Fall der Mauer 1989 ihren größten Triumph feierten. Das war höchste Sinnerfüllung.
Dachte ich jedenfalls.
„Nach unserem ersten unbezweifelbaren Prinzip (ist) die historische Welt ganz gewiss von den Menschen gemacht worden“, schrieb 1725 der italienische Philosoph Giambattista Vico (1668-1744) in seinen Werk „Szienza nuova prima“, Neue Wissenschaft.[7] Aber die bürokratische Welt hat sich vom Menschen abgewandt. Sie folgt nur sich selbst – und der Technik, ihrem alter ego.
Nun stehen wir vor dem „Ende der Geschichte“. So der Titel eines Weltbestsellers, der zuerst als Essay 1989 veröffentlicht worden war. Dessen Autor war der Harvard-Gelehrte Francis Fukuyama (*1952). Irgendwie stehen wir tatsächlich vor dem Ende der menschengemachten Geschichte, wie sie Vico beschwor.
Vielleicht ist sogar einer wie Putin das abschreckende, letzte Beispiel für menschengemachte Geschichte.
Bisher erschienen:
Teil
1: Der Zukunftsschock // Teil
2: Der Sturz des Menschen // Teil
3: Das Prinzip Verantwortung //Teil
4: Fehler im System // Teil
5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil
6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil
7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil
8: Die Seele und der Prozess // Teil
9: In diktatorischer Vertikalität // Teil
10: Über das Über-Über-Ich // Teil
11: Die demente Demokratie // Teil
12: Welt der Befehle // Teil
13: Fridays sind für die Future // Teil
14: Das Systemprogramm // Teil
15: Die alltägliche Auferstehung // Teil
16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil
17: Der Prozess // Teil
18: Unter Zeitzwang // Teil
19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil
20: Die digitale Stallfütterung // Fortsetzung folgt