Dienstag, 5. November 2024

Zum Wahltage: Vater und Sohn

 Die Anti-Politik

 Mein Vater, der vor vierzig Jahren starb, war CDU-Mitglied. Und so war er natürlich nicht sonderlich glücklich, als es 1969 zur ersten sozial-liberalen Koalition kam. Ich, der ich damals noch gar nicht wählen durfte, war es umso mehr. Ich freute mich. Endlich Ende der großen Koalition, einer Koalition, die damals wirklich noch groß war

Aber dann sagte er etwas, was fortan mein Denken über Politik nachhaltig prägte. Das sei ja nicht so schlimm, denn im Bundesrat haben  CDU/CSU die Mehrheit und nach zwanzig Jahren der Kanzlerschaft von CDU und CSU seien alle entscheidenden Jobs in der Verwaltung mit Mitgliedern des konservativen Teils besetzt. Zudem würden CDU/CSU im Bundestag die größte Fraktion bilden. So begann damals die heißeste Phase in der noch jungen Geschichte der Bundesrepublik. Sitzungen des Bundestages, zumal dann, wenn Franz-Josef Strauß (CSU) sich mit einer Rede ankündigte und die Debatte im Fernsehen live übertragen wurde, waren regelrechte Straßenfeger. Tagsüber. Dann, wenn die Bundesrepublikaner und Bundesrepublikanerinnen zu arbeiten hatten. Politik war wichtiger als alles andere – und man hatte das Gefühl, keiner hatte zu viel Macht.

Damals lernte ich, dass es gut ist für eine Demokratie, wenn die sie tragenden Institutionen nicht in einer Hand versammelt sind, sondern auf durchaus verzwickte und komplexe Weise auf viele verteilt ist. Die Gefahr einer „totalen Verwaltung“ (Max Horkheimer), sich in eine “totalitäre Verwaltung“ zu verwandeln, bestand kaum. Und die Gewaltentrennung tat ihr Übriges. Das Parlament war die höchste und vornehmste Institution.

Das Charisma der frühen Jahre ist längst verschwunden. Die Leidenschaft, die uns damals über alle Parteigrenzen, alle Differenzen hinweg in gegenseitiger Toleranz  miteinander verband, weicht mehr und mehr einem Gefühl des dumpfen, irrationalen Hasses aufeinander.

In einem mich sehr nachdenklich machenden Essay des Londoner „Economist“ wird diese Tendenz als „negative Parteinahme“ und „Antipolitik“ bezeichnet. Und mit dem heutigen Wahltag in den USA werden wir davon nun ein Paradestück erleben und möglicherweise den Höhepunkt dieser Antipolitik – einer Entwicklung, die mit den neunziger Jahren begann, mit dem Fall der Mauer und dem Fehlen eines äußeren Feindes, der nach altbekannter Weise, den inneren Zusammenhalt stets fördert.

Mit dem Ende des Kalten Krieges verlegte sich stattdessen der Konflikt ins Innere. Von diesen Konflikten haben wir so viele inzwischen, dass der Anteil dessen, was wir gut finden, sich auf ein Minimum reduziert.

Die Wahlen in 50 Ländern zwischen 1961 und 2021 hat der Economist gemeinsam mit Wahlforschern in einer 274 Wahlen umfassenden Studie untersucht – und ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass auf einer Skala von 0 bis 10 bis etwa 1980 die Zustimmung für die eigene Partei gestiegen ist – auf fast acht Punkte. Mit den neunziger Jahren sank sie auf knapp über sieben Punkte. Das wirkt letztlich immer noch stabil. Doch rapide sank die Sympathie für gegnerische Parteien von ehedem mehr als vier Punkten auf fast zwei, sie halbierte sich praktisch. Der Argwohn: es ist fast schon zum Geschäftsmodell der Politik geworden, die latent sicherlich in gewisser Weise stets vorhandene emotionale Ablehnung des anderen zu schüren. Weltmeister darin ist natürlich der Mann, der gerne wieder Präsident der Vereinigten Staaten werden will. Aber wir spüren dies in unserem Land nicht nur in dem sich gegenseitig zersetzenden Verhalten in der Koalition, sondern in den hiesigen Beurteilungen der kriegerischen Auseinandersetzung in Israel und in der Ukraine. Da ist oftmals so viel Scheinheiligkeit dabei, dass man schon gar nicht mehr anders kann, als zu dem Eindruck zu kommen, dass es in Wahrheit nur noch um das Polarisieren geht. 

Wer sich einmal in eine mehr oder minder fragwürdige Position verrannt hat, ist bereit, auch Lügen zu akzeptieren, wenn sie denn der eigenen Meinung dienen und die „negative Parteinahme“ stärken. Ja, man sei sogar bereit, seinen  eigenen Interessen zu schaden, wenn am Ende der Gegner weitaus stärker belastet wird.

Es ist ein ungutes Klima, das auch Deutschland längst erfasst hat. Und ein großer Teil der Politik und der Publizistik wirkt daran mit, weil es die Aufmerksamkeit fördert. Dies ist mehr und mehr unverantwortlich. Und um Verantwortung geht es denen, die da schüren, in der Tat schon gar nicht.

Letzten Endes ist dies aber eine Bankrotterklärung der Politik, die nicht mehr in der Lage ist, eine positive Parteinahme in den Vordergrund zu stellen. Zugegebenermaßen: sie hat auch auf den traditionellen Feldern einer Erfolgsstrategie keine Unterstützung mehr. Wir sehen das Missmanagement in der Wirtschaft, wir sehen den fehlenden Mut auf der Unternehmerseite, wir spüren die Überwältigung aller Lebensverhältnisse durch administrative Verfahren, wir ersticken in Anpassungsprozessen, die eigentlich nur sich selbst zum Ziel haben: die Anpassung. Wir transformieren uns in absolute Sinnlosigkeit.

Es wäre an der Zeit, wieder zurück zu einer positiven Einstellung zu Politik und Gesellschaft zu kommen. Sie wird aber bestimmt nicht über die traditionellen Felder (z.B. Wohlstandspolitik) kommen. Denn wenn die jetzige Periode irgendeinen Sinn hat, dann den, dass es nicht Wohlstand und Technik sind, die Menschen einen und den Hass besiegen. Die Menschen wollen als Menschen wahrgenommen werden – und nicht als Smartphone.

So habe ich vor 65 Jahren Politik erlebt - zwischenmenschlich und nicht medial gepusht. Uns haben vorrangig die Themen bewegt. Und es war auch im Widerstreit der Institutionen ein tolles, intellektuelles Schauspiel, das uns geboten wurde. Heute zanken sie nur noch ums Geld, das in erster Linie dazu dient, sich selbst zu erhalten – und nicht die Aufgaben zu erfüllen, für die man sie dereinst geschaffen hat. Vielleicht ist diese Art der Entfremdung das Grundübel. Wir haben uns alle voneinander entfernt.

Ich weiß, dass ich damals mit meinem Vater gerne über Politik diskutiert habe. Leidenschaftlich von meiner Seite, überlegen von der Seite meines Vaters. Bitterbös wurde es nie, weil er mich verstand und ich ihn mit der Zeit auch.

Raimund Vollmer

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Es war der Zeitgeist einer Erneuerung! Zudem gab es eigentlich nichts, was man derzeit herüber retten konnte! Das Schweigen vieler Väter über das was war, hatte eher deren Gesprächsebene gefüllt, die wenn man unter Alkohol und angeheitert war so spontan heraus brach - na, der Zeitgeist einer manipulierten Hitler-Jugend, sich Dinge schön zu reden! Die Generation vorher - die "Monarchisten" wurden Großväter! Heutige Großväter? Tja, erklären heute den Enkeln die Pseudo-Wirklichkeit der Dinge! Es ist nicht verwunderlich, dass wir nach 70 Jahren auf einmal DOKUMENTATIONEN sehen, so auch Trümmerfelder die man lange in den Schubladen gelassen hat,
bis auch die Letzten Mitläufer verwaltend auf Friedhöfen gelandet sind! Also so gesehen hat die Zeit geputzt.

Im jetzigen KONSUMISMUS steht anstatt gemeinschaftliche Verantwortung die "JETZT-UND-ICH" Welle der Spontanisten bei Entscheidungen im Vordergrund. Fakt ist: Denkfaulheit kennt kein vernetztes Denken! Am wenigsten die Folgen daraus - also Zukunft! Erkennt somit nicht die Modelle der Territorial-Denker, denen das Leben innerhalb dieser Landschaften am Allerwertesten hinunter gehen. Kollateralschäden - werden hier zur strategischen Sache - die als Sachlast (die Einbeinigen) zur Gesellschaftsaufgabe abgegeben werden!
Doch welcher >Gesellschaft< in welchem Zustand dann?
Jetzt mal ehrlich! Allein das Schweigen ist gefährlich!

Detlev
Mein Vater, Kavallerie Russland-Feldzug hatte eine Schussverletzung im linken Bein von links geschossen! Gab an er sei Rechtshänder! Keine Hinrichtung! Wollte Pianist werden - er war Beidhänder!!! Hat aber nie in seinem Leben über diese Entscheidung gesprochen! In einer vielfältig verlogenen Folge-Zeit!