2020:
»Ich glaube in der Demokratie
an die Kraft der Vernunft und der Verantwortung.«
Angela Merkel als deutsche Bundeskanzlerin, am 2. November 2020 vor der Bundespressekonferenz
Die unpolitische Politik
Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik
Wohin treibt die Bundesrepublik? Als sich der Philosoph Karl Jaspers (1883-1969) diese Frage stellte, startete Westdeutschland gerade in seine erste Nachkriegsrezession. Es war das Jahr 1966. Es war das Jahr, in dem Ludwig Erhard nach nur drei Jahren im Amt als Kanzler zurücktrat. Sein Wirtschaftswunder war zu Ende. Der große Erhard hatte versagt, niemand anders. Nicht die Wirtschaft, erst recht nicht die Politik. Diese gab sich – fortan, wenn sie nicht weiter wusste – einfach eine Große Koalition. Und als das auch nichts mehr nützte, schaltete sie um auf eine Ampel, in der alle Farben sich schneller abwechseln, als man als Bürger denken kann.
Zurück zu Jaspers. Die Dauerkrise von Kohle & Stahl war es nicht, die den angesehenen Philosophen, der ein Jahr später Schweizer Staatsbürger werden sollte, so beunruhigte: „Die Demokratie der Bundesrepublik wandelt sich vor unseren Augen. Es werden Wege beschritten, an deren Ende es weder eine Demokratie noch einen freien Bürger geben würde, vielleicht ohne dass die, die sie gehen, dieses Ende wollen.“ So schrieb Jaspers 1966 im deutschen Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘.
Wir waren dabei, uns selbst ins Aus zu steuern. Der unterschwellig geführte Kampf der Gemeinschaft, also des Staatswesens, gegen die Gesellschaft, also der privaten Sphäre, hatte begonnen. Sechzig Jahre später erscheint es so, als sei diese Auseinandersetzung in seine entscheidende Phase getreten.
Beide Seiten kämpfen um die Demokratie. Die Gemeinschaft und die Gesellschaft. Oder tun sie nur noch so – als ob? Ist alles längst eine gewaltige mediale Inszenierung? Herrscht längst das große „Als-ob“? Wir gehen auf die Straße und demonstrieren, als ob die Demokratie tatsächlich gefährdet wäre. Wir führen martiale Prozesse gegen spinnerte Reichsbürger, die so tun, als ob es die Bundesrepublik Deutschland gar nicht gäbe, und der Staat macht daraus eine Bedrohung, deren Bannung sich durch gefilmte Verhaftungen äußerst medienwirksam inszenieren lässt. Alles hat einen Show-Charakter –von der Empörung bis zu Verschwörung.
Anschließend tun alle so, als ob nichts davon beabsichtigt, alles authentisch war.
Und wehe dem, der da zweifelt!
So wirkt selbst die Entrüstung gut inszeniert. Wir gehen auf die Straße. Wir retten die Demokratie – vor allem aber retten wir die Politik des Establishments, die nur dann gegen die AfD das Bundesverfassungsgericht bemühen will, wenn sie weiß, dass sie gewinnt. Man unterstellt also, dass das Recht größer ist – ja, als was, als die Demokratie?
Für uns war und sollte die Demokratie immer das Größte sein – nicht, weil wir wählen können, auch nicht, weil wir protestieren können, das alles schon, aber besonders, weil sie die staatlichen Gewalten trennt. Darauf beruht unser Vertrauen, unser Ur-Vertrauen. Der Politik in Exekutive und Legislative erscheint diese Gewaltentrennung offenbar als ein Risiko. Man könnte fast meinen, als habe sie Angst vor der Demokratie. Das aber wäre sehr unpolitisch. Da stellt sich schon die Frage: Haben wir nicht längst eine sehr unpolitische Politik?
So nähern wir uns einem Punkt, an dem viele von uns komplett orientierungslos sind. Fassungslos stehen sie vor ihrer Demokratie und wissen nicht so recht, was sie mit ihr anfangen sollen in einer Welt voller Verordnungen und Vorschriften, Bußgeldern und Paragraphen, voller Bürokratie, der eigentlichen politischen Macht in Deutschland. Einer Macht, die sich permanent selbst belohnt, durch noch mehr Macht, über die sie dann findungsreich wacht. Sie tut so, als ob sie uns an ihrer Macht teilhaben lässt. Und wir, wir fallen regelmäßig darauf rein – auf dieses „Mehr Demokratie wagen“.
Das gipfelt nun in der Gründung von Bürgerräten, diesem selbstbetrügerischen „Als-ob“ der Demokratie. Die Regierung wählt sich ihr Volk per Zufallsgenerator. Und davon wird es bald soviele geben, dass wir uns fragen werden, warum wir überhaupt noch wählen gehen. Wir kommen zur Sache – und nur noch zur Sache, sei es unser Ernährung, sei es unsere Umwelt, sei es demnächst mal unser Gseundheitssystem oder unsere Renten. Die Politik überlassen wir den Parteien, die sich mit den Bürgerräten nur eine neue Bühne schaffen – oder glauben wir wirklich, dass sich ein Bürgerrat mal mit dem Sachproblem „Partei“ beschäftigen darf?
Halsstarrig wie die Parteien sind, beharren sie auf ihrem überkommenen Geschäftsmodell. Uns gönnen sie nur alle vier Jahre einen winzigen Augenblick der Mitbestimmung – und zersplittern ihn auch noch in eine Erst- und in eine Zweitstimme. Das neue Wahlrecht lässt nun auch noch zu, dass beide Stimmen so miteinander vermengt werden, dass der Bürger seine eigene Stimme nicht mehr wiedererkennt. Und die Parteioberen haben auf ihrem Weg der Auslese freie Bahn. Sie allein bestimmen, wer mit der Wahl ins Parlament darf und wer nicht. Durch Schiebung der Listenplätze. Vielleicht sollte man sie vorab meistbietend versteigern!
***
Am Ende steht – wie nach der Wahl 2021 – bereits die „Ampel“, die Koalition aus Rot, Gelb und Grün, der Große Parteibürgerrat. Und wir ahnten: diese Ampel steht mehr für Regulierung als für Regierung. Rund 300 Bürdenträger aus Partei und Parlament, aus Ministern und Ministerpräsidenten hatten in 22 Arbeitsgruppen ein Pflichtenheft erstellt, nach dem alles programmiert werden sollte, was die Ampel in den nächsten vier Jahren steuern werde.
Berlin ist eine Maschine – eine Maschine, die sich selbst bedient – und das auch noch bei den Bürgern. Großartig dokumentiert durch die bestens moderierten Bürgerräte.
Da stellt sich schon die Frage: Können wir die Demokratie so lassen, wie sie ist? Ihr jetziger Vorteil: sie schadet nicht – den Mächtigen, den Politikern und Bürokraten. Ihr Nachteil: sie nützt auch nicht – den Ohnmächtigen, uns, den Bürgern. Sollen wir alles einfach ignorieren? Still sein, schweigen? Matt & Patt?
Nein, wir gehen ja auf die Straße. Gegen die AfD. Das ist gut. Da sind wir auf der sicheren Seite. Wir haben Recht – und mit uns unser Staat und unsere Demokratie.
Auch eine Form des „Als-ob“.
„Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, sagt Bert Brecht in seiner „Dreigroschenoper“, 1928 in Berlin uraufgeführt. Bei ihm ist der Mensch schlecht, in unseren Zeiten ist der Mensch vor allem gut. Es wurde ja auch Zeit. Eine gewaltige Transformation liegt somit hinter uns. Und was haben wir davon?
Als Gemeinschaft sind wir ratlos und als Gesellschaft stumm. Dahinter steht ein schleichender Prozess, der irgendwann begann, aber spätestens seit den neunziger Jahren unsere großen Denker beunruhigt. „Erleben wir nur eine vorübergehende Periode der Unsicherheit?“, fragte 1998 der liberale Großdenker Ralf Dahrendorf. „Oder ist gar die Demokratie, wie wir sie kennen, am Ende?“[1] Eine ungeheuerliche, querdenkerische Frage, die heute nur einer wie er stellen dürfte – ohne als ein Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt zu werden. Aber Dahrendorf lebt nicht mehr.
Was wäre seine Antwort? Jetzt. In Zeiten von Pandemie, Putin und AfD?
Ein knappes Vierteljahrhundert später wissen wir immer noch nicht, was wir denken sollen. Wohl fühlen wir uns nicht – als Gemeinschaft, die alles geregelt haben möchte. Wirklich frei sehen wir uns auch nicht – als Gesellschaft, die dereinst über alles redete und sich nicht moralisch überforderte.
Wir wissen nicht mehr, was wir sagen können oder sagen dürfen. Wir erzeugen nur noch Studien, die alles belegen – vor allem das Gegenteil. Die Wissensgesellschaft erstickt an sich selbst. Wir sind hochgradig verunsichert. Wir trauen einander nicht mehr. Nur die Angst eint uns noch.
Ein ziemlich teures Vergnügen.
BISHER ERSCHIENEN
Teil 1: Der Zukunftsschock // Teil 2: Der Sturz des Menschen // Teil 3: Das Prinzip Verantwortung //Teil 4: Fehler im System // Teil 5: Goethe und der Maschinenmensch // Teil 6: Unter dem Himmel des Friedens // Teil 7: Auf dem Weg ins Wolkengooglesheim // Teil 8: Die Seele und der Prozess // Teil 9: In diktatorischer Vertikalität // Teil 10: Über das Über-Über-Ich // Teil 11: Die demente Demokratie // Teil 12: Welt der Befehle // Teil 13: Fridays sind für die Future // Teil 14: Das Systemprogramm // Teil 15: Die alltägliche Auferstehung // Teil 16: Vater User, der Du bist im Himmel // Teil 17: Der Prozess // Teil 18: Unter Zeitzwang // Teil 19: Die Uran-Maschine und das Jetzt // Teil 20: Die digitale Stallfütterung // Teil 21: Die unpolitische Politik // Teil 22: Verordnung statt Ordnung // Teil 23: 1974 - Das verlorene Jahrzehnt // Teil 24: Die Pandemokratie // Fortsetzung folgt
10 Kommentare:
Die Farben der Ampel wechseln doch nicht - sie steht unveränderlich auf Rot
Haben wir noch große Denker? Von Vordenkern möchte ich gar nicht reden im Lande der Dichter und Denker
"Beide Seiten kämpfen um die Demokratie. Die Gemeinschaft und die Gesellschaft. "
Nein! Die eine Seite kämpft um die Durchsetzung von Parteitradition, Ideologie und Machterhalt, die andere um Besitzstandswahrung. Keiner kämpft um die Demokratie.
Die Floskel Demokratie wird in die Standpunkte verwoben, die eigene Absichten untermauern soll.
WARNUNG
Wer Demokratie nachmacht oder verfälscht
Oder nachgemachte oder verfälschte sich verschafft
Und in Verkehr bringt, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter zwei Jahren bestraft.
Das weitere regeln Bürgerräte
Wir brauchen Nachdenker!
Vordenken ist zumeist etwas Vorläufiges.
Und wie wäre es mit Vorausdenken?
Wie es unser Bundeskanzler und der Verteidigungsminister machen.
Vater, wir müssen das gleiche wie die Bürger üben und weichen, wo es sein muss, und auf sie hören.
Antigone zu Ödipus
Sophokles: Ödipus auf Kolonos
Jeder sieht ein, wie lobenswert es für einen Herrscher ist, wenn er sein Wort hält und ehrlich, ohne Verschlagenheit seinen Weg geht. Trotzdem sagt uns die Erfahrung unserer Tage, dass gerade jene Herrscher Bedeutendes geleistet haben, die nur wenig von der Treue gehalten und es verstanden haben, mit Verschlagenheit die Köpfe der Menschen zu verdrehen; und schließlich haben sie über die die Oberhand gewonnen, die ihr Verhalten auf Ehrlichkeit gegründet haben.
Nocolo Machiavelli
Inwieweit Herrscher ihr Wort halten sollen
Stuttgart 1978
Zur Erlangung oder Erhaltung politischer Macht ist jedes Mittel unabhängig von Recht und Moral erlaubt.
Machiavelli
Wie meinte schon Hölderlin: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, dass ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte“.
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