1926 |
»Die Zukunft wird, wenn sie so weitergeht, eine Paradies-Hölle sein. Wir werden alles haben, nichts mehr sein.« Horst Krüger (1919–1999), deutscher Schriftsteller und Kulturjournalist
Happy hour
Von Raimund Vollmer
Von der Instamatic zu Instagram - Geschrieben in der Zeit der großen Einsamkeit, während der Pandemie, dieser konsumfreudigen Zeit
Wir sind es, die uns retten müssen. Wir, die ganz normalen Menschen. Wir, die Konsumenten. Wir ergreifen die Macht. Wir müssen endlich das tun, was der Theologe und Nestor der katholischen Soziallehre, Oswald von Nell-Bräuning, 1967 in dem Büchlein „Freiheit, die sie meinen“ forderte, als er „eine Revolte der Verbraucher gegen sich selbst“ formulierte. Nicht die Werbung sei die Bedrohung, sondern unsere Anpassung an die Meinung anderer. Anders formuliert: wir sind alles andere als souverän. Wir tun nur so. Und keiner weiß das besser als Facebook.
Wir werden schamlos ausgenutzt. Sollen wir uns das noch länger gefallen lassen? Wir, der wir stets als der „wichtigste Wirtschaftsfaktor“ umschmeichelt werden. So nannte uns bereits 1961 der frühere deutsche Postminister Siegfried Balke (1902–1984), der in den fünfziger Jahren über diese Superbehörde wachte.[1] Damals war die Post ein unerschütterlich staatlich verbrieftes Monopol – unvorstellbar, dass es sich einmal dem freien Wettbewerb um uns, den wichtigsten Wirtschaftsfaktor, stellen würde. Das Regiment dieses alten Monopols basierte auf relativ klaren Gesetzen und Vorschriften, die Herrschaft der neuen Monopole, der Digital–Giganten, auf verklausulierten und unverständlichen Geschäftsbedingungen, die sich oftmals auch noch unerbittlich auf fremdes Recht berufen. Wir haben gar nicht gemerkt, wie sie uns in ihre Fänge genommen haben.
Wir sind nicht mehr die Verbraucher, das traditionell gern geschmähte vierte Wirtschaftssubjekt – nach Staat, Banken und Unternehmen. Wir sind die, die verbraucht werden – von Staat, Banken und Unternehmen. Wir sind zur Ausbeutung freigegeben.
In den 50er Jahren war es Ludwig Erhard, unser Wirtschaftswunderlandminister, der vor allen anderen Politikern der Welt die Bedeutung des Verbrauchers erkannt hatte. Der Verbraucher: „Erhard hat ihn nicht erfunden. Aber er hat ihn in einer Weise mit ökonomischem Bewusstsein ausgestattet, wie es bis dahin vielleicht schon in den Vereinigten Staaten, sonst aber in keinem Industriestaat üblich gewesen war“, schrieb 1987 Rüdiger Altmann, dereinst Berater Erhards im Bundeskanzleramt. Er hatte für seinen Chef in den sechziger Jahren den Begriff der „formierten Gesellschaft“ geprägt. Altmann: „Die Verbraucher in der sozialen Marktwirtschaft sind in einer ähnlichen Lage wie das Proletariat in der Utopie von Karl Marx: sie sind mit der Gesellschaft als ganzer identisch.“[1] Ein wunderbarer Gedanke. Wir sind mit uns eins, weil wir doch alle Verbraucher sind.
Uns liegt die ganze Welt zu Füßen. Uns, den Verbrauchern, uns, den Menschen. Uns, der Gesellschaft. Uns, den Subjekten. Wir hatten ja auch diese Warenwelt geschaffen. Max Horkheimer (1895–1973), dieser Sozialphilosoph und Kopf der Frankfurter Schule, hatte es 1937 so formuliert: „Indem sie“, also gemeint sind wir, „die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit erkennen, als die Organisation, die sich die Menschen in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war, identifizieren sie sich selbst mit diesem Ganzen und begreifen es als Willen und Vernunft: es ist ihre eigene Welt.“ Alles, was wir schufen ist gut und gehört uns, will er uns sagen, ganz im Sinne von Altmann.
Aber dem steht etwas entgegen, über das wir keine Macht haben, niemand von uns – trotz aller Anstrengungen. Schreibt Horkheimer: „Zugleich erfahren sie“, also wir, „dass die Gesellschaft außermenschlichen Naturprozessen, bloßen Mechanismen zu vergleichen ist, weil die auf Kampf und Unterdrückung beruhenden Kulturformen keine Zeugnisse eines einheitlichen Willens, selbstbewussten Willens sind.“ Der Markt, der seinen eigenen Gesetzen folgt, ist die Macht, die uns wegnimmt, was wir gerade noch meinten, dass wir es besitzen. Es ist eine Über-Macht. „Diese Welt ist nicht die ihre“, also unsere, „sondern die des Kapitals“.[2]
Die menschliche Leistung einerseits und das fremde Kapital andererseits stehen demnach in der Marktwirtschaft einander unversöhnlich gegenüber. „Der Kapitalismus hat mit einem Sozialvertrag nichts zu tun“, heißt es knallhart bei Rüdiger Dornbusch, einem Wirtschaftswissenschaftler am Massachusetts Institute of Technology.
Wir sind die Macher des einen, die menschliche Leistung, und die Opfer des anderen, des Kapitals. Das eine schöpfen wir aus uns selbst, als Person, als Gesellschaft, das andere folgt außermenschlichen Prozessen, die wir nicht kontrollieren, die sich selbst steuern, nach Angebot und Nachfrage, nach Preis und Wettbewerb. Das ist nicht in unserer Hand. Nicht schön, zeitweilig sogar richtig hässlich, vor allem in der Welt der Arbeit, aber noch erträglich. Und als User fühlten wir uns sogar recht frei. Schrieb der Journalist Ludwig Siegele 1997: „Tatsächlich ist das Internet bisher eine riesige happy hour.“[1] Wir waren glücklich. Wir bauten uns unseren „Ego-Palast“, wie die amerikanische Schriftstellerin Emma Cline (*1989) im Sommer 2021 das Internet bezeichnete.[2]
Noch ahnten wir nicht, dass wir als User im neuen Jahrtausend zum größten Kapital der teuersten Unternehmen der Welt avancieren würden. „Der Verbraucher lässt sich nicht ohne weiteres organisieren“, meinte Altmann. Das Internet sollte genau dies ändern. Mit dessen Verbreitung konnten wir uns nicht nur lokal, sondern erstmals sogar weltweit, über alle Landesgrenzen und Zeitzonen hinweg, vereinen und austauschen. Nahezu kostenlos. Ein Paradies. Wir waren auf dem besten Weg, uns völlig zu befreien. Stattdessen kickten und klickten wir uns selbst aus diesem Paradies. Wir wurden jederzeit identifizierbar, wobei es völlig egal war, ob unter Klarnamen oder Pseudonym.
Denn wir wurden selbst das Kapital, ohne das Kapital zu besitzen. Wir leben – und wir werden gelebt. Wir nutzen das Netz – und werden genutzt. Wir sind binäre Gestalten. Wir sind User. Wir spuken durch unsere Welt, die uns zugleich entfremdet ist. Wir leben im Paradies der Verlorenen.
Auch in diesem Paradies muss gearbeitet werden. Nicht als Last, sondern nach Lust und Laune. Ohne Lohn, am besten bedingungslos grundversichert. Das war der Traum von Karl Marx, das war unser aller Traum. Gleichheit! So machen wir denn auch im Netz unsere Arbeit. Wir sind sogar bereit, unsere eigene Arbeit zu bezahlen. Brüderlichkeit! Wir plauschen und tauschen, wir kaufen und verkaufen, wann immer wir wollen, mit wem wir wollen und von wo aus wir wollen, wir sind immer präsent, immer „on“, immer startklar, immer auf Empfang. Freiheit!
Dennoch sind wir nicht wir selbst. Wir alle stehen auf der Rechnung von ganz anderen, unterliegen einem gnadenlosen, unausgesprochenen, auf Willkür basierendem Haftbefehl. Mit „Habeas Corpus“ können wir uns in der realen Welt jederzeit dagegen wehren, aber es gibt kein „Habeas Data“, mit dem wir uns vor den virtuellen Welten schützen können. Unsere Daten sind nicht unveräußerlich.
Das lohnt sich – vor allem für Amazon und Facebook, für Google und Microsoft als deren größtes Kapital, wir, die User, in ihren Büchern stehen, nicht persönlich, sondern als große Zahl zwischen 500 Milliarden und zwei Billionen Dollar Börsenkapitalisierung. Wir sind das Kleinvieh, das nicht Mist, sondern „most“ macht, das „meiste“ für die Aktionäre.
28 Kommentare:
Auf Horst Krügers Paradies-Hölle
hat der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht im Zeitmagazin, Rubrik "Wenn ich ein Tagebuch schriebe" so geantwortet:
Was ist, wenn Sinn und Ton vergehen? Der ungeschiedene, nicht in einzelne Sinngehalte gesonderte Sinn. Sinn schlechthin. Der tonlose Ton. Der Ton vor allen einzelnen Tönen. Tonhaftigkeit schlechthin. Das was vor Sein und Nichts ist und dennoch Sinn hat.
1985
Ist das nun Achtelfinale in Lyrik oder schon ein wieder erstandener, wenn auch etwa unfertiger Heidegger?
Wie nur im Kapitalismus Marktwirtschaft funktionieren kann:
Als an Autos noch niemand dachte, lief die Produktion in Rüsselsheim auf vollen Touren.
Aus einer Pressemitteilung der Opel-Werke
Der Spiegel 20/1987
Hohlspiegel
Man sollte zur Unterstützung von Kriegsjunkie Kiesewetter und zum Nachdenken von Sahra Wagenknecht folgendes aus dem Jahresbericht der Finanzberatungsgesellschaft Interfinanz in Erinnerung rufen:
"Welcher Nato-Soldat sehnt sich danach, die unwirtlichen östlichen Länder zu besetzen, ihre unattraktiven Frauen zu erobern und ihren Borschtsch mit ihnen zu teilen? Aber welcher Rote Soldat würde nicht liebend gern, selbst unter Gefahren, nach Westen marschieren, die reichen Bürger dort ausplündern und ihre schönen Frauen nehmen? "
Zitat: Der Spiegel 23/1988
Hohlspiegel
Habe ich das richtig verstanden: Wir stellen die Welt unter NATO-Schutz. Das ist es, wovor allen PutinXis Angst haben... Leider besteht die Welt nicht nur aus dem atlantischen Ozean.
Wir sind keine Verbraucher mehr, nicht einmal mehr Konsumenten – wir sind nur noch blöde Follower
Nie war es einfacher, seine Gunst zu zeigen 😉
Opel, ein Lehrstück in Sachen Kapitalistismus: 1862 legte der Firmengründer Adam Opel mit einer Nähmaschinenproduktion den Grundstein für sein Imperium, 1886 stieg man auf die Fahrradproduktion um, 1899 schließlich auf die Automobilproduktion. 1900 war das Werk bereits ein Großbetrieb, 1929 wurde es an die amerikanische General Motors (GM) verkauft.
EM: VAR zum "Player Of The Match" gekürt
Dortmund (dpo, 30.6.24) - 2:0 endete die Achtelfinalpartie Deutschland gegen Dänemark. Kurz nach dem Spiel kürte die UEFA den VAR zum "Player Of The Match". Es ist das erste Mal, dass der Videoschiedsrichter die begehrte Auszeichnung erhielt.
"Der VAR war aus unserer Sicht einfach der auffälligste und wichtigste Spieler heute", heißt es in der Begründung der UEFA. "Er hat ein Tor für Deutschland verhindert, eines für Dänemark und er hat einen spielentscheidenden Handelfmeter herausgeholt. Atemberaubend!"
Es bleibt spannend, ob der VAR in weiteren Spielen der deutschen Nationalmannschaft an seine starke Leistung anknüpfen kann. Sein Marktwert dürfte jedenfalls gestiegen sein.
Der Fleischkonsum in Deutschland sinkt tendenziell ab. Im Jahr 2023 summierte sich der menschliche Verzehr von Fleisch auf rund 51,6 Kilogramm pro Kopf – nur unwesentlich mehr als 1926...
...und der der Hunde und Katzen?
(...aus menschlicher Produktion.
Würde jetzt dpa schreiben).
Förderung der Marktwirtschaft:
Aus einem Widerspruchsbescheid der "Zentralstelle für Arbeitsvermittlung " Frankfurt: "Eigeninitiative kann grundsätzlich nicht gefördert werden." 1989
Der gesamte Verbrauch von Fleisch in Deutschland lag bei 70,2 Kilo. Da ist auch das Tierfutter inklusive, von Hund, Katze und Co.
Sie vergaßen die Diversifizierung mit dem Zoo.
Apropos: Ist da der Fleischkonsum der Zootiere eingerechnet?
Da ist alles Futter eingerechnet - außer Lebendfutter. Auch die Nahrung von Kannibalen wird statistisch nicht erfasst
Typisch für die lahme Ära Kohl - Mr. Mehltau
Achso! Muscheln in 3-Sterne-Restautants zählen also nicht, die Fänge der Wildvögel und Fliegen der Motorradfahrer. Fallen ja nicht so sehr ins Gewicht wie die Ochsen beim Oktoberfest.
Und die Ochsen in der Politik – da wünscht man sich manchmal Kannibalen herbei. Und wenn auch nur zur Abschreckung und zum Gleichgewicht des Schreckens 😎
Nein - Hund und Katze sind Tierarten, genau wie der Mensch an (Un)Art ist. Es gibt ja auch keine Menschin😎
Bei Hunden spricht man von Rüden und Zaupen oder Petzen, bei Katzen von Katern und Kätzinnen und bei Rindern von Bullen (oder auch Ochsen) und Kühen. Bei Pferden heißt es Stute, Hengst oder Wallach
Ich sprach von Opels Diversifizierung: die Gründung eines Zoos im Taunus
Jedenfalls gibt es bei diesen nicht so viel Auswahl wie bei den Menschen: 72 Diverse wie die Queeren offenbar gezählt haben.
72 Individuen oder 72 Arten?
Arten von Sexualität, sagen sie.
„Enttäuscht vom Affen, schuf Gott den Menschen. Danach verzichtete er auf weitere Experimente.“
Mark Twain zum Thema
(DPO, 1.7.2024) Pride-Monat vorbei: Heterosexueller Geschlechtsverkehr endlich wieder erlaubt
https://www.der-postillon.com/2024/07/pride-month.html
Dass Gott überhaupt Experimente braucht, ist aufschlussreich genug.
Man darf nicht alles für bare Münze nehmen was Mark Twain so von sich gibt
Kommentar veröffentlichen