Freitag, 10. Mai 2024

Gedankenexperimente aus tausend und einer Seite (Teil 26) HEUTE: DIE BUNDESREPUBLIK (6)

 1996: »Es steht außer Frage, dass wir eine Krise des politischen und philosophischen Denkens durchleben. «

Andrzey Szczypiorski (1928-2000), polnischer Schriftsteller und Teilnehmer am Warschauer Aufstand[1]

Wir haben die Wahl

Von Raimund Vollmer  

Anlässlich 75 Jahre Grundgesetz und Gründung der Bundesrepublik

 

Wir brauchen dringender denn je die äußere Gesellschaft, die lebendige, angstfreie, vorbehaltlose Diskussion, die Freude an der Meinung der anderen. Doch wir spüren irgendwie, dass wir uns in Richtung eines totalitären Systems bewegen, eines gewaltigen Tankers, an den wir – um mit Heisenberg zu sprechen – jede Menge Orientierungsmarken heften, die uns aber auf hoher See überhaupt nichts nützen. Wir treiben dahin. Die Angst lenkt uns aus allen Richtungen zu dem Ende aller Wege, zum Nirgendwo. 

Daran sind wir dann auch noch selber schuld. So „liefert nicht zuletzt die deutsche Gesellschaft selbst deutliche Hinweise darauf, dass die Formierung und Mobilisierung freier (auch akademisch gebildeter) Bürger jenseits des Staats- und Parteiwesens keineswegs zur Stabilisierung von Demokratie und Zivilität beitragen müssen“, meinte 2018 der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter (*1956). Er ist sehr brav. Das Ziel der Demokratie ist aber nicht deren Stabilisierung, sondern deren spontane Vielfalt, die wir an jedem Wahlsonntag beweisen wollen.

Walter gehört zu denjenigen, die mit der Vergangenheit drohen – mit dem Aufkommen des Antisemitismus, der bereits im 19. Jahrhundert aus der Zivilgesellschaft heraus entstand. Wie alles andere auch. The Good. The Bad. And the Ugly. Diese Zivilgesellschaft definiert er als eine „Fläche, die sich zwischen die Individuen und die staatlichen Institutionen legt. Ihr Kennzeichen ist das kollektive, aber nicht von öffentlichen Körperschaften in Gang gesetzte Tun.“[1] Gut formuliert. Treffend. Besser geht's nicht. Aber diese Zivilgesellschaft gefährdet sich permanent selbst, weil sie sich als Mittelreich zwischen Staat und den Einzelnen schiebt, wobei der Staat ein Garant des Guten ist. Genau das – so wissen wir seit dem Holocaust – ist er eben nicht. Da blieb einer wie Adorno knallhart. In seinem Auschwitz-Aufsatz von 1966 warnte Adorno vor der Rückkehr der  „Schreibtischmörder“, die vor allem beim Staat saßen, gegen die auch eine „noch so weit gespannte Erziehung“ nichts ausrichten kann. Bitter. Die am Schreibtisch sind die latente Gefahr, eine ungeheuerliche Behauptung, zumal wir gegen diese machtlos seien. Gegen das Aufkommen von Folterknechten, die die Gaskammern bedienten und die Massenmorde begingen, können wir durch Erziehung etwas, wenn auch „Weniges“ (Adorno) unternehmen. Das gelingt uns ja auch ganz gut. Für Adorno aber saß die Gefahr nicht auf der Straße, sondern in den Stuben. Deswegen brauchen wir mehr denn je die Gesellschaft. Aber sie funktioniert nicht mehr.

Die Bedrohung kommt eher aus einem System, aus „Autoritätsstrukturen“ als aus einer Gesellschaft, die in sich frei und offen ist. „Unfähigkeit zur Identifikation war fraglos die wichtigste psychologische Bedingung dafür, dass so etwas wie Auschwitz sich inmitten von einigermaßen gesitteten Menschen hat abspielen können“. Adornos Hammersätze.

Die Identifikation mit unserer Demokratie, mit dem gesellschaftlichen Leben – das ist der Schlüssel zu allem. Da liegt die Macht der Ohnmacht. Die Parteien konnete 2021 den Wahlkampf noch so langweilig gestalten, wie sie wollten. Wir haben die Traditionsparteien kleiner gehalten, als sie sich in ihrer Bedeutung selbst zumaßen. Und wir haben unbewusst registriert, dass der Staat dazu überging, seine Demokratie gegen unsere Demokratie zu verteidigen, gegen die gesellschaftlich fundierte Demokratie – nicht gegen deren Feinde, die braucht der Staat nur, um sein Tun zu legitimieren. So kam es jedenfalls rüber. Wir sollen ein System  akzeptieren, das sich selbst beherrscht, eines ohne Führer, eines, das sich selbst zusammenklaubt – eines Systems, dessen Namen keiner kennt. Ein Rumpelstilzchen, autark, das seine eigenen Gesetze backt, das sich selbst seine Verordnungen zusammenbraut. Und der Frau Königin ihr Kind, unsere Demokratie, holt es sich auch. Übermorgen. 

Bei der Wahl 2017 war es den Altparteien noch einmal gelungen, dieses neue Staatswesen vor uns zu verbergen, konnten sie noch einmal Stroh in Gold verwandeln. Eine „Systemüberwindung“, um einen 68er Begriff zu benutzen, der klammheimlichen Art. Es überwindet sich selbst und führt sich in eine eigene Autarkie. Bundeskanzlerin Angela Merkel war eine sehr treue Dienerin dieses Staates, der sich selbst Gemeinschaft ist. Sie hat diesen Job – das müssen wir Bürger anerkennen – exzellent gemacht. Aber sie hat nicht – wie wohl zuletzt Willy Brandt – eine innovative, gesellschaftliche Diskussion entfacht. Im Gegenteil. Wir wurden wundersam eingelullt. Dafür steht diese gesamte Politikergeneration. Besänftigen – darin sieht sie ihren Job. Wir werden gescholzt. Wir werden schreibtischtauglich gemacht, bildschirmgerecht. Selbst der Freiheitspartei fehlte der Mumm, diesen Prozess zu durchbrechen. 2017 hätte es gelingen können, wenn sie – die andere Altpartei, die FDP – keine kalten Füße bekommen hätte. Dann hätte es Wumm gemacht. Das Leben wäre zurückgekehrt. Stattdessen kam der totale Lockdown.

Ob es 2021 glückt? Es kann sein, dass wir unsere Ohnmacht zur Macht, unseren Stimmzettel, neu ins Spiel bringen. In Vielfalt. Als Gegenwille. Als Gegenentwurf. Es ist uns schon einmal geglückt. „Menschen, die blind in Kollektive sich einordnen, machen sich selber schon zu etwas wie Material, löschen sich als selbstbestimmte Wesen aus“, sagte Adorno 1966. Drei Jahre später hatten wir „mehr Demokratie“ (Willy Brandt) gewagt – und nochmals drei Jahre später, 1972, als sich im Bundestag ein Patt zwischen den Altparteien ergab, haben wir unseren Eigenwillen zur Demokratie erneut machtvoll bestätigt. Mit mehr als 90 Prozent Wahlbeteiligung. Für dumpfe Kollektive sind wir nicht mehr zu haben. Das sollte auch weiterhin unser Signal sein.  Hoffentlich.Wenigstens das.

Vielleicht werden wir irgendwann sehen, dass unsere beste Gesellschaft nicht in den Ministerien und im Kanzleramt sitzt, sondern im Parlament, einem Begriff, der 1272 zum ersten Mal in England auftritt – in der Zeit der Normannenherrschaft. Da war es noch eine Versammlung der Adeligen und Edlen. Heute soll er vor allem ein Spiegelbild der gesamten Bevölkerung sein, trotz der Nichtwähler. Aber dieses Parlament verkauft sich unter Wert. Nicht nur auf Bundesebene, sondern in den Kommunen, in den Ländern, in der EU.

Das Parlament wählt - ab Landesebene - letztlich die Regierung. Wir aber haben es auf unserem Stimmzettel zu zeigen, welche lebendige Gesellschaft hinter diesem Parlament steht, hinter den Gemeinderäten, überall – und keine abgestumpfte Masse. Das Parlament repräsentiert uns, die Gesellschaft, nicht die Partei, nicht den Staat, sondern die Demokratie. Daran wird es gemessen. Wir können nur hoffen, dass es sich dessen bewusst ist. 

Im Übrigen gilt bis dahin: Wir haben die Wahl.

9 Kommentare:

Analüst hat gesagt…

Wer die Wahl hat, hat die Qual.
Deutsches Sprichwort

Anonym hat gesagt…

"Die Wahl, die jemand trifft, zeigt seinen Verstand."
Ibn Abd Rabbih (860 - 940), andalusischer Gelehrter und Dichter aus Córdoba

Anonym hat gesagt…

Ralf Dahrendorf hat in seinem (wieder) sehr aktuelle Aufsatz Vom Gesellschaftsvertrag zur Anomie Berlin 1981
die folgen beschrieben, wenn Gesellschaft auseinander läuft und Gemeinschaft in Anomie zerfällt.
Er zitiert darin den Amerikaner MacIver:
"Anomie bedeutet den Geisteszustand von jemanden,  der seinen moralischen Wurzeln entrissen ist, der keine Standards mehr hat, sondern nur mehr noch unzusammenhängende Antriebe, der keinen Sinn für Kontinuität, für gewachsene Gruppen, für Obligationen mehr hat. Der anomische Mensch ist geistig steril geworden, nur auf sich selbst bezogen, niemand verantwortlich. Er mokiert sich über die Werte anderer Menschen. Sein einziger Glaube ist die Philosophie des Neinsagens. Er lebt auf der schmalen Linie des Empfindens zwischen der fehlenden Zukunft und der fehlenden Vergangenheit..... Anomie ist ein Geisteszustand, in der der Sinn des Individuums für sozialen Zusammenhalt - die Hauptquelle seines moralischen Halts - gebrochen oder tödlich geschwächt ist."
R.M MacIver
The Ramparts we Guard   New York 1950

Den Zustand unseres Landes, der Welt, ist er beschrieben?

Anonym hat gesagt…

Kannte jemand seine Frauen?

Anonym hat gesagt…

Erinnert mich irgendwie an Franz Kafka, zum Beispiel "Vor dem Gesetz"...

Anonym hat gesagt…

Lady Dahrendorf wünscht sich Journalisten mit Mut und Ausdauer
https://www.youtube.com/watch?v=kuNqkAoXuhI

Anonym hat gesagt…

Hatten wir schon mal :
"Aber mit den inhaltsschweren Auseinandersetzungen der sozialreformerischen Blütezeit hatten sie (die Mitarbeiter) nichts mehr gemein. Schon als Kinder und heftiger noch als Jugendliche hatte diese Generation der Baby Boomer erlebt, wie sich der Sozialstaat ideell und finanziell völlig übernahm. Sie waren die ersten gewesen, die die Folgen zu spüren bekommen hatten.
Hatte die Generation Käfer noch die Wende von der Ideologie zur Idylle in einer sequentiellen Zeitabfolge durchlebt, so war das Bewusstsein der Jüngeren bestimmt durch das Nebeneinander von privaten und gesellschaftlichen Ansprüchen. Sie hatten gesehen, wie verlogen beides war, wie brüchig der Boden war, auf dem der Staat seine Wohlfahrt und die Bürger ihren Wohlstand begründeten.
Eggheads und andere Egos
Möglingen Donnerstag 6. Februar 1992 25 Jahre USU

Anonym hat gesagt…

Wenn es mir wirklich schlecht geht, lese ich Opernlibretti.
Da erfahre ich, wie bösartig, hinterlistig, gewalttätig und derb die andere Welt
(der Reichen) ist.
Schon sehe ich meine Lage rosiger.
Und ich verstehe Sokrates besser.

Anonym hat gesagt…

Diese Fragen haben sich die Kirchen angeeignet und dann in Katechismen mit Verhaltemswarnhinweisen und Bußen versehen.